Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

TV-Realität

Fern-sehen, Dabei-sein -
Fernsehen als Erweiterung des Wirklichkeitsbewusstseins

 8-2010

Fernsehen bedeutet dabei zu sein, wo man nicht ist. Fernseh-Direktübertragungen erlauben es, einen historischen Augenblick mitzuerleben. Der Atem der Geschichte weht im Wohnzimmer - man muss nur rechtzeitig auf den Knopf drücken. „Hier wird in unmittelbarster Weise die Verfügbarkeit der Welt und die Aufhebung der raumzeitlichen Bedingtheit durch das technische Medium demonstriert", erklärte der Fernsehspielchef des Süddeutschen Rundfunks, Hans Gottschalk, in den 1950er Jahren.  Solche Überschreitung der irdischen Bindungen in der Vorstellungswelt ist nicht neu, sie war vorher aber eher in Muster der religiösen Kommunikation eingebunden.
Der Soziologe Arnold Gehlen hat 1957 die elektronische Medien-Erfahrung als „Erfahrung aus zweiter Hand“ beschrieben, die die Wahrnehmungswelt der Menschen zunehmend präge und Meldungen zunehmend an die Stelle von erlebten Ereignissen treten lasse. Die Zuschauer suchen in der Unterhaltung Glückserlebnisse und vom Fernsehen verbreitetes Wohlgefühl. Das Fernsehen bietet Teilhabe an einem Ereignisstrom, der als gesellschaftliches Leben empfunden wird und attraktiver ist als der eigene Alltag vor dem Fernsehen: Das „Leben aus zweiter Hand“ vermittelt Lebensfülle, Vielfalt, Bedeutung. „Fernsehen übernimmt Trostfunktionen, stiftet Gefühle, erlaubt Identifikationen mit dargestellten Figuren und vermittelt über die verhandelten Verhaltensweisen auch Wertsetzungen.“ (Knut Hickethier)

Die Integration von Fernsehdarstellungen in die Vorstellungswelten der Subjekte gelingt, weil die Fernseh-Inszenierungen mit einem hohen Realitätsanschein in das Wirklichkeitsbewusstsein im häuslichen Alltag eindringen.   

Die Thematisierung der Privatsphäre, die in den 1950-er und 60-er Jahren im Fernsehen eher „traditionsorientiert“ war, wandelte sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Probleme in den Beziehungen in Ehe oder Kindererziehung wurden offen angesprochener,  Intimleben war nicht mehr tabu, das Fernsehen lieferte psychologische Ratgebersendungen und psychologisch ausgestaltete Rollen, die sich als Vorbilder anboten, in Unterhaltungs-Serien. In den 1950-er Jahren war das Bedürfnis nach unterhaltender Darstellung noch durch Theateraufzeichnungen befriedigt worden. Das Fernsehen verbreitete damit schlicht eine tradierte Form in dem neuen Medium.

In den neuen Fernsehfilmen der siebziger Jahre wurde der Theaterbezug aufgegeben, filmische Darstellungsmittel wie Montage, rascher Ortswechsel sowie Zeitraffung und Zeitdehnung wurden verstärkt eingesetzt und machten die Fernsehfilme „realistischer“.

Der Fernsehkonsum erreichte eine zeitliche Sättigungsgrenze – von 1970 bis 1985 stagnierte die durchschnittliche Sehdauer zwischen 113 und 121 Minuten, erst seit 1990 erhöhte sie sich auf 220 Minuten im Jahre 2005. 1984 nahm das Kabelprojekt Ludwigshafen sein Programm auf und öffnete mit privat finanzierten Sendungen dem Einfluss der Werbeindustrie Tor und Tür. Die Zeitspanne zentraler, staatlich gesteuerter Sendungen, die auf allen Empfängern dasselbe bringen, war vorbei. Die Einführung privatrechtlicher (kommerzieller) Programme führte aber nicht nur zur Vergrößerung des Angebotes, sondern vor allem zu neuen Formaten wie Daily Soaps, Reality TV und TV-Movies und zu einer Konkurrenz um die mediale Inszenierung herausragender Ereignisse. Die neuen Fernseh-Formate präsentierten an Jugend-Cliquen, Kochkurse, Kegelclubs, Kaffee-Kränzchen oder auch einmal Erziehungsberatung. Sie holen weniger „die Welt” ins Wohnzimmer als den Alltag von nebenan.

Fernsehen wird aber, je mehr es „permanent“ angeboten wird, nebenher und zwischen anderen Tätigkeiten genutzt.  Auch das Radio erfährt dieses Schicksal – die Einschaltzeiten vom Radio haben sich seit den 1970-er Jahren kontinuierlich verdreifacht.

Nach einer amerikanischen Untersuchung saß ein Kind den Angaben der Eltern zufolge fast 40 Stunden wöchentlich vor dem TV-Gerät; tatsächlich hingesehen hat es nach den Auswertungen der Video-Aufnahmen des Kindes beim Fernsehen aber nur 3,4 Stunden. Nach Umfragen nehmen rund 35 bis 45 Prozent der Menschen während des Fernsehens Mahlzeiten zu sich, zwischen 20 und 30 Prozent lesen gleichzeitig Bücher und Zeitungen, sprechen mit anderen Familienmitgliedern oder machen Hausarbeiten.

Das deutet auf die tendenzielle Gleichgültigkeit gegenüber den Inhalten hin: Wichtiger wurde es, sich überhaupt ans Fernsehprogramm anzukoppeln und das Gefühl zu haben, bei dem, was im Fernsehen  gerade läuft, dabei zu sein. Das passende Gerät für diese „Teleflaneur"-Nutzung ist die Fernbedienung. Sie macht den Zuschauer von den Intentionen der Programm-Macher und den Plotkonstruktionen unabhängig.  Ein durchschnittlicher Switcher wechselt heute an einen Fernsehabend von vier Stunden oft mehr als 100 Mal die Kanäle, um sich immer wieder neue Augenreize zu verschaffen.

Die medial entwickelte Persönlichkeit - „Aber da ist nichts“

Verona Feldbusch soll nach in einem Interview einmal gesagt haben: „Man versucht dauernd, hinter meine Fassade zu gucken. Aber da ist nichts, ich verstelle mich nicht.“ (So berichtete die Süddeutsche Zeitung am 21.7.1998) Jede Gesellschaft instrumentalisiert Gefühle für kommunikative Zwecke. Je dichter die Kommunikation ist, desto stärker nimmt dieses Rollenspiel, das emotionale „Authentizität“ simuliert, zu und gehört für weite Bereiche der Dienstleistungsgesellschaft zu den „social skills“. Menschen verkaufen ihre Gefühle als essentiellen Teil beruflicher Tätigkeiten, sie leisten damit Gefühlsarbeit: die freundliche Kellnerin, die Empfangsdame, der Arzt, der tagtäglich Mitleid, Trost und Anteilnahme zeigt, der Politiker. Es ist in diesen Berufen gar nicht immer möglich oder nötig, die jeweils geforderten Gefühle tatsächlich auch zu empfinden.

Das tägliche Fernsehprogramm mit seinen Talkshows, Nachrichten und Seifenopern liefert die Leittypen der Gesellschaft. Zuschauer entwickeln „parasozialen Beziehungen“ zu Figuren, die häufig auf dem Bildschirm erscheinen. „Die Regelmäßigkeit des Erscheinens, die Nähe der Wahrnehmung, das scheinbare Anblicken oder Ansprechen (Guten Abend, meine Damen und Herren) geben diesen Medienfiguren eine eigene Existenz, im persönlichen Soziogramm der Zuschauer werden sie zwischen guten Freunden und Nachbarn eingeordnet.“  (Peter Winterhoff-Spurk)  Solche Freundschaften wollen gepflegt werden. So will (nicht nur der jugendliche) der Zuschauer hinsichtlich „seines“ Stars immer auf dem Laufenden sein. Eltern und Lehrer haben ihre Funktion als Vorbilder dagegen weitgehend verloren. Bindungssicherheit kann sich, so Winterhoff-Spurk, bei einer Sozialisation mit medialen Stars nicht entwickeln. 

Das Fernsehen vermittelt heute die gesellschaftlich anerkannten Rollen-Spiele, daneben verlieren andere Institutionen ihre Bedeutung. „Fernsehen ist der gewaltigste Lieferant sozialer Images und Botschaften, den es - historisch gesehen – je gab. Es ist der „mainstream“ der gemeinsamen symbolischen Umwelt, in den unsere Kinder hinein geboren werden und in dem wir alle unser Leben leben“, formuliert der amerikanische Kommunikationswissenschaftler George Gerbner.

Medien-Bilder sind keine Abbilder von Wirklichkeit, sondern kognitive und kommunikative Angebote, die als Medieninszenierungen Teil des Wirklichkeitsbewusstseins und damit der Lebenswirklichkeit werden.

 

    siehe auch die Texte 

    Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur
     
    M-G-Link
    Fernseh-Alltag: Zur Integration des Fernsehens in den Alltag und
       des Alltags in die neue Fernseh-Medienkultur
    M-G-Link
    Die Anfänge der westdeutschen Fernseh-Demokratie M-G-Link
    Joshua Meyrowitz:  Fernsehgesellschaft. Wie das Fernsehen die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts veränderte  M-G-Link