Klaus Wolschner                                 Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Medien-
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Texte zur

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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Über die Mediengeschichte
 der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im
„Jahrhundert des Auges“

2018 VR 46

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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

2 GG Titel

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aus: Tanja Thomas (Hg) Medienkultur und soziales Handeln (2008)  Seiten 44-62

Friedrich Krotz:

Kultureller und gesellschaftlicher Wandel im Kontext des Wandels von Medien und Kommunikation

Wir leben in einer Welt, die sich in den letzten Jahrzehnten mehr entwickelt hat, als wir uns retrospektiv erinnern. Viele der Veränderungen haben etwas mit dem Wandel der Medien, mit Digitalisierung, mit dem Zusammenwachsen von Computer, Telekommunikation und klassischen Medien, mit den immer neuen medialen Angeboten zu tun, die wir erleben. Mit diesem Wandel beschäftigt sich der vorliegende Text.

Der Text (1) betont insgesamt die Bedeutung von Kommunikation als kommunikatives Handeln der Menschen: Sein hoch differenziertes Kommunikationsvermögen und seine Sprache charakterisieren den Menschen als einzigartig - ohne sie gäbe es ihn als Gattung wie als Wesen mit einer Biographie und einer Vorstellung von der Welt nicht. Nicht, dass nicht auch Tiere kommunizieren können. Aber bei ihnen ist das, was sie wahrnehmen, meist sofort mit Verhaltensanweisungen gekoppelt. Sie können weder lügen noch spotten oder ironisch argumentieren. Und wenn auch bei Primaten oder anderen Tieren Symbolbildungsprozesse beobachtet werden können, so bleiben sie dennoch auf einem im Vergleich zu den Menschen niedrigen Niveau.

Wie Kommunikation funktioniert, skizziert dementsprechend der erste Abschnitt.

Dann geht es um die Rolle der Medien als Instrumente einer Modifikation von Kommunikation, um die uns heute zur Verfügung stehenden Typen mediatisierter Kommunikation und um die Bedeutung der Medien für das Zusammenleben der Menschen, für Kultur und Gesellschaft.

Wenn diese Grundlagen geklärt sind, können wir den Wandel in den Blick nehmen: Wir definieren dazu den Begriff des Metaprozesses und zeigen, wie man Globalisierung, Individualisierung und Mediatisierung heute als Metaprozesse begreifen kann, die uns helfen, den sozialen und ökonomischen, den kulturellen und medialen Wandel einzuordnen. Schließlich beschäftigen wir uns detaillierter mit dem Metaprozess Mediatisierung, zeigen einige der damit verbundenen Entwicklungen auf und gehen der Frage nach, was denn nun zu geschehen hat.

l    Kommunikation als soziales Handeln

Kommunizieren ist eine Form sozialen Handelns. Damit ist es ein sinngeleitetes Handeln, wie Max Weber (1978) diesen Begriff konzipiert hat. Als Grundform des Kommunizierens können wir uns ein mit Gesten begleitetes Gespräch zwischen zwei Menschen vorstellen, die sich face-to-face in der gleichen Situation miteinander unterhalten. Dann wissen wir: Kommunizieren geschieht mit einer spezifischen Absicht, und die Menschen sind aktiv daran beteiligt. Kommunikation funktioniert dabei über Symbole (und die Fähigkeit, Symbole zu produzieren und zu interpretieren, ist eine der wesentlichen Besonderheiten der Menschen): Der eine spricht bzw. produziert sinnvoll gemeinte Symbole, der andere registriert sie als sinnvoll gemeint und versucht, sie zu verstehen oder zu interpretieren, und dann eine Antwort zu entwickeln - in derartigen Verkettungen entwickelt sich ein Gespräch.

Nehmen wir einen spezifischen, besonders komplizierten Fall von Kommunikation: Person A hat Rückenschmerzen und bittet Person B, ihr den Rücken zu massieren. Person A will dazu Person B zeigen, wie das am Besten zu tun ist. Person A fasst also Person B am Rücken so an, wie Person B dann Person A behandeln soll, A teilt B damit mit, wie B dann Person A massieren soll. Person B ist dann, wie wir wissen, in vielen Fällen tatsächlich in der Lage, Person A so zu massieren, wie A das erwartet bzw. braucht. Wenn Person A Person B anfasst und vorführt, wie A von B massiert werden will, so handelt es sich offensichtlich um eine Mitteilung, also eine Form der Kommunikation. Die darauf erfolgende eigentliche Massage, die B dann A erteilt, ist gewissermaßen die Antwort von B an A, anhand derer A feststellen kann, ob B die Anweisung richtig verstanden hat.

Wie kann das aber eigentlich funktionieren? Person A weiß zunächst ja eigentlich nur, wie sie massiert werden will und wie sich das an ihrem Rücken anfühlen soll. Wenn sie das B zeigt, also mitteilt, teilt sie aber nicht das Gefühl mit, sondern behandelt B so, dass B das fühlt, was hinterher A fühlen will, und zwar, indem sie B den Rücken massiert. Insofern liegt in dieser anweisenden Kommunikation ein Rollentausch verborgen, weil A B vorführt, was zu tun ist. Dazu muss A natürlich eine erhebliche und komplexe Leistung vollbringen, nämlich sich vorstellen, wie er B massieren soll, damit B etwas fühlt, was B dazu bewegt, danach A so zu massieren, wie A das dann fühlen will. A muss B genauer gesagt sogar so massieren, wie A sich vorstellt, dass man den Rücken von B anfassen muss, damit B nicht nur genau die Gefühle hat, wie A sie sich für sich vorstellt, sondern so, dass die Erfahrung, die B macht, B bewegt, A so anzufassen, wie A es dann fühlen will. Dazu muss sich A in die Person B einfühlen, um seine Sicht der Dinge zu verstehen und um sich auf dessen Sicht der Dinge einzustellen. Auch umgekehrt ist ein erhebliches Maß an Einfühlung durch B notwendig, damit das alles klappt: Kommunikation ist kompliziert, sie funktioniert immer nur ansatzweise und das, was jemand versteht, muss in vielen Fällen korrigiert werden. Dazu ist ein Gespräch gut, an dem sich die Menschen wechselseitig beteiligen, weil man oft erst an der Antwort merkt, ob man richtig verstanden worden ist.

Erst wenn B den Rücken von A massiert, weiß A, dass und inwieweit seine Mitteilungen angekommen sind- er ist entweder zufrieden oder kann es erneut vorzuführen versuchen. Gelingende Kommunikation dieser Art ist offensichtlich also ohne Einfühlung unmöglich, weil der Transfer von Gefühlen und Bedeutungszuweisungen nicht so stattfinden kann, wie es in einem solchen Fall wie eben skizziert notwendig ist.

Ein Gespräch, so lernen wir aus diesen Überlegungen, ist also ein wechselseitiger Prozess, der in seinen einzelnen Phasen auf Einfühlung beider Beteiligter beruht und einer Fortführung bedarf, um das gegenseitige Verstehen weiterzuentwickeln. Soweit Kommunikation also beobachtbar ist, besteht sie aus einer Kette wechselseitig hergestellter Kommunikate, die ihren Sinn dadurch bekommen, dass die Beteiligten sich miteinander verständigen wollen, indem sie .sich aufeinander beziehen und sich dazu gegenseitig Symbole anzeigen.

In dem Wort „anzeigen" ist zunächst einmal die wichtige These angelegt, dass Kommunikation als Gespräch eigentlich nicht als Informationstransport verstanden werden kann. Auch wenn Schallwellen in der Luft oder beim Telefonieren elektrische Ströme von einer Person zur anderen laufen und hier tatsächlich eine Art gezielter Transport stattzufinden scheint: Kommunikation besteht darin, dass sich ein Individuum äußert bzw. präsentiert und ein (anderes) Individuum dies als sinnvolle Mitteilung deutet und die präsentierten Aussagen verstehen will. Wie gerade die nonverbale Kommunikation (z.B. Matsumoto 1996) zeigt, geht es dabei um Zeichen, die der Eine - intendiert und unter Berücksichtigung des aktuellen Kontextes - präsentiert und die der Andere als sinnvoll versteht, indem er sie seinerseits kontextualisiert.

Transportiert wird dabei nichts, und nicht anders ist es auch, wenn jemand etwas sagt - erst die rahmende Situation, zu der auch die Erwartungen aller Beteiligten gehören, wie die Dinge weitergehen, veranlasst die anderen teilnehmenden Menschen, das Ausgedrückte als etwas an sie Adressiertes zu interpretieren, „das bei ihnen ankommt". Dass sie es dann verstehen, liegt aber natürlich nicht am geglückten Transport, sondern daran, dass sie dem Gehörten bzw. allgemeiner, dem in der Situation Erlebten (ihren) Sinn und Bedeutung zuweisen und auf dieser Basis dann weiter handeln und kommunizieren.

Kommunikation besteht also nicht nur aus beobachtbaren Teilen.

Kommunikation als Gespräch setzt vielmehr eine gemeinsame Situationsdefinition aller Beteiligten sowie die (sich abwechselnden) Aktivitäten eines „Sprechers" und eines „Zuhörers" voraus. Deshalb gehören zu Kommunikation über das beobachtbare Geschehen von aufeinander folgenden kommunikativen Akten und präsentierten Symbolen hinaus komplexe innere Prozesse bei allen Beteiligten, für die wir beim Zuhörer Ausdrücke wie „Verstehen", „Interpretieren" oder „Kontextualisieren", beim Sprecher Ausdrücke wie „Beabsichtigen", „Zum Ausdruck bringen wollen", „Darstellen" oder „Zuschreiben" verwenden.

Diese inneren Prozesse, ohne die keine Kommunikation möglich ist, die aber auch nicht unmittelbar beobachtet werden können (und die jedenfalls von der Metapher des Informationstransports nicht erfasst sind), müssen wir uns als eine Art „inneren Dialog der Beteiligten“ mit sich selbst vorstellen, wo wir zum einen unsere eigene Rolle als Zuhörer haben, zum anderen uns aber auch vorstellen müssen, was der andere uns sagen will:

„Our thinking is an inner conversation in which we may be taking roles of specific acquaintances over against ourselvcs, but usually it is with what l have termed the ,generalised other’  (that we converse, and so attain to the levels of abstract thinking, and that impersonality, that so-callad objectivity we cherish",

so George Herbert Mead (nach Burkitt 1991:41 ). Mit anderen Worten: Wer verstehen will, muss sich im Rahmen der gegebenen Situation imaginativ in den anderen hineinversetzen und dessen Rolle in der eigenen Vorstellung übernehmen, um dann in inneren Dialogen rekonstruieren zu können, was der Andere mit seinen Äußerungen verbaler oder nonverbaler Art gemeint hat (vgl. Krotz 2001 a).

Denn was wir hören, ist ein Satz, aber was der Sprecher mit diesem Satz meint, ist über den gesprochenen Satz alleine nicht feststellbar; der Sinn eines Satzes ergibt sich aus dem Kontext, in dem der Satz gesprochen wird.

Auch das wird am Besten aus einem Beispiel klar: Wenn jemand hinter uns „Hände hoch" sagt, so werden wir im Fasching von Köln damit anders umgehen als bei einer Terroristenkontrolle auf dem Flughafen, wir werden auf eine Kinderstimme anders reagieren als auf eine Männerstimme, die vielleicht mit ihrem ausländischen Akzent Ängste und Vorurteile bei uns aufgreift, und wenn wir den Sprecher sehen, werden wir auch die Art der Pistole, die uns umgebende Situation und dergleichen berücksichtigen - das alles aber nicht nur, um eine Reaktion planen zu können, sondern um zunächst einmal herauszufinden, wie die Aufforderung gemeint war. Die zentrale Frage ist in einer derartigen Situation und damit in jeder Situation: Wenn der andere in der gegebenen Situation „Hände hoch" sagt - was hat er damit genau gemeint? Diese Frage kann man - insbesondere wenn man den anderen nicht kennt, aber auch wenn man ihn kennt - am Besten beantworten, indem man sich in ihn hineindenkt, indem man seine Perspektive probeweise und imaginativ übernimmt, indem man sich von seinem Standpunkt und seiner Rolle aus überlegt, was es wohl heißt und welche Intentionen man hat, wenn man so etwas sagt.

Wenn wir bis dahin das face-to-face-Gespräch und zugleich nonverbale Kommunikation als Muster von Kommunikation skizziert haben, so können wir nun die Behauptung aufstellen, dass jede andere, und insbesondere jede mediale Kommunikation so ähnlich funktioniert und insbesondere eine Ableitung dessen ist, was wir als face-to-face-Kommunikation gelernt haben. 

Beim Telefonieren ist das Gespräch technisch vermittelt und gleichzeitig weitgehend auf Sprache verkürzt, mit dem Morsealphabet oder mit Buchstaben werden Worte aus ganz unterschiedlichen Gründen durch andere Symbole ausgedrückt, beim Buch schreibt der Kommunikator erst alles hin, was der Leser dann insgesamt liest usw.: Jede medienvermittelte Kommunikation ist die Modifikation eines Gesprächs und nur deshalb können wir mit und mittels Medien kommunizieren. Um das einzusehen, müssen wir uns nun damit beschäftigen, was Medien sind.

II Medien

Merkwürdigerweise verfügt die Kommunikationswissenschaft über keinen konsensuellen Medienbegriff, wie der Reader von Pias u.a. (1999) bzw. in die Kommunikationswissenschaft einführende Texte wie etwa der von McQuail (1994) zeigen. Manchmal wird scheinbar pragmatisch von publizistischen oder von Kommunikationsmedien gesprochen und damit das bezeichnet, was die Massenkommunikationsforschung untersucht, nämlich vor allem Zeitung, Radio und Fernsehen. Das ist begrifflich nicht zufriedenstellend; obendrein gehören nach dieser wie nach vielen anderen Definitionen das Telefon und überhaupt alles, was interpersonale Kommunikation mediatisiert, nicht zu den Medien. Manchmal werden unter Medien die so genannten symbolisch generalisierten Medien in Anlehnung an Parsons, Habermas oder Luhmann verstanden - darunter fallen Geld, Macht und allerlei anderes, was aber gemeinhin nicht zum Themenbereich der Kommunikationswissenschaft zählt.

Ein kommunikationswissenschaftlicher Medienbegriff sollte sich deshalb auf spezifisch für Kommunikation konstruierte Medien beschränken. Manchmal ist statt von Medien auch die Rede von Distributionsapparaten oder Verbreitungsmedien, dazu gehört dann beispielsweise der Telegraph - und hier äußert sich die irrtümliche Ansicht, Medien seien vor allem dazu da, etwas zu transportieren. Aber der Transport von Symbolen, sodass sie der Gesprächspartner überhaupt wahrnehmen kann, hat mit Kommunikation erst einmal nichts zu tun: Die Wahrnehmung von Symbolen, die Tatsache, dass man am Telefon Wörter hört, ist zunächst nichts als eine Vorbedingung und Voraussetzung dafür, dass dann Kommunikation zustande kommt. Denn transportiert werden können nur Zeichen, aber Kommunikation entsteht über die Konstitution von Bedeutungen, die sich zwar auf die Zeichen beziehen, aber sonst mit den Zeichen und deren Transport nichts zu tun haben. Medien sind insbesondere dann auch keine Kanäle.

Eine andere immer wieder zu findende Definition von Medien behauptet, dies seien alle „technological extensions" (Real 1989: 19) des Menschen. Dies geht unter anderem auf McLuhan (1992; vgl. auch Krotz 2001 a) zurück: Danach ist aber auch ein Auto ein Medium, insofern es die menschlichen „Organe", in diesem Fall die Füße, erweitert und die Fortbewegung perfektioniert: Es vermittelt zwischen Raum und Individuum.

Wir nähern uns hier dieser Frage von der folgenden Position aus: Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich mit der differenzierten menschlichen Kommunikation und dem davon ableitbaren kommunikativen Handeln der Menschen. Ein Medium (als Gegenstand von Kommunikationswissenschaft) ist dann ein technisch begründetes und sozial institutionalisiertes Verfahren einer Transformation kommunikativen Handelns, insofern darüber weitere Kommunikation erzeugt wird und insoweit dabei das komplexe Potenzial menschlichen Kommunizierens erhalten bleibt.

Medien, wie sie die Kommunikationswissenschaft betrachtet, haben also etwas mit Technik zu tun, insofern sie Kommunikate transformieren: Sie müssen mediengerecht aufbereitet werden, damit sie den Rezipienten angeboten werden können. Medien sind gleichzeitig aber auch über das Handeln der Menschen in Kultur und Gesellschaft eingebettet, also institutionalisiert. Sie bedürfen der Kommunikation und sie ermöglichen und erzeugen damit Kommunikation, sonst wären sie keine Kommunikationsmedien. Nur die Medien schließlich sind Gegenstand der Kommunikationswissenschaft, die die Komplexität menschlicher Kommunikation auch angemessen transformieren und ausdrücken können— die Autohupe kann man als Kommunikationsmedium begreifen, sie kann aber schon aus technischen Gründen die Komplexität menschlicher Kommunikation nicht ausdrücken und ist deshalb auch zu Recht nicht Thema der Kommunikationswissenschaft.

Wir sprechen dementsprechend also dann von Medien, wenn es sich um menschlich hergestellte technische, zugleich aber auch um sozial institutionalisierte Einrichtungen handelt, die die Komplexität menschlicher Kommunikation zum Ausdruck bringen können, die Kommunikate von Menschen und von Institutionen der Interpretation anderer Menschen zugänglich machen und die Teil des etablierten gesellschaftlichen Kommunikationssystems sind.

Medien entstehen also einerseits erst durch die Zulieferung von Kommunikaten und sind damit Produkte von Kommunikation. Medien sind andererseits zugleich Ausgangspunkte von Kommunikation, nämlich in der Perspektive der Rezipienten, zu deren symbolischer Umwelt sie gehören. Und schließlich sind Medien Teil eines kulturell und gesellschaftlich zusammenhängenden, inter-textuellen, bedeutungsgenerierenden und handlungsrelevanten Kommunikationssystems, das ein Teil von Kultur und zugleich für demokratische Öffentlichkeit wichtig ist. Medien werden dementsprechend hier verstanden als einerseits Inszenierungsmaschinen, über die sich ein Kommunikator ausdrückt, andererseits als Erlebnisräume, in denen die Rezipienten das szenisch erlebte Geschehen in die von ihnen definierten Kontexte einordnen, um es zu verstehen, und schließlich als gesellschaftliche Institutionen, die Inszenierung und Erleben organisieren und seiner Art nach zu garantieren versuchen — Telefongesellschaften, Rundfunkveranstalter und alles, was damit zusammenhängt.

Auf der Basis einer derartigen Definition können medial vermittelte Kommunikate dann offensichtlich persönlich wie beim Telefon oder allgemein wie beim Radio adressiert sein. Sie können industriell arbeitsteilig oder aber spontan durch ein Individuum hergestellt werden, sie können standardisiert und nach Regeln aufgebaut wie ein Gedicht oder situativ und individuell kreiert wie eine Liebeserklärung sein. Dementsprechend sind also viele klärende Unterscheidungen möglich.

 

Medien sind damit aber keineswegs Kanäle, wie es Lasswell (vgl. McQuail 1994) behauptet hat, oder jedenfalls nicht nur- und gerade, was ihr Besonderes angeht nicht. Natürlich sind sie auch Technik und werden als Technik erfunden - das Fernsehen oder das Pergament. Aber erst da, wo sie eine kulturelle und gesellschaftliche Gestalt erhalten und als Institutionen die Menschen zu Mediennutzern und -rezipienten machen, die vertraut und erwartungssicher damit umgehen, werden Techniken zu Medien. Nicht die Privatschrift, sondern die kulturell geteilte Schrift macht das Gekrakel zu einem Medium. Um von einem Medium sprechen zu können, muss über eine Technik hinaus dreierlei gegeben sein, wenn es sich um ein Medium in der Gesellschaft handeln soll: Das Medium muss als Institution in der Gesellschaft präsent sein und für bestimmte Leistungen garantieren (vgl. zum Begriff der Institution auch Berger/Luckmann 1980), es bedarf standardisierter Inszenierungsroutinen, um das Medium als Inszenierungsapparat zu reproduzieren, der seine eigene, mediale Wirklichkeit herstellt bzw. offeriert, und es muss als ein Erlebnisraum verwendet werden.

In einer anderen Perspektive ausgedrückt: Medien erweitern, verändern, gestalten, ermöglichen also Kommunikation — zum Beispiel tut dies das Telefon für Menschen an unterschiedlichen Orten, oder das Fernsehen macht es möglich, dass Millionen Haushalte gleichzeitig etwas Bestimmtes erfahren und dabei wissen, dass auch alle anderen das jetzt wissen können. Sie schaffen erweiterte Kommunikationsgelegenheiten, weil sie neue ,Gegenüber-Personen' individueller, aggregativer oder sonstiger Art in neuen Kommunikationszusammenhängen anbieten, allerdings in einer je medien- und gesellschaftsspezifischen Weise. Sie gestalten folglich Kommunikation, indem Kommunikation in Bezug auf technische und organisatorische Gegebenheiten re-inszeniert wird, und sie verändern Kommunikation, indem sie beispielsweise nur gegen Bezahlung zugänglich sind, je nach Medium nur bestimmte Wahrnehmungskanäle ansprechen - beim Radio eben nur das Ohr, nicht den Tastsinn.

III  Typen mediatisierter Kommunikation und ihre Rolle in der Gesellschaft

Damit können wir uns nun wieder dem sozialen, kulturellen und medialen Wandel zuwenden und zumindest ein Resultat festhalten: Im Laufe dieser Entwicklungen differenziert sich Kommunikation immer weiter aus. Ausgangspunkt war das mit Gesten begleitete Gespräch in der face-to-face-Situation, darüber erlernen wir elaborierte Kommunikation, und alle weiteren existierenden Typen von Kommunikation entstehen daraus als Modifikationen.

Wir haben beim Aufwachsen auch gelernt, Medien als etwas Selbstverständliches wahrzunehmen - wenn wir Musik hören, sehen wir uns nicht mehr automatisch nach Musikanten um, sondern geben uns mit einem Verweis auf den CD-Player und die Lautsprecher zufrieden. Kinder lernen, dass man Omas Stimme am Telefon hören und ihr antworten kann, dass man gleichzeitig aber eine Kassette immer wieder auflegen, ihr aber nicht recht antworten kann etc.

Wenn man sich die heute übliche Medienvielfalt ansieht, so kann man sie systematisch eigentlich in drei Typen mediatisierter Kommunikation unterteilen, wenn man die unterschiedlichen alter Egos, die unterschiedlichen kommunikativen Gegenüber des kommunizierenden Menschen berücksichtigt:

    Die mediatisierte interpersonale Kommunikation mittels Medien (z.B. per Telefon), in denen eine, wenn auch zeitlich oder räumlich auseinander gezogene, aber doch von den Beteiligten gemeinsam definierte Situation das Geschehen prägt,

    Kommunikation mit Medien, die in Produktion, also die Herstellung und Distribution eines Kommunikats und in Rezeption zerfällt. Dafür ist es notwendig, dass die dabei erzeugten Kommunikate von einer Form sind, die wir als standardisiert und allgemein adressiert bezeichnen können, damit sie unabhängig von ihrem Entstehungszusammenhang distribuiert und rezipiert werden können - was immer dann die Rezipienten verstehen bzw. damit machen, und Interaktive Kommunikation, die weder mit Personen stattfindet noch mit standardisierten Vorprodukten, sondern etwa mit „künstlichen Intelligenzen" oder Softwareprogrammen z.B. in Computerspielen oder mit Tamagotchis: Die dadurch hergestellten Erlebnisräume haben Eigenschaften, die es vor der Erfindung des Computers nicht gab.

Jeder dieser Typen ist erkennbar eine eigentümliche Modifikation interpersonaler face-to-face-Kommunikation. Medien als technische Gegebenheiten und soziale Institutionen verändern also Kommunikation und Erleben der Menschen, und deshalb haben sie für die Gesellschaft eine große Bedeutung. Um ganz exakt zu sein; nicht die Medien verändern Kommunikation und Gesellschaft, sie bieten aber ein Potenzial, das die Menschen benutzen, und infolge dessen konstruieren sie ihre Welt und damit sich selbst anders. Dafür sind Medien wichtig, und deshalb schafft Meyrowitz (1990) den Begriff der Mediumstheorie als „die historische und interkulturelle Untersuchung der unterschiedlichen kulturellen Umwelten, wie sie verschiedene Kommunikationsmedien schaffen" (ebd.: 46) und deren Konsequenzen; sie versucht, „die Aufmerksamkeit auf die potentiellen Auswirkungen von Medien zu lenken, unabhängig vom jeweiligen Medien-Inhalt" (ebd.: 47).

Für die zentrale These einer gesellschaftlichen Medienwirkung (die nicht von Inhalten abhängt, sondern durch den Wandel von Kommunikation zustande kommt, der sich ergibt, weil Menschen neue Medien in ihren Alltag integrieren) gibt es empirisch gestützte und plausible begründete Befunde, die allerdings bisher kaum zum Kernbestand der Kommunikationswissenschaft gezählt und nicht hinreichend beachtet wurden: Ong (1995) und Goody/Watt/Gough (1986) beispielsweise haben sich mit der Bedeutung der Schrift für Gesellschaft und Denken beschäftigt, Innis hat belegt, wie etwa Papyros als leichtes, transportables Medium zu Gesellschaften passt, die aus militärischen Gründen auf schnellen Transport angewiesen sind, während sich Steintafeln eher für traditional und religiös geprägte Gesellschaften eignen, die ihre Legitimation aus immer länger zurückliegenden Offenbarungen oder Überlieferungen ziehen (vgl. Barck 1997; Giessen 2002). Ong (1995) und Giesecke (1998) haben die Folgen der Druckmaschine und des Lesens untersucht, McLuhan (1992) und Innis (vgl. Barck 1997) allgemeiner die Folgen ganz unterschiedlicher Medien für Kultur und Gesellschaft herausgearbeitet, Meyrowitz (1990) hat gezeigt, wie die Existenz und Nutzung des Fernsehens Determinanten der Beziehungen der Geschlechter zueinander, das Verhältnis der Menschen zu Autoritäten und das Zugehörigkeitsgefühl zu sozialen Gruppierungen beeinflusst.

Gesellschaften und ebenso spezifische historische Phasen von Kulturen unterscheiden sich also durch die Art der Medien, die in ihnen benutzt werden oder für sie wichtig sind. Medien als Gesamtheit ändern sich, insofern neue hinzukommen oder insofern bereits vorhandene Medien weiter entwickelt werden und neue Funktionen übernehmen. Für diese historische Entwicklung wollen wir nun wie im Fall von Individualisierung und Globalisierung, Modernisierung und Aufklärung - ohne hier auf trotzdem vorhandene Unterschiede einzugehen - einen Begriff verwenden, nämlich den der Mediatisierung. Bevor wir den genauer einführen, müssen wir uns mit Metaprozessen als Beschreibungsmittel sozialen und kulturellen Wandels beschäftigen.

IV  Sozialer und kultureller Wandel:
Die Konstruktion gesellschaftlicher Metaprozesse

Kultur und Gesellschaft befinden sich nicht zuletzt auch deswegen in einem ständigen Wandel, weil beides menschlich konstituierte und damit immer wieder neu von den Menschen hergestellte Handlungsbereiche sind. Um diesen Wandel begrifflich fassen und theoretisch einordnen zu können, verwenden wir Konzepte wie Individualisierung, Globalisierung oder Mediatisierung. Genauer besehen sind dies allgemeine Konstrukte, unter die wir bestimmte Entwicklungen, ihre Ursachen, Ausdrucksformen und Auswirkungen zusammenzufassen und uns damit die Welt handhabbar machen.

Globalisierung beispielsweise besagt allgemein ausgedrückt, dass sich die Wirtschaft zunehmend überregional und überstaatlich ausrichtet (vgl. Hepp/ Krotz/Winter 2005 mit vielfältigen weiteren Literaturangaben). Gemeint ist damit zugleich aber auch eine Vielfalt von davon abhängigen und damit zusammenhängenden Einzelentwicklungen, zum Beispiel im Medienbereich: Medieninhalte und -formate werden heute überall hin verkauft, Kindheit wird in allen industrialisierten Ländern durch Pokemon, SimCity, die Teletubbies und Harry Potter geprägt, Medienereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft oder die Beerdigung von Lady Diana versammeln Hunderte Millionen von Menschen in aller Welt vor den Bildschirmen. All dies sind zugleich Ausdrucksformen und Auswirkungen des Globalisierungsprozesses. Natürlich sind sie nicht auf mediale Bereiche beschränkt, auch komplexere Lebensbereiche der Menschen, ihre sich wandelnde Identität, ihre sozialen Beziehungsstrukturen und die Zivilgesellschaft insgesamt sind davon betroffen, aber Globalisierung findet zweifelsohne auch im Bereich der Medien - als wirtschaftlicher Prozess etwa in der weltweiten Vermarktung von Bildern oder Unterhaltungsformaten - statt.

Begriffe wie Globalisierung oder Individualisierung (vgl. Beck 1986) bezeichnen also keine einzelnen Phänomene, deren Existenz wir empirisch überprüfen können, sondern Metaprozesse, die wir behaupten und unterstellen, um die vielfältigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen theoretisch zu ordnen und zu begreifen. Dabei können derartige Metaprozesse auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern angesiedelt sein: Globalisierung gilt in erster Linie als ökonomisch bedingte Entwicklung, Individualisierung bezeichnet eine sozial bedeutsame kontinuierliche Veränderung  und Mediatisierung wird meist als Ursache für kulturellen Wandel begriffen; sie alle wirken sich natürlich aber auch auf die anderen Felder aus. Im Übrigen ist es nichts Neues, dass wir derartige Metaprozesse konstruieren: Christianisierung, Alphabetisierung oder Industrialisierung sind ebenfalls derartige Konstrukte (vgl. hierzu inhaltlich van der Loo/van Reijen (1992) sowie theoretisch Berger/ Luckmann (1980)). Und dass es sich dabei um Konstrukte handelt, besagt natürlich auch nicht, dass sie beliebig sind: Individualisierung, Globalisierung und Mediatisierung setzen an den Erfahrungen der Menschen an und verweisen auf objektiv überprüfbare einzelne Zusammenhänge. Wir denken also die Art sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels in solchen Metaprozessen und können nun genauer auf den medialen Wandel eingehen, den wir als Metaprozess Mediatisierung konzipieren.

V   Der Metaprozess „Mediatisierung"

Konzepte wie Information- oder Wissensgesellschaft (zur Kritik vgl. Kleinsteuber 1999) postulieren dualistisch ein Vorher/Nachher und sind auch sonst problematisch, wenn es darum geht zu beschreiben, wohin sich Gesellschaft in Abhängigkeit vom medialen Wandel entwickelt. Demgegenüber macht es eher Sinn, einen in der Geschichte der Menschheit schon immer stattfindenden gesellschaftlichen Metaprozess Mediatisierung zu unterstellen und konzeptionell auszuarbeiten: In dessen historischem Verlauf werden immer neue Medien in Kultur und Gesellschaft, in Handeln und Kommunizieren der Menschen eingebettet, werden die Kommunikationsumgebungen der Menschen immer ausdifferenzierter und komplexer, und beziehen sich umgekehrt Handeln und Kommunizieren sowie die gesellschaftlichen Institutionen, Kultur und Gesellschaft in einem immer weiter reichenden Ausmaß auf Medien.

Wir postulieren deshalb einen gesellschaftlichen Metaprozess Mediatisierung, der diese Entwicklung, ihre Hintergründe und Konsequenzen in allgemeiner und zugleich konkreter Weise beschreibt, als einen Prozess mit Ursachen, Ausdrucksformen und Auswirkungen, die nur analytisch voneinander getrennt werden können, ebenso wie im Falle von Globalisierung und Individualisierung.

Unter dem Prozesskonstrukt Mediatisierung verstehe ich genauer den Prozess sozialen und kulturellen Wandels, der dadurch zustande kommt, dass immer mehr Menschen immer häufiger und differenzierter ihr soziales und kommunikatives Handeln auf immer mehr ausdifferenzierte Menschen beziehen.

Dieser Begriff

  • konzipiert offensichtlich Medienentwicklung und ihre Konsequenzen nicht als technisches, sondern als soziales Konstrukt, insofern die sozialen und kulturellen Auswirkungen nicht aus der Technik, sondern aus dem Handeln der Menschen hergeleitet werden,
  • ist nicht substitutiv gemeint; neue Medien bringen die alten nicht zum Verschwinden, sondern führen zu einer Ausdifferenzierung: Immer mehr und immer spezieller auf spezifische Funktionen eingestellte Medien machen die Kommunikationsumgebungen der Menschen immer komplexer,
  • bietet sich dementsprechend für eine handlungstheoretische Betrachtungsweise an, die sich vor allem auch deshalb empfiehlt, weil jede Art der Mediennutzung etwas Situativ-Konkretes ist und sich daraus erst gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse ergeben,
  • behandelt die mediale Entwicklung als einen graduellen Prozess, der natürlich in bestimmten Momenten umschlägt, aber den Unfug einer dichotomen Gegenüberstellung zwischen einer Wissens- bzw. Informationsgesellschaft und ihrem logischen Gegenteil, was immer das genau sein soll, vermeidet.
  • ist breiter angelegt als nur ,Globalisierung der Medieninhalte' und , ‚lndividualisierung der Mediennutzung', umfasst aber diese beiden Teilprozesse.
  • und erlaubt es also, die medial bedeutsamen Entwicklungen einerseits für sich zu betrachten, andererseits dann Bezüge zu anderen Metaprozessen wie Individualisierung, Globalisierung oder auch Ökonomisierung/Kommerzialisierung herauszuarbeiten.

Mediatisierung meint also, dass durch das Aufkommen und durch die Etablierung von neuen Medien für bestimmte Zwecke und die gleichzeitige Veränderung der Verwendungszwecke alter Medien sich die gesellschaftliche Kommunikation und deshalb auch die kommunikativ konstruierte Wirklichkeiten, also Kultur und Gesellschaft, Identität und Alltag der Menschen verändern.

Insbesondere beinhaltet Mediatisierung, dass nicht die Medien alleine für  die Veränderungen von Bedeutung sind, sondern dass es um die Medien in einer spezifischen Gesellschaft und dementsprechend um spezifisch organisierte Medien geht. Sie werden für Gesellschaft durch das Handeln der Menschen, das sich auf sie bezieht, von Bedeutung. Insofern ist der Prozess der Mediatisierung ein allgemeinerer, auf Kultur und Gesellschaft bezogener Prozess - hier unterscheidet sich der Mediatisierungsansatz von der Mediumstheorie.

Seit der Erfindung der Schrift lassen sich historisch immer wieder Mediatisierungsschübe nachweisen, die die soziale Bedeutung von Zeit und Raum veränderten, die sozialen Beziehungen und Normen der Menschen, die Machtkonstellationen, Werte, Traditionen und sozialen Regeln einerseits erodieren ließen, andererseits dafür entsprechende andere Bedingungen von Alltag und Leben schufen (Cooley 1950, ursprünglich 1909). Das Buch im ausgehenden Mittelalter und die Tageszeitung am Beginn der modernen Demokratie, das Radio als Rundfunk an der Front, der Volksempfänger bei den Nazis oder die Fernbedienung in der Konsumgesellschaft, das Fernsehen als Emotionsmaschine, die digitale Vernetzung durch PC und Internet - sie alle haben mal mehr und mal weniger, mal schneller und mal langsamer Kommunikation und Gespräch der Menschen als Basis sozialer und kultureller Wirklichkeit verändert, weil Gesellschaft und Kultur, Denken, Identität und Alltag vor allem auf sozialer Kommunikation beruhen (vgl. Krotz 2001 a).

Die Frage ist deshalb, wie dieser Mediatisierungsprozess sich generell als Prozess auswirkt bzw. wie und in was für einer Wechselwirkung die verschiedenen Mediatisierungsformen zu Alltag und Identität, Kultur und Gesellschaft stehen. Und die Frage ist, welche Form denn dieser Mediatisierungsprozess heute hat und was das Besondere der Digitalisierung ist. Dies ist das Thema des nächsten Abschnitts, und im Gegensatz zu den Entstehungsgeschichten einzelner Medien in der Vergangenheit werden wir diese Besonderheit als die Entstehung eines zweiten, zusammenhängenden medialen Kommunikationsnetzes beschreiben, das sich nicht auf bestimmte Zwecke und Kommunikationsweisen, Alltagsprovinzen und Intentionen beschränkt wie beispielsweise das Fernsehen als ein Freizeitmedium, sondern das alle Bereiche menschlichen Lebens betrifft und überlagert. Die Bedeutung dieses zweiten Netzes, das natürlich von den Individuen her untrennbar mit dem ersten verbunden ist, liegt einmal darin, dass es Einzelmedien übergreift und so einen eigenständigen Einfluss auf den Alltag der Menschen ermöglicht, zum anderen darin, dass es in einer Perspektive von der Gesellschaft her der face-to-face stattfindenden Alltagskommunikation gegenübergestellt ist, weil es sich hier um mediatisierte und damit kontrollierbare und entfremdete Kommunikationsbeziehungen handelt.

VI    Die Entstehung eines medialen, insbesondere computervermittelten, allgegenwärtigen und jederzeit erreichbaren Kommunikationsnetzes

Generell lässt sich sagen, dass von Medien beeinflusste Handlungsbereiche immer umfassender und bedeutsamer werden. Die einzelnen raum-zeitlich strukturierten Sinnprovinzen, die Medien früher bezeichneten, wachsen zu einer umfassenden Medienumgebung zusammen, auf die sich immer mehr funktionale Nutzungsweisen der Menschen beziehen, und die immer differenziertere Nutzungsmöglichkeiten anbietet. Früher telefonierte man in der Wohnung meist in einem spezifischen Raum (etwa im Flur oder in den USA in der Küche), hatte woanders das Radio stehen und saß im Wohnzimmer im Sessel und sah fern. Die Zeitung las man morgens, abends entspannte man sich auf der Couch vor der Glotze usw.: Jedes Medium konstituierte bisher einen eigenen, besonderen Erlebnisraum, eröffnete einzelne Sinnprovinzen kommunikativen Handelns, und jedes Medium hatte so gesehen seine Zeit und seinen Platz im Alltag der Menschen. Heute dagegen beobachten wir auf der Basis der Digitalisierung einen Prozess des Zusammenwachsens aller Medien zu einem universellen Netz, an dem unterschiedliche Endgeräte hängen, über die der Mensch zu Inhalten in spezifischen Formen Zugang hat. In diesem Zusammenwachsen entsteht neben den alltäglichen interpersonalen Beziehungen, aus denen sich unser früheres, vor allem räumlich strukturiertes und wesentlich auf face-to-face-Kommunikation gründendes primäres Beziehungsnetz zusammensetzte, ein zweites kommunikatives Netz, das auch noch auf face-to-fdce-Begegnungen zielt, aber daneben auch andere Begegnungsarten zuließ und zulässt. Wir müssen diesen Prozess deswegen als Prozess einer zunehmenden Entgrenzung und Vermischung der vorher vorhandenen Einzelmedien begreifen, die von begrenzten und relativ erwartungsstabilen sozialen Zwecken und Nutzungsweisen entkoppelt werden. Ein schönes Beispiel dafür ist der unerwartete SMS-Boom - weil man meinte, dass ein Telefon primär zum Telefonieren da sei, hat niemand den gewaltigen Erfolg dieser nicht stimmlichen, sondern verschriftlichten Verwendungsweise von Mobiltelefonen erwartet; es gibt auch nur historische und heute technisch leicht überwindbare Gründe, warum Festnetztelefone das nicht auch können. Dieses zweite, technisch mediatisierte, sozial bestimmte und kulturell wirksame Kommunikationsnetz ermöglicht und erzeugt mehr Kommunikation, aber auch Kommunikation mit andersartigen Gegenüber, und es eröffnet neue Formen von Kommunikation.

Bisher, so können wir daraus folgern, standen in jeder historischen Phase eines kulturellen Zusammenhangs einzelne Medien, die zu den Leitmedien wurden, im Vordergrund. Deshalb war es auch konsequent, dass die Konzeptualisierung der Kommunikationswissenschaft nach der bekannten Lasswell-Formel sieh auf einzelne Kommunikationsvorgänge im Hinblick auf einzelne Medien konzentrierte und sich z.B. Kommunikationswissenschaft neben den Printmedien überwiegend auf Fernsehen als Leitmedium konzentriert. Jetzt entsteht aber ein digitales Datennetz, in dem Daten unabhängig von Endgeräten kursieren und das für den Nutzer in komplexen Medienumgebungen auf unterschiedliche Weise erlebbar wird. Das ist meiner Meinung nach das Zentrale, was uns die neuen Medien im Hinblick auf die alten Medien und im Hinblick auf die Nutzungsweisen bringen; wobei dazu gehört, dass dieses Netz von überall her und zu jeder Zeit erreichbar ist und alle „alten" Medien integriert.

Dahinter steht die durch Digitalisierung erreichte einheitliche, oder besser: medienübergreifende Form von Daten.

Diese Vernetzung hat mit Sicherheit Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen, mit denen sich die Kommunikationswissenschaft beschäftigen muss. Langfristig entstehen dadurch neue Kommunikationspotenziale, neue Wirklichkeitsvorstellungen, neue Alltagsbedingungen, neue Erlebnisbereiche. Zurzeit finden wir als Kern dieser Entwicklung zunächst drei medial definierte neue Erlebnisräume der Menschen (soweit sie Zugang zu all diesen Kommunikationsmodi haben, was bekanntlich im Weltmaßstab gesehen nur für wenige gilt):

    Zunächst Erlebnisräume, die als interaktive Kommunikation definiert sind, also Medienangebote, bezüglich derer Nutzerinnen und Nutzer inhaltliche Unikate herstellen können. Sie offerieren etwas, das gewissermaßen „zwischen" interpersonaler mediatisierter Kommunikation (etwa per Telefon) und Rezeption (wie zum Beispiel beim Fernsehen) liegt: Computerspiele als „Gespräche" mit einem entsprechend programmierten Hardware/Software-System, „Gespräche" mit Avataren oder Software-Robotern, die scheinbar als autonome soziale Akteure auftreten, das lang erwartete interaktive Fernsehen sind Beispiele dafür. Der Bau von Hardware-Robotern, die an die Tamagotchies anknüpfen, wie zum Beispiel des AIBO macht Fortschritte, auch wenn sich derartige Entertainment-Roboter mit zusätzlichen Fähigkeiten noch nicht so recht wirtschaftlich tragen (vgl. Krotz 2007).

    Die zweite wesentliche Neuigkeit ist die globale kommunikative Vernetzung, die heute als Internet bezeichnet wird und deren Endgeräte etwa die PCs sind, die als Universal- oder Hybridmedium dienen, insofern sie alle Arten von Kommunikation ermöglichen. Dieses Netz hat unterschiedliche Schnittstellen für die Menschen - manche seiner Inhalte werden auf Papier gedruckt und dann distribuiert, andere werden elektronisch analogisiert und auf Fernsehbildschirme gebracht usw. Zugleich hat jeder Mensch nur zu vergleichsweise kleinen Inhaltsmengen Zugang. Es ist aber auch zu erwarten, dass über diese Netze zunehmend Informationen verteilt werden, die nicht mehr an Menschen gerichtet sind, sondern der Steuerung und dem „Informationsaustausch" von Maschinen dienen.

    Die dritte heute zu beobachtende neue mediale Kommunikation ist die mobile Vernetzung, die bisher noch auf der Basis anderer Protokolle als das TCP/IP-Protokoll des Internet funktioniert, wobei aber auch schon über Internet telefoniert werden kann. Dabei handelt es sich heute nicht mehr um eine Vernetzung von Orten, sondern von Personen und anderen mobilen Objekten. Hier steht nicht der Computer als Maschine im Vordergrund, sondern eine darüber mögliche Form (interpersonaler) Kommunikation, weshalb die Endgeräte eigentlich ganz traditionell als Telefone vermarktet werden. Jedoch ist im Grunde genommen jedes Handy ein Computer, der einen mobilen Zugang zu den Inhalten der globalen kommunikativen Vernetzung eröffnet, auch wenn solche Möglichkeiten oft noch nicht nutzbar sind. Für Kind und Jugendliche in den Industrienationen ist dieses Gerät ein modisch Kommunikationsmittel und zugleich ein Attribut geworden, mit allen damit verbundenen statusgenerierenden Elementen und der damit stattfindend' Distinktion von anderen, und sie verwenden es nicht nur, manchmal im einmal vorrangig zum Telefonieren, sondern für alles mögliche andere, Der  mobile Kommunikations-Computer wird sich vermutlich zum universellen  Anschluss an die Kommunikationsnetze weiterentwickeln und damit den Alltag unterwegs wie im Zusammenspiel mit fest stationierten Geräte gründlich verändern.

Diese drei neuen, durch Digitalisierung und Computer generierten Potenziale sind in unserer Wahrnehmung und zum Teil technisch getrennt, aber sie konstituieren gemeinsam den neuen Kern des zweiten, digital vermittelten, kommunikativen Netzes, in dem wir uns bewegen und in dem sieh unterschiedliche Funktionen ausdifferenzieren. Dieses Netz verschränkt sich immer mehr und auf unentwirrbare Weise mit dem Raum alltäglicher, nichtmedialer Kommunikation.  Es entstehen so neue Typen von Beziehungen, neue alltagspraktische Umgangsweisen mit Raum und Zeit, und darüber verändern sich beispielsweise soziale Situationsdefinitionen, elementare Handlungsweisen (etwa beim Grüße beim Chatten im Internet), Weltwissen, Denkweisen und Erwartungen, in dem und in Bezug auf die wir handeln und kommunizieren.

Gleichzeitig wirft dieses zweite Kommunikationsnetz natürlich Probleme auf: Es verbraucht Energie, seine Nutzung kostet Geld, es ist kommerziell organisiert und voll von Werbung, es ist im Hinblick auf individuelles kommunikatives Handeln kontrollierbar, vielleicht ohne dass der Datenschutz auf Dauer eine Chance hat. Trotzdem wird dieses mediatisierte Kommunikationsnetz von immer mehr Menschen für immer mehr Zwecke verwendet, und es bekommen immer mehr „Schnittstellen" zum Netz der alltäglichen Kommunikation außerhalb der Medien. Und es besetzt immer mehr soziale Räume, wie zum Beispiel die Existenz von Fernsehen und Internetanschlüssen in Kneipen und U-Bahnen, am Bahnhof und in Schaufenstern, aber auch Business TV und School TV, und, vor allem, wie die Allgegenwart von Handys mit all ihren kommunikativen und anderen Möglichkeiten zeigen.

Vermutlich wird diese Entwicklung weitergehen. Denn wie so oft wird die  Technik immer kleiner, billiger und besser und verbraucht auch immer weniger Energie. Wir werden von Gegenständen umgeben sein, die alle ein Abbild im Internet haben, und die ohne Internet nicht mehr richtig funktionieren; andere Gegenstände werden sogar selbständig in einer Art face-to-face-Situation mit den Menschen kommunizieren. Das Internet in Verschmelzung zum Netz der Mobilkommunikation wird so zum Netz, über das und zunehmend in dem vor allem Maschinen miteinander kommunizieren.

Aber das sind zum derzeitigen Zeitpunkt eher Spekulationen. Wir fragen stattdessen im Folgenden lieber nach empirisch beobachtbaren, plausiblen Thesen, um Konsequenzen dieses Prozesses als eine weitere Stufe des Mediatisierungsprozesses wenigstens in Ansätzen beschreiben zu können.

VII   Wohin gehen wir? - Einige Folgerungen und Überlegungen

Hier geht es abschließend um Überlegungen zum Metaprozess „Mediatisierung", die sich auf empirisch feststellbare Entwicklungen beziehen oder die plausibel aus den Potenzialen der aufkommenden Medien und ihrer Integration mit dem Alltag der Menschen abgeleitet werden können. Aus Platzgründen werde ich mich hier darauf beschränken, nur drei dieser Thesen genauer auszuführen.

    Zunächst müssen Veränderungen der Beziehungen der Menschen zueinander diagnostiziert werden: Das primäre Beziehungsnetz räumlich organisierter Beziehungen, die sich vor allem in face-to-face-Kontakten realisieren, verliert dadurch aber nicht notwendigerweise an Bedeutung, bekommt aber andere Funktionen und wird durch neuartige Beziehungen ergänzt, erweitert, modifiziert. Während man sich die soziale Welt bisher als eine Kugel vorstellen kann, die aus kleinen Flächen besteht- ebenso, wie ein Fußball aus Lederflecken zusammengenäht ist —, sind soziale und kommunikative Beziehungen in Zukunft weniger vom Raum als von aufeinander gerichteten Interessen strukturiert und nur noch in bestimmten Grenzen von face-to-face-Kontakten abhängig— wir befinden uns quasi auf einem Wollknäuel, und die Menschen, mit denen wir verbunden sind, sind nicht mehr räumlich in der Nähe, sondern durch Inhalte verbunden, was durch den Wollfaden symbolisiert wird. Natürlich ist das Leben komplexer als ein Wollknäuel: Die Welt ist gleichzeitig viele solche Knäuel.

    Zum Zweiten sind Veränderungen des Alltags und seiner Struktur zu beobachten bzw. zu erwarten: Alltage werden vielfältiger, weniger klar gegliedert, es gibt mehr Brüche, und die Medien sind stets und überall präsent. War - bildlich gesehen - der Alltag in der Industriegesellschaft zumindest idealtypisch ein Alltag, der aus klar voneinander abgegrenzten Lebensbereichen bestand, die in verschiedenen Phasen des Alltags relevant waren und zu denen etwa auch das Zeitungslesen oder das Fernsehen gehörte, so gehen die früher getrennten Lebensbereiche zunehmend ineinander über und überlappen sich zeitlich und räumlich, und sie alle werden in zunehmendem Maße mit Medien aller Art verbracht.

    Drittens schließlich lassen sich gravierende Veränderungen von Sozialisationsbedingungen beobachten: Aufwachsen ist nicht mehr so gut kontrollierbar durch die Erwachsenen wie in den letzten Jahrhunderten und funktionier! nicht mehr in einem Stufenmodell. Kindheit verändert sich, weil kindliche Erfahrungen nicht mehr aufeinander aufbauen, sogar gar nicht mehr zusammenhängend sein müssen. Kindheit verändert sich aber auch, weil sie sich von einer eigenständigen Phase einer Biographie in ihren Ausdrucksformen zu einer überdauernden  Lebensform entwickelt, zumindest aber deshalb, weil ihr Gegenbild, das Bild des für sein Leben kompetenten Erwachsenen, heute kaum noch der Realität entspricht, sondern allenfalls ein Gestus ist.

In diesem Zusammenhang lässt sich weiter sagen, dass sich das Weltwissen verändert, über das die Menschen verfügen. Denn fast alles, was wir wissen, wissen wir aus oder in Bezug auf die Medien. Unter heutigen medialen Bedingungen werden nun Wissensbestände immer unzusammenhängender, vermutlich entkoppeln sich auch die früher engen Zusammenhänge zwischen soziodemografischen Variablen und spezifischen Wissensbeständen, weil Wissen zumindest formal leichter zugänglich wird. Das soll freilich nicht die Erwartung ausdrücken, dass wie auch immer begründete Herrschaftsverhältnisse von Wissensdifferenzen oder auf Status gründenden Ansprüchen, gehört zu werden, entkoppelt sein werden.

Weiter lassen sich Veränderungen mikrosozialer Art erkennen, deren Bedeutung bisher weitgehend unbekannt ist: Grußformeln als eine Art der Kontaktaufnahme zu anderen verlieren etwa im Chat ebenso ihre Bedeutung wie die allmähliche räumliche Annäherung, die einem körperlichen Kontakt vorausgeht. Das Gleiche gilt für die institutionalisierten Formen der Abwendung, die es bisher ermöglicht haben, etwa Motive dieser Abwendung zu erkennen.

Obendrein wird die Vorstellung, die man sich vom anderen macht, unsicherer, weil sie auf weniger unkontrollierten Informationen beruht.

Ferner ist festzuhalten, dass sich die für Kultur und Gesellschaft notwendigen Formen von Integration verändern (vgl. Krotz 2002).

Und schließlich lassen sich Indizien dafür finden, dass sieh nicht nur die politischen Verhältnisse durch die digitalen Medien verändern, sondern natürlich auch die Ökonomie und deren Bedeutung für die Menschen. Medien sind heute in unserer Gesellschaft über Werbung und Sponsoring bedeutende Agenten der Märkte und ziehen die Menschen in Marktverhältnisse hinein: Wir werden abhängiger von Märkten und Institutionen. Dabei verändert sieh auch die Konstitution von Sinn, insofern etwa Überzeugungen durch Inszenierungen ersetzt werden. Plakativ ausgedrückt: Marken statt Werte, Firmen-„philosophien" statt Religionen.

Für frühere Epochen hat Norbert Elias (1972, 1994) gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen Alltagsverhalten und sozialer Organisation besteht und dass auch legitimierte Machtkonstellationen und deren Mechanismen damit zusammenhängen. Und beispielsweise Erving Goffman (1974) hat nachgewiesen, dass nicht weiter beachtete mikrosoziale Bedingungen kommunikativen Handelns große Konsequenzen haben. Insofern liegen hier wichtige Felder zukünftiger Forschung, denn es ist offensichtlich, dass die bisher skizzierten Folgerungen keine Theorie ausmachen, noch nicht einmal ein einigermaßen geschlossenes Bild entwerfen, sondern nur Anhaltspunkte bieten können. Deshalb natürlich die erste Schlussfolgerung: Further rescarch is necessary.

All dies kann man so deuten, das im Prozess der Mediatisierung die Erlebnisräume der Menschen geöffnet, verbreitert und vertieft werden (und es ist eine Frage an die Soziologie, warum dies gerade heute gesellschaftlich notwendig ist und warum wir heute mittels dieses zweiten Netzes immer mehr und länger kommunizieren (müssen) und das offenbar auch wollen). Gleichzeitig verfügen aber auch die Medien als Inszenierungsmaschinen bzw. diejenigen, die sie bedienen, über immer mehr Möglichkeiten - und beides zusammen prägt die zukünftige Entwicklung.

Wenn wir an die zweihundert Jahre nach Erfindung der Druckerpresse in Europa denken, so finden wir gewaltige und gewalttätige Umwälzungen, Kriege und Bürgerkriege, Aufstände und Unterdrückung. Auch der Übergang in die digitale Vernetzung könnte solche Konsequenzen haben, weil dabei auch alle Bereiche des menschlichen Lebens sich ändern müssen und zwar vermutlich schneller, als es nach der Erfindung des Buchdrucks der Fall war. Wenn es solche radikalen Veränderungen bisher nicht gegeben hat, so kann dies daran liegen, dass die Menschheit mit solchen Umwälzungen heute besser fertig wird als in vorindustriellen Zeiten, es kann auch daran liegen, dass es sich bei der Durchsetzung der computervermittelten Kommunikation nicht um eine vergleichbare Umwälzung handelt. Weil wir beides aber nicht wissen, wäre es gut, die Entwicklung im Auge zu behalten, nur so besteht Aussicht, dass das auch so bleibt.

Das Problem liegt dabei darin, wie diese Entwicklung vor sich geht, nämlich weitgehend bewusstlos und hinter dem Rücken der Zivilgesellschaft, die doch eigentlich der Souverän ist, der über die Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entscheiden hätte. Es ist einerseits die Technik, die Potenziale entwickelt, und es ist andererseits die Wirtschaft, die die Nutzung mancher dieser Potenziale für ihre Zwecke durchsetzt. Sie übernimmt die medialen Kommunikationsweisen, die im Alltag der Menschen Platz finden, und funktionalisiert sie für ihre Zwecke - seit 1984 das Fernsehen, seit einigen Jahren das Internet. Das ist zwar sicher sehr innovativ und schafft vielleicht auch den einen oder anderen Arbeitsplatz, wird aber auch teuer für den Rest der Menschheit und wirft obendrein politische und soziale Probleme auf.

Die Wirtschaft hat ihrerseits keine Kategorien für die damit begründeten Konsequenzen, die entstehen, sie kennt nur Kostenrechnungen und daraus resultierende Forderungen an Staat, Politik und Gesellschaft (und ihre Kunden).

Aber betroffen sind von diesen Entwicklungen offensichtlich die fundamentalen Formen des menschlichen Zusammenlebens. Es geht deshalb um die Frage, ob wir uns in eine Netzwerkgesellschaft hinein entwickeln, in der der und die Einzelne seine bzw. ihre Wirklichkeit in freiem Bezug auf andere und in Realisierung seiner selbst definierten Interessen gestalten kann, oder in eine Pixelgesellschaft, in der der und die Einzelne von der medial fokussierten Kraft sozialer Felder und ökonomischer Bedarfe wohin auch immer gezwungen wird und sich dort zurechtfinden muss. Eine damit zusammenhängende Sorge richtet sich auf die kulturelle Vielfalt menschlicher Lebens- und Ausdrucksformen, die eigentlich ebenso wie die Vielfalt der Natur zu den Schätzen der Menschheit gehört. Das heißt nicht, dass zu befürchten ist, dass interkulturelle Kontakte und Kommunikate Kulturen vernichten - Kulturen befruchten sich vielmehr gegenseitig, wenn sie miteinander in friedlichem Kontakt und Austausch stehen. Viel gravierender ist aber die beobachtbare Subsumption zwischenmenschlicher Kommunikation und kultureller Ausdrucksformen unter die Ziele privater Unternehmen - sie werden dort funktionalisiert, umgedeutet, reinszeniert, sinnentleert, was in der Menge und auf Dauer irreparable Verluste bewirken könnte (vgl. Krotz 2001b).

Die medialen Entwicklungen sind also Potenziale, die so oder so genutzt werden können. Insofern leben wir heute in einem gewaltigen Experiment, in dessen Verlauf die kulturellen Ausdrucksformen der Menschen immer vollständiger kommerziell verwertet werden. Ob wir dessen Ergebnis am Ende noch verändern können, ist fraglich - wenn unsere Kreativität und unsere Ausdrucksformen verloren und diskreditiert sind, bleibt uns noch nicht einmal eine kritische Reflexion. Deswegen sollten wir die Dinge jetzt in die Hand nehmen.

Um diesen Text zu schreiben, habe ich eine Reihe früherer Texte zum Thema „Mediatisierung" zusammengeführt und mit meinem heutigen Wissensstand überarbeitet b/.w. mit neuen Überlegungen erweitert. Der Text enthält dementsprechend aber auch einige Passagen, die bereits anderswo publiziert wurden.   Friedrich Krotz

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