Klaus Wolschner                                 Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Medien-
Geschichte

II
Politik
und Medien

III
Medien-
Theorie

Mammutjäger Cover Kopie6

PS: Für die Freunde der alten „Holz-Medien”, 
die gern auf Papier Gedrucktes lesen, 
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aus: Bergmann/Pörksen, Medienmenschen (2007) S. 167-178

JÜRGEN LEINEMANN, Spiegel-Autor

DER INSIDER

Jürgen Leinemann gilt als einer der besten Kenner der deutschen Politik und ihrer Protagonisten. Mit Maria Kirady und Hanne Detel spricht der Spiegel-Autor über die Sucht nach Aufmerksamkeit, den Medienkanzler Gerhard Schröder und darüber, wie man Journalisten durch Information mundtot macht.

Herr Leinemann, Sie blicken auf eine langjährige Suchterfahrung zurück. Wie fühlten Sie sich als Aufmerksamkeits-Junkie?

Ich komme aus kleinen Verhältnissen und je höher ich die Karriereleiter nach oben stieg, desto mehr Angst hatte ich, dass auffliegen würde, dass ich dem Job im Grunde nicht gewachsen war. Um diese Selbstzweifel zu kompensieren, brauchte ich immer mehr Lob, Aufmerksamkeit und Alkohol. Wenn mich jemand nicht kannte oder sich nicht für mich interessierte, dann fragte ich mich: »Was habe ich falsch gemacht? Warum hat dieser Mensch nicht mitbekommen, wie bedeutend ich geworden bin?«.

Ihr 2004 erschienenes Buch Höhenrausch war ein großer Erfolg und hat Ihnen eine Menge Beachtung beschert. Sind Sie da rückfällig geworden?

Natürlich war mir klar, dass das Medienecho, das auf ein solches Buch folgt, den Wunsch nach Aufmerksamkeit wieder verstärken würde. Aber im Gegensatz zu früher war ich mir der Gefahr bewusst und konnte damit umgehen.

Sie reden wie ein Alkoholiker, der eine Kneipe führt.

Ich sehe das anders. Mir wurde klar, wie die Sucht funktioniert und dass die Drogen, ob nun Alkohol oder Aufmerksamkeit, austauschbar sind. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, zwei Dinge nicht zu tun: Ich wollte keine leitende journalistische Funktion übernehmen und nicht ins Fernsehen gehen. Diesen Zaun habe ich vor 30 Jahren errichtet, um nicht wieder umzufallen. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass Zäune, die man zu seinem Schutz errichtet, auch eine Einengung bedeuten, sobald man sich stärker fühlt. Nach 15 Jahren fühlte ich mich der öffentlichen Aufmerksamkeit besser gewachsen. Als jetzt also das Buch herauskam, wusste ich, dass ich mich der öffentlichen Aufmerksamkeit würde stellen müssen.

Die öffentlichkeitswirksame Vermarktung des Buches legt doch nahe, dass Sie es geschrieben haben, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Nein, das war nicht die Absicht. Es sollte ein ehrlicher Versuch sein, den Menschen das näher zu bringen, was ich selbst über die politische Szene in Erfahrung gebracht hatte. Natürlich habe ich auch an dem Erfolg des Buches verdient und war im Gespräch. Das kitzelte die Eitelkeit. Aber mein Motiv war Aufklärung.

Hat es den Verkauf des Buches gefördert, dass Sie darin über Ihre Sucht gesprochen haben?

Nein. Ich glaube nicht, dass es eine Rolle gespielt hat, dass ich Alkoholiker bin. Es ging vor allem um die Insiderinformationen, die ich in 40 Jahren Berufserfahrung gesammelt hatte. Nur deshalb habe ich von den Kollegen ein so positives Echo bekommen.

Sie selbst haben einmal gesagt, dass Selbstzweifel sich gut vermarkten ließen.

Alles, womit Sie Ihre eigene Person zur Schau stellen, lässt sich gut vermarkten. Umgekehrt lässt sich für so gut wie nichts mehr Interesse wecken, wenn Sie nicht etwas Persönliches von sich preisgeben.

Solange Sie Ihre Selbstzweifel öffentlich machen, ist das legitim, aber ist es nicht verwerflich, die Komplexe von Politikern bloßzustellen, um einen Verkaufsschlager zu produzieren?

Ich wollte niemanden denunzieren, Sie unterstellen mir dauernd ein Kalkül, das es nicht gab. Deshalb habe ich dabei auch meine eigene Sucht offen gelegt. Um zu zeigen, dass ich weiß, wovon ich rede. Ich weiß, welchen großen Ängsten und Versuchungen Politiker ausgesetzt sind, weil ich selbst einmal am Rande des Suizids herumgegeistert bin.

Welche Ängste und Versuchungen meinen Sie?

Politiker haben einen Beruf, in dem der Stress wesentlich größer ist als in den meisten anderen Berufen. Zudem agieren sie vor einem gewaltigen Publikum. Das vergrößert den Druck und die Angst zu versagen noch weiter. Mit der Befriedigung, die sie aus der Aufmerksamkeit ziehen, betäuben diese Menschen ihre Ängste.

Gibt es Politiker, die sich in Ihrem Buch falsch dargestellt fühlen?

Ja, ausgerechnet Joschka Fischer, der nun wirklich der dickste Fall von allen ist. Im wahrsten Sinne des Wortes. Seit mehr als 20 Jahren habe ich mit ihm über das Buch geredet. Irgendwann sagte er: »Jetzt habe ich begriffen, was du meinst.« Dann hörte er mit der Trinkerei und Fresserei auf und fing an zu rennen. Nach einem Vierteljahr sagte ich ihm, dass er überhaupt nichts begriffen habe. Er habe lediglich eine Ersatzdroge gefunden. Darauf antwortete Joschka mir, ich müsse endlich den Unterschied zwischen Sucht und Leidenschaft verstehen. Aber im Grunde weiß er genau, dass er ein durch und durch süchtiger Mensch ist.

Über Gerhard Schröder haben Sie zehn Jahre nicht geschrieben, weil er Ihnen zu nahe stand. 1996 haben Sie wieder damit angefangen. Wie kam es zu diesem Sinneswandel?

Solange Gerhard Schröder Ministerpräsident in Hannover war, konnte ich mir in Bonn leisten, nicht über ihn zu schreiben. Als er bundespolitisch immer aktiver wurde, ging das nicht mehr. Schröder kam gut damit zurecht, dass ich lange nicht über ihn berichtete. Weniger verkraften konnte er offenbar, dass ich seiner Ansicht nach zu positiv über seine sozialdemokratischen Rivalen schrieb.

Wie war Ihr Verhältnis zu Schröder in der Zeit danach?

1998 wurde ich Leiter des Berliner Spiegel-Büros. Das hat Gerhard Schröder gleich auf sich bezogen und meinte, man würde seinen Intimfeind zum Büroleiter machen. Er kann sich kaum noch vorstellen, dass Dinge in der Welt passieren, die nichts mit ihm zu tun haben.

Warum waren Sie sein Intimfeind?

Ich war es nicht, aber ich wusste zu viel über ihn. Er hat immer befürchtet, ich würde das mal instrumentalisieren. Irgendwann haben wir darüber gesprochen und eine sehr sachliche gemeinsame Arbeitsebene gefunden.

Waren Sie nicht mit Gerhard Schröder befreundet?

In den 80er-Jahren haben das andere von uns behauptet, und wir haben es nicht dementiert. 1994 sagte Gerhard Schröder dann zu mir: »Alles hat seine Zeit, so eine Freundschaft auch. Wir wollen sie hiermit beenden.« Das war, als er eine parteiinterne Wahl zum Kanzlerkandidaten gegen Rudolf Scharping verloren hatte. Schröder hatte sich über mich geärgert, weil ich angeblich zu positiv gegenüber Scharping eingestellt war.

In Ihrem Beruf müssen Sie sowohl über Freunde als auch über Feinde berichten. Wie gehen Sie mit diesem Problem um?

Ich versuche, mir nach bestem Wissen und Gewissen ein Bild zu machen. Ich bewerte nie den Menschen, sondern nur seine Handlungen. Nie würde ich schreiben: »Dieser Mensch ist ein Schweinehunde Ich würde allerdings sagen: »Dieser Mensch hat sich in dieser bestimmten Situation wie ein Schweinehund verhalten.«

Wie schnell läuft man Gefahr, als Duzfreund vieler Politiker, zu vorsichtig zu werden und Informationen vor den Lesern zurückzuhalten?

Die Balance zwischen Nähe und Distanz ist eine ganz zentrale Schwierigkeit im Journalismus. Insbesondere in so geschlossenen Gesellschaften wie dem Hauptstadtjournalismus. Das Gleiche gilt aber auch für Sportjournalisten, Theater- oder Musikkritiker. Die entscheidende Frage ist: Bin ich nur Beobachter oder auch Fan?

Wie gelingt es, diese Distanz zu halten?

Die Grundvoraussetzung ist, sich dessen bewusst zu sein, dass eigene Gefühle, Sympathien und Wertschätzungen eine Rolle spielen. Erst wenn Sie sich klarmachen, dass Sie den Typen eigentlich gut leiden können, dann können Sie fairerweise sagen: >Der ist mir zwar sympathisch, aber diesmal hat er eindeutig Mist gebaut!«. Umgekehrt gilt das natürlich genauso. Wenn Sie zum Beispiel Helmut Kohl noch nie ausstehen konnten, spricht nichts dagegen, es als tolle Leistung anzuerkennen, dass er den Euro eingeführt hat. Deswegen müssen Sie ihn immer noch nicht mögen.

Berichtet man objektiv, wenn man sich an diese Unterscheidung hält?

Jeder, der erzählt, er berichte objektiv, ist entweder dumm oder ein schamloser Lügner. Wir werden in dieser Gesellschaft zugeknallt mit Informationen. Aus dieser Fülle muss jeder eine persönliche Auswahl treffen: Ich bin verantwortlich für das, was ich schreibe, und für das, was ich weglasse. Ich setze meinen Namen unter den Artikel, damit jeder sehen kann, dass es sich dabei um meine Sicht der Dinge handelt. Wenn ich über Gerhard Schröder schreibe, dann ist das nicht Schröder schlechthin, sondern Leinemanns Bild von Schröder - eine möglichst gut fundierte Mutmaßung.

Lassen Sie uns das Ganze von der anderen Seite betrachten: Wie macht man sich als Politiker die Journalisten gefügig?

Das wichtigste Schmiermittel sind Informationen: >lch erzähle Ihnen mal, wie es wirklich war. Das dürfen Sie aber nicht schreiben! Das ist nur für den Hinterkopf.< An dieser Stelle muss man eigentlich sagen: >Nein, danke schön, das will ich gar nicht wissen.< Sonst wird man sofort eingefangen. Denn meist ist es so, dass Ihnen von dem, was der Politiker erzählt, ein Drittel neu ist und Sie die anderen zwei Drittel schon wissen. Das dürfen Sie dann aber auch nicht mehr veröffentlichen. So werden Maulkörbe verteilt. Eine andere Masche ist: »Ich nehme Sie mit auf eine Reise, dann bekommen Sie ein Exklusivinterview.« Das ist für einen Journalisten verlockend, denn man wird in den Redaktionen häufig danach bewertet, welche Kontakte man hat. Wie man an das Exklusivinterview gekommen ist, interessiert die Chefredaktion zunächst einmal gar nicht.

Wer hat die besseren Karten? Die Journalisten oder die Politiker?

Das ist ein ständiger Machtkampf. Sowohl Journalisten als auch Politiker müssen die Regeln kennen und wissen, wodurch man sich Vor- oder Nachteile verschafft und wo die Risiken liegen. Ich halte die politischen Journalisten genauso für Mitglieder der politischen Klasse wie Parlamentarier oder Minister. Die sitzen zwar auf der anderen Seite des Tisches und haben eine andere Funktion, sind aber Bestandteil desselben Systems.

Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass man als Journalist nicht nur über Politik Bescheid wissen sollte, sondern auch über Inszenierung und die Vermittlung von Wirklichkeit. Können Sie diese beiden Begriffe erklären?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor vielen Jahren haben sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Staatspräsident Valery Giscard d'Estaing zum Abendessen verabredet. So nach dem Motto: Weißt du was, Helmut, wir gehen einfach mal im Elsass essen. Ganz ohne Tamtam. Wir setzten uns an einen Tisch, trinken einen schönen Wein und reden mal in aller Stille.« So geschah es auch. Aber um diese Situation herzustellen, wurden Hunderte Polizisten benötigt. Der französische Geheimdienst durchkämmte das elsässische Dorf tagelang. Ein Dorfbewohner war für die Saucen zuständig und sein Bruder für das Sauerkraut. Darüber durften sie aber nicht miteinander sprechen.

Haben Sie das selbst mitverfolgt?

Jemand aus dem Kanzleramt hatte mir davon erzählt und meinte, ich solle mich dort mal umsehen. Leider habe ich das Treffen verpasst und war erst am Morgen danach dort. Der ganze Zirkus war wieder abgezogen und hat das Dorf völlig aufgescheucht zurückgelassen. Der Erste, der mir über den Weg lief, war der Koch. Der hatte einen Wutanfall nach dem anderen, weil in seiner Küche während dieses Abends sieben Geheimdienstleute herumgestanden hatten und nichts pünktlich fertig geworden war. Und die Brüder, die für das Sauerkraut und die Saucen zuständig waren, warfen sich gegenseitig fehlendes Vertrauen vor, weil sie ihre Aufgaben geheim gehalten hatten. Ganze Familien sind daran zerbrochen. Das ist ein Musterbeispiel für Inszenierung. Und wenn heute George W. Bush zu Besuch kommt, geht es noch schlimmer zu: Ganze Städte werden dekoriert, alles und jeder überprüft. Eine Kunstwelt wird erschaffen.

Welche Rolle spielt das Fernsehen bei solchen Inszenierungen?

Für das Fernsehen ist die ganze Welt falsch belichtet, immer zu hell oder zu dunkel. Kein Mensch geht, sitzt oder schaut so, wie er es tun müsste, um im Fernsehen ordentlich auszusehen. Daher muss für die Inszenierung im Fernsehen eine eigene Wirklichkeit kreiert werden.

Alles nur Selbstdarstellung, alles nur schöner Schein?

Inszenierungen und symbolische Rituale können für die Zuschauer auch hilfreich sein, weil sie komplexe Zusammenhänge in Bildern verdichten. Um bei dem Beispiel George W. Bush zu bleiben: Wenn er Angela Merkel in ihrem Wahlkreis in Mecklenburg besucht, ist dies für sie eine Auszeichnung. Außerdem erfährt George W. Bush, dieser Kreuzritter für die Freiheit, von jemandem, der im Reich des Bösen aufgewachsen ist, was Unfreiheit eigentlich bedeutet. Dann lobt Herr Bush, welch blühende Landschaften die Freiheit in Deutschland hervorgebracht hat - so werden politische Märchen inszeniert.

Ist es Ihre Aufgabe als Journalist, diese Inszenierungen zu entzaubern?

Man muss sie nicht entzaubern, man muss sie erklären. Was ich mir wünsche, wäre Medienkunde in der Schule. Damit die Kinder von klein auf lernen, was da eigentlich im Fernsehen passiert. Wer macht was, wie und warum?

Warum umarmt die Kanzlerin zurzeit jeden, der ihr über den Weg läuft?

Ich habe neulich mit einem Minister darüber gesprochen. Er erzählte mir, dass es bei den Leuten unheimlich gut ankomme, wenn sie Klinsmann oder Bush umarme. Aber im Grunde, glaube ich, erheitern sie diese Spielchen nur. Sie ist ja eine kluge Frau.

Was ist Ihr persönlicher Eindruck von ihr?

Bei Auftritten im Fernsehen hatte sie früher immer dieses griesgrämige, undurchsichtige Stasi-Abwehr-Gesicht. Das war Misstrauen pur. Inzwischen kann man bei ihr oft etwas Lausbübisches beobachten. Manchmal ist sie auch mädchenhaft und charmant. Je sicherer sie sich fühlt, desto mehr zeigt sie von sich.

Das klingt sehr facettenreich.

Niemand weiß, woran er bei Frau Merkel wirklich ist. Obwohl viele so tun, als sei das ihre Schwäche, ist es in Wahrheit ihre Stärke. Die Frau wird nach wie vor gnadenlos unterschätzt. Dabei hat sie Kohl abgeräumt, Schäuble abgeräumt, Stoiber abgeräumt, Merz abgeräumt und zu guter Letzt über Schröder gesiegt. Da sieht man, wie blöd Männer sein können, wenn sie an der Macht sind. Sie kann auch witzig sein. Wenn Angela Merkel früher Kabinettssitzungen von Helmut Kohl beschrieb, lagen wir alle unterm Tisch vor Lachen! Auf einer Geburtstagsfeier von Edmund Stoiber hat sie einmal eine Rede auf Russisch gehalten. Keiner hat es verstanden, und alle saßen völlig platt da. So etwas macht ihr großen Spaß.

Warum denken alle, sie sei kühl?

Weil sie sich meist versteckt. Außerdem will der normale Mensch immer nur das sehen, was er ohnehin schon zu wissen glaubt. Das merke ich auch bei meinen Geschichten. Die finden die Leute vor allem dann gut, wenn sie ihre Vorurteile bestätigt sehen. Nehmen wir die USA. Jeder, der schon einmal eine Cola getrunken oder einen Hollywood-Film gesehen hat, glaubt, alles über Amerika zu wissen. Wenn Sie tatsächlich einmal dorthin kommen, passiert Folgendes: Erstens ist in der Tat alles genauso, wie Sie es sich gedacht haben, und zweitens ist alles ganz anders.

Schreibt man dann trotzdem das, was die Leute hören wollen?

Nein. Die meisten Korrespondenten machen den Fehler, dass sie schreiben: >Ach Gott, so haben wir uns das gar nicht vorgestellt, Amerika ist eigentlich ganz anders.< Die Leser fragen sich dann, was für einen Blödmann die Redaktion dorthin geschickt hat. Der hat ja keine Ahnung von Amerika! Sie müssen die Leute da abholen, wo sie sind. Am besten beschreiben Sie Amerika zunächst einmal so, wie die Menschen es sich vorstellen. Erst dann können Sie die Geschichte drehen und sagen: >Huch, was passiert denn hier? Da ist ja noch etwas ganz Anderes.< Anschließend lassen Sie den Leser entdecken, was sich auf den zweiten Blick im Lande abspielt. Das ist bei Politikern genauso. Die Menschen haben ein festes Bild im Kopf, das sich nur ganz schwer ändern lässt.

Was muss ein Politiker tun, um bei Journalisten gut anzukommen?

Alles, was nach Drama aussieht, kommt gut an. Am besten mit Tränen, großen Gefühlen und einem bisschen Shakespeare. Die Leute wollen Helden und Schurken, richtig und falsch, schwarz und weiß.

Was muss man tun, um in die Schlagzeilen der Bildzeitung zu kommen, und was, um im Fernsehen gezeigt zu werden?

Zwischen Bild und Privatsendern ist der Unterschied unerheblich: Man denkt sich irgendetwas aus, womit man Aufsehen erregt. Man malt sich zum Beispiel wie Guido Westerwelle eine 18 unter die Schuhsolen und sagt, wir wollen 18 Prozent der Wählerstimmen bekommen und eine Regierungspartei sein. Und so einer rennt immer noch herum und macht Politik. Um dagegen in die Tagesschau zu kommen, müssen Sie ein gewisses Maß an Seriosität und Ernsthaftigkeit mitbringen.

Könnten negative Schlagzeilen genauso nützlich sein wie positive?

Ja, das ist auch möglich. Es gibt zum Beispiel Politiker, die sich für ihren Parteitag etwas Spektakuläres ausdenken und den Fernsehleuten stecken, dass sie etwas Schreckliches tun oder sagen werden. Das Kamerateam kommt dann zum Parteitag, um das abzufilmen, und nicht etwa, weil dort jemand eine ordentliche Rede hält.

Sie sagten einmal, dass Politik zu über 80 Prozent aus Inszenierung bestehe und das eine Gefahr für den Journalismus sei. Wie sieht diese Gefahr aus?

Inszenierung bedeutet oft: Zuspitzung und Personalisierung. Das sind an sich legitime Mittel, um eine ebenso bedeutsame wie komplizierte Entwicklung zu vereinfachen und zu erklären. Gefährlich wird es dann, wenn die Vereinfachung zum Selbstzweck wird. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ein Minister hat das langfristige Ziel, einen Teil des Verkehrs von der Straße auf die Schiene zu verlegen. Dazu erarbeitet er mit Hilfe seiner verschiedenen Ressorts einen Verkehrsplan. Der eine untersucht das Lkw-Maut-System, ein anderer die für das Ziel notwendigen Investitionen in die Schiene und so weiter. Nun nehmen wir einmal an, der für das Mautsystem zuständige Referent bekommt heraus, dass in diesem Jahr drei Millionen Euro weniger eingenommen wurden als gedacht. Dann landet diese Information nicht nur beim Minister, sondern auch bei der Bildzeitung. Die titelt am nächsten Tag: »Wieder neue Lücke im Verkehrsetat! Herr Minister, schlafen Sie?«

Was ist daran verwerflich?

Die Politik kann eigentlich gar nichts mehr langfristig entwickeln, weil sie bereits in einer frühen Phase durch solche Skandalisierungen ausgebremst wird. Die Medien beißen sich an einem Detail fest und lassen den Gesamtplan außer Acht. Das bringen sie dann in überspitzter Form an die Öffentlichkeit. Es gibt eine ungesunde und bedenkliche Daueraufregung der Medien.

Ist sich der normale Mensch darüber im Klaren?

Die meisten Menschen denken darüber nicht nach. Wenn ich heute mit meinem Buch durch die Gegend reise und den Leuten vorlese, dann gibt es immer die gleichen Diskussionen. Am Ende stimmen alle darin überein, dass es in der Politik zwei Sorten von Schurken gibt: auf der einen Seite die Politiker, die uns betrügen und sich auf unsere Kosten wichtig machen. Und auf der anderen Seite die Medienleute, die mit diesen Politikern unter einer Decke stecken. Die normalen Menschen und ihre Probleme kommen in dieser Weltsicht nicht vor.

Dieser Hang zu Extremen muss auf Nachfrage stoßen, sonst gäbe es ihn nicht.

Genau, deshalb sage ich an diesem Punkt der Diskussion immer: >Was ist mit euch, liebe Bürger? Ihr stellt euch hier als arme Opfer dar. Als wenn ihr nicht die Zeitung kaufen würdet, die euch genau das anbietet. Als wenn ihr nicht die Sender einschalten würdet, über die ihr meckert. Als wenn ihr nicht immer wieder die Politiker wählen würdet, über die ihr euch aufregt.«

Was wäre die Alternative in einer Zeit postmoderner Beliebigkeit?

Richtig ist, dass es keine gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten mehr gibt. Früher war klar, was man zu tun und was man zu lassen hatte. Diese Traditionen und die damit verbundenen Prinzipien und Regeln sind heute alle außer Kraft gesetzt. Daraus folgt, dass jeder Einzelne die Regeln für sein Leben selbst gestalten muss.

Ist das Freiheit?

Ja. Aber Freiheit kann eine Bürde sein, wenn man nicht weiß, wozu man sie nutzen soll. Es gibt keine unumstößlichen Regeln mehr, gegen die man sich auflehnen könnte. Die Freiheit läuft ins Leere. Sie müssen selbst entscheiden, wie Sie sich von all den anderen freien Menschen, die genauso hilflos sind wie Sie, noch unterscheiden wollen. Vielleicht, indem Sie ein anderes Label an den Jeans oder kurze statt lange Haare haben? Fast jeder versucht, seine Individualität in irgendeiner Form zu inszenieren, um der Beliebigkeit zu entrinnen. Und alle suchen nach Sinn.

 

 

JÜRGEN LEINEMANN

Jürgen Leinemann wird 1937 in Celle geboren und wächst im niedersächsischen Burgdorf auf. Nach dem Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie beginnt seine journalistische Karriere bei der Deutschen Presse-Agentur in Berlin, Hamburg und Washington. 1971 wechselt er zum Spiegel. Von 1975 bis 1989 arbeitet Leinemann als Reporter im Bonner Büro des Nachrichtenmagazins und schreibt vor allem Politiker-Porträts und Reportagen. Für einen Text über Hans-Dietrich Genscher erhält er 1982 den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Nach dem Mauerfall wechselt Leinemann 1990 nach Berlin. Von 1998 bis 2001 leitet er dort das Hauptstadtbüro und das Ressort Deutsche Politik des Spiegel. Seit 2002 ist er Spiegel-/4utor im Berliner Büro. 2004 erscheint sein Buch Höhenrausch - Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker.