Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

Cover POP2

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

 

 

 

Das gespürte und das gedachte Ich

„Ich denke, also bin ich”, stellte René Descartes fest. Ist das der Mensch?
Über „Descartes’ Irrtum” schrieb der Neurologe Antonio Damasio ein Buch
und setzte provokativ dagegen: „Ich fühle, also bin ich.”
Der Psychologe Martin Grunwald bestätigt das:
„Wir denken uns nicht selbst, sondern wir fühlen uns.”

2021/2023

Friedrich Nietzsche polemisierte 1886 gegen die „Verächter des Leibes“:
Ich sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich. Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“   (aus: Also sprach Zarathustra)

Schon lange vor Sigmund Freud, vor Albert Einsteins Relativitätstheorie und vor der Katastrophe des Ersten Weltkrieges stand es schlecht um die Selbstgewissheiten der klassischen deutschen Philosophie. Immanuel Kant hatte auf die Frage „Was ist der Mensch“ noch keck antworten können: Ein Wesen, das sich Fragen stellen kann, die letztlich nicht zu beantworten sind. Also ein denkendes Wesen. Das war Metaphysik in der Tradition des Descartes’schen „Ich denke, also bin ich“. Friedrich Nietzsche bezeichnete 1886 Sinn und Geist als bloße „Spielzeuge“, der Leib sei dagegen der wahre „Gebieter des Selbst“. Nietzsche stand damit in der Tradition der radikalen französischen Aufklärer wie Thierry Baron d’Holbach, Denis Diderot oder Julien Offray de la Mettrie.

Die akademische Philosophie nahm das lange nicht wirklich ernst. So konnte Ernst Cassirer auf den „Davoser Hochschulkursen“ 1929 darlegen, dass die symbolischen Formen des Geistes als die Zeichensprache des Menschen die Basis der menschlichen Kultur und damit des Menschen darstellen – den Leib gibt es in dieser Philosophie nicht. Und Martin Heidegger baute seinen philosophischen Machtanspruch auf die kühne These, der Mensch sei als Einzelwesen in sein Dasein geworfen – nur die Philosophie könne ihm die Angst vor seiner Endlichkeit nehmen.

Gegen solche Kopfgeburten besteht Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) darauf, dass „der Leib unser Mittel (ist), eine Welt zu haben“ (Phänomenologie des Leibes, 1966: „Le corps est notre moyen général d’avoir un monde“). Der Leib ist für Merleau-Ponty das „natürliche Ich“, das nur spüren kann, wer sich aktiv „der Welt zuwendet“. Anders eben als der „Körper“, der objektiv erfasst und gemessen werden kann. Einen Körper hat man, während man Leib ist. Der Philosoph der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, bezeichnet den Leib als das, „was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrung gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen.“

Der Mensch ist mehr als sein Leib, er ist ein soziales Wesen.

Was ist „der Mensch”? Die Frage ist falsch gestellt. „Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen“, hat schon Hannah Arendt festgestellt. Der Mensch ist mehr als sein Leib, er ist ein soziales Wesen. Sogar rein biologisch. Der menschliche Körper enthält gut 100 Billionen Zellen, neunzig Prozent der Zellen sind Einzeller, Bakterien, Geißeltierchen und Amöben, die von den Produkten unseres Stoffwechsels leben - in unseren Armen und Beinen, auf unserer Haut, in unserem Herzen und in unseren Gedärmen. Milben haben sich in unseren Nasenlöchern, Würmer im Verdauungstrakt niedergelassen. Mit vielen unserer Bewohner verbindet uns eine Symbiose, andere schmarotzen, einige erregen Krankheiten. Das ist der Mensch, wie ihn der Zürcher Ökologe und Biologe Paul Schmid-Hempel beschreibt. Diese Einzeller, Bakterien, Geißeltierchen und Amöben sind natürlich mit Einzellern, Bakterien, Geißeltierchen und Amöben außerhalb des Körpers vernetzt.

Und was ist die „Welt“? Offenbar auch so ein furchtbares Abstraktum, eine Kreation des Geistes. Durch meinen Leib habe ich Umwelt. Betrachtet man die konkreten leiblichen Sinne, allen voran das Tasten und die oralen Sinne des Schmeckens und Riechens, dann wird aus der abstrakten Welt das konkrete Einverleiben von Nahrung und der konkrete und nahe Mitmensch, dem ich im leiblichen Füreinander-dasein verbunden bin. Am intensivsten wird dieses Füreinander-dasein in der frühkindlichen Symbiose mit der Mutter erlebt, die sich in dem Verschmelzungswunsch zweier Liebender wiederholt. In der Beziehung zur Mutter umfasst diese Symbiose die Nahrung, die der Säugling sich einverleibt. Mit der zunehmenden Distanz zur Mutter muss der kindliche Leib lernen, die Nahrung, die er sich einverleiben will, anderswo zu suchen – das ist die „Welt“ außerhalb des Leibes. Diese Nahrung im Gastmahl in einer Gemeinschaft zu teilen ist daher ein höchster feierlicher Akt des leiblichen Menschen.

Über dem leiblich gespürten Kern-selbst erhebt sich das große kulturelle Gebäude der Gedankenformationen. Das Mentale ist sicherlich ein Teil der Wirklichkeit. Der leibliche Mensch kommt einem Mitmenschen nur selten nahe, der geistige Mensch ist der soziale Mensch. Mit seiner Sprache erhebt sich der Mensch über das Tierreich und Sprache ist Kommunikation, Sprache schafft Gemeinschaft.
Gegen alle Tendenzen, den Menschen auf seine libidinösen Triebkräfte zu reduzieren („Wille zur Lust“) und das Mentale zur Sublimation zu degradieren, betont der Wiener Psychologe Viktor Frankl, dass im „Willen zum Sinn” das Besondere des Menschen liege. Der Mensch will sich durch seine geistigen Kräfte von seiner natürlichen Umwelt abheben, deswegen ist die Metapher von den „Kindern Gottes” so ansprechend. Der Mensch sucht nach Sinn, und wenn es keinen von einer äußeren Autorität festgestellten „Sinn des Lebens“ gibt, muss der Sinn subjektiv konstruiert werden. Mehr als die leibliche Lust verbindet der Sinn den Menschen mit seinen Mit-Menschen, bindet ihn ein in die Gemeinschaft der Menschen. Sinn ist eine selbst gewählte Aufgabe, die auf andere (oder anderes) verweist. Der selbst gewählte Sinn ermutigt den Menschen, jeden Morgen aufzustehen und für das zu leben, was ihn zum Individuum macht.

Jedes individuelle „Ich“ ist ein soziales Ich – mit unbewussten und bewussten Komponenten. Subjekte sind sozial und kulturell geformt. Die Kultur stellt eine „Ordnung des Wissens“ bereit, mit der das Individuum sein gespürtes Ich als etwas Einzigartiges begreifen kann. Kern des sozialen Selbst bleibt ein Verbundenheitsgefühl. Das Individuum sucht in kleinen oder großen Gruppen Geborgenheit, eine kollektiven Identität. Das Bedürfnis nach Verbundenheit ist die Urkraft, die geteilten Überzeugungen können wechseln. Nur das Bedürfnis nach Verbundenheit kann erklären, warum der Einzelne im Zweifelsfall sein Leben riskiert, sei es für die Familie, die Glaubensgemeinschaft, die Nation oder den Rocker-Club. Das Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit ist offenkundig die Basis und Bedingung für ein stabiles, mit sich zufriedenes Selbst, keine Aufklärung über den imaginären Charakter von kollektiver Identität kann das unstillbare Begehren danach auslöschen.

Der Tast-Sinn bleibt der wichtigste Körpersinn. Dank des Tast-Sinnes sind wir uns unserer leiblichen Existenz bewusst: „Wir denken uns nicht selbst, sondern wir fühlen uns“, formuliert der Psychologe Martin Grunwald. Menschen können blind oder taub geboren werden und aufwachsen, überlebenswichtig für die embryonale und frühkindliche Entwicklung ist der Tastsinn. Es ist das biologisch größte und einflussreichste Sinnes-System auch beim Menschen.
Aber auch ohne Gemeinschaft ist der Mensch nicht lebensfähig. Die Einsiedler brauchen zumindest die imaginäre Einheit mit Gott. Die Kommunikation mit der Gemeinschaft passiert in wenigen intensiven Momenten über die Haut, in der Regel aber über die gemeinsame Kultur der Sprache. Leibliches Empfinden und der Sinn für Gemeinschaft hängen unmittelbar zusammen, nicht nur in der Liebes-Beziehung. Wenn ich Bauchweh habe, ist mit nicht nach Gemeinschaft, und wenn ich mit unwohl fühle in einer Gemeinschaft, kann da auf den Magen schlagen.

 

      Siehe dazu meine Texte
      Denken des Leibes, leibliches Denken MG-Link
      Körper haben – Leib sein  MG-Link
      Homo haptikus: Tastende Sinnlichkeit - das gespürte Ich
      MG-Link
      Orale Sinnlichkeit  MG-Link

      und:
      Diderot, Holbach, Rousseau, La Mettrie - Vordenker der Aufklärung
      MG-Link
      Kommunikatives Kraulen  MG-Link
      Food-Medien   MG-Link
      Kommunikation konstruiert Wirklichkeits-Bewusstsein  MG-Link
      Wie kommen Menschen zu Bewusst-Sein?   MG-Link
      Evolution des Bewusstseins   MG-Link
      Sprache der Gefühle   MG-Link
      Reizflut - Zur medizinischen Psychologie und Kulturgeschichte der Reizüberflutung  MG-Link
      Das moderne Ich ohne wir   MG-Link
      Techniken des Selbst   MG-Link