Zur Integration des Fernsehens in den Alltag und des Alltags in die neue Fernseh-Medienkultur
Die Anfänge der Fernsehkultur (in Deutschland)
2016
Die Klage über die Wirkung der bewegten Bilder hatte schon lange vor dem Beginn ihrer Übertragung als „Fernsehen“ alle Register erprobt. Der Schriftsteller Konrad Haemmerling (unter dem Pseudonym Curt Moreck) ging 1926 von dreieinhalb Millionen Kinobesuchern in Deutschland täglich aus - das zeigte, wie populär das Medium Film schon als schwarzweißer Stummfilm war. Haemmerling verwendete die Bezeichnung „homo cinematicus" oder auch „Kinomensch" und klagt: „Wenn ein Menschenkind wöchentlich ein-, zwei-, dreimal ins Kino geht, so wird es schon allein durch die Art der Vorführung, abgesehen vom Inhalt, seelisch zerstört. Mag das Kino noch so anständig sein und ein wohl zensiertes Programm zeigen, die bloße Gewöhnung an die huschenden, zuckenden, zappelnden Bilder der Flimmerwand zersetzt langsam und sicher die geistige und schließlich sittliche Festigkeit des Menschen“. Das Kino wurde für Kriminalität, sexuelle Ausschweifungen und Charakterschwäche verantwortlich gemacht.
Anlässlich der ersten Übertragungsversuche auf einen 4x4-Zentimeter großen Bildschirm, der auf der der „Großen Deutschen Rundfunk-Ausstellung" in Berlin noch mit der Lupe begutachtet wurde, schwärmte die Berliner Illustrierte Zeitung schon 1928 von den „Wundern, die wir vielleicht noch erleben werden: Besichtigung der Welt vom Bett aus durch den Fernseher. Der Apparat über dem Bett dient zum Fernlenken eines Flugzeugs, das die Aufnahmeapparate mitführt und drahtlos Ansichten der Gegend vermittelt, über der das Flugzeug schwebt."
Im Nazideutschland hat Adolf Hitler früh in Anlehnung an die Radio-Übertragungen die Bedeutung des kollektiven Erlebnisses, das die synchrone Ausstrahlung von Filmen bedeutet, erkannt. „Ich wollte nur, alle Deutschen des Reiches könnten in diesem Augenblick Euch, meine deutschen Kameraden, sehen“, erklärte er über Rundfunk, als zehntausende Soldaten im September 1935 in Nürnberg zum Reichsparteitag aufmarschieren. Der Reichsverband der Deutschen Rundfunkteilnehmer setzte sich das Ziel, dass Deutschland das erste Land der Welt werden sollte, „in dem alle Volksgenossen fernsehen“ können: „Es lebe das erwachte und sehend gewordene Deutschland.“
Ein regulärer Fernsehbetrieb wurde weltweit erstmals 1935 im nationalsozialistischen Deutschland aufgenommen - ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Berlin. Man wollte Erster in der Welt sein, den Briten, den Amerikanern, den Japanern voraus, auch wenn noch wenig und nur für wenige zu sehen war: Im Raum Berlin konnten in 28 öffentlichen Fernsehstuben dreimal in der Woche bis zu tausend Personen ein zwei bis drei Stunden langes Programm betrachten. Zuerst die Nachrichten, dann den bunten Abend, zum Schluss Filme, auch Ausschnitte aus einem Spielfilm. Das mechanisch-optische Übertragungsverfahren bescherte dem spärlichen Publikum noch verschwommene Bilder und einen hohen Geräuschpegel. Die Technik war noch nicht ausgereift.
1936 wurden die Olympischen Spiele eröffnet, 16 Tage lang sahen nun immerhin schon 162.228 Besucher der Fernsehstuben und Fernsehtheater 96 Stunden Sportprogramm. Noch war das Radio, der Volksempfänger, das Medium von Goebbels, dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. Hitler hatte per Erlass dem Reichsluftfahrtminister Hermann Göring die Lufthoheit zugesprochen - „mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung des Fernsehens für die Flugsicherung und den nationalen Luftschutz".
Ein Massenmedium wurde das Fernsehen in den 1930er Jahren nicht. 1.800 Reichsmark kostete das 180 Zeilen-Gerät zu Beginn, 1939 immerhin noch 650 Reichsmark: Die Produktion von zehntausend FE1-Modellen war geplant, gerade einmal fünfzig liefen vom Band. Dann mussten Panzer produziert werden. Die insbesondere an Parteigenossen verteilten Fernsehgeräte wurden zurückgerufen und in die Lazarette gestellt. „Wir senden Frohsinn - wir spenden Freude" hieß das Motto des Fernsehprogramms für verwundete Soldaten, das seit 1941 aus dem Berliner Kuppelsaal in die Lazarette des Großraums Berlin übertragen wurde. Schlanke, nackte Frauenbeine für verwundete Männeraugen, kopflose Helden. Ende 1943 zerstörte eine Bombe den Sender.
1942 hatten die NS-Techniker eine ganz andere Verwendung der Fernseh-Technik erprobt: Eine Gleitbombe sollte mit Hilfe der Fernsehtechnik ferngesteuert ins feindliche Ziel gelenkt werden. Eine in die Bombe eingebaute Kamera übertrug die Bilder vom Anflug, der Pilot konnte sie im Cockpit auf dem Bildschirm verfolgen und sollte die Waffe dann präzise platzieren. Das war die Idee. Die Gleitbombe funktionierte aber noch nicht.
1950-er Jahre: Das Fernsehen muss in den Alltag integriert werden
Schon bevor es zur ersten regulären Fernseh-Sendung der Nachkriegsgeschichte kam, wurde insbesondere anhand der Berichte aus den USA und aus Großbritannien das neue Medium heftig diskutiert. Seit 1936/37 gab es Fernsehprogramme in den USA und Großbritannien. Unter der Überschrift „Nickerchen am Fernsehsender“ berichtete zum Beispiel „Anonymus“ im Spiegel 1947 von der sensationellen Manipulationsmacht: „Die BBC ... plante Hypnoseversuche im öffentlichen Fernsehfunk. Man hat dieses Vorhaben indessen wieder aufgegeben. Der Grund: Die Versuche im Studio der BBC übertrafen die Erwartungen bei weitem. Es fielen dabei nämlich viele der Anwesenden in tiefen hypnotischen Schlaf ... durch mittelbare Einwirkung des Hypnotiseurs.“ Im gleichen Atemzug wird berichtet, dass die US-Firma Raytheon Manufacturing Co. Die Nutzbarmachung von „Radiowellen“ für die Hausfrau plane: „Die Raytheon Manufacturing Co. ersuchte den zuständigen Bundesausschuss eine besondere Wellenlänge zu bestimmen, auf der sie mit ihrem 'Radarange'-Gerät drahtlosen Kochstrom senden könne. Die Gesellschaft verspricht, daß eine Wurst in 8 bis 10 Sekunden durch Radiowellen elektrisch gekocht werden kann. [...] Von der Kommission wurde die Wellenlänge 2,450 festgesetzt." Radarange hieß 1947 das erste Mikrowellengerät, es war noch 340 Kilo schwer.
Verbreitet war in der Diskussion die Sorge vor der Krankheit „Televisionitis". Der Spiegel zitierte ein verdächtig altkluges Schulkind aus den USA: „Ich vernachlässige meine Schularbeiten seit wir den Fernsehapparat im Haus haben. Ich esse, während ich dem Televisionsprogramm zuschaue. Es macht mir Magenschmerz, aber ich drehe den Apparat doch jeden Abend wieder auf." (Spiegel, 13.4.1950)
Werner Pleister, der spätere deutsche ARD-Fernsehintendant, warnte 1951: „Unter keinen Umständen darf man (...) das amerikanische Beispiel nachahmen: nämlich von morgens bis abends pausenlos zu senden. Das englische Beispiel muss auch für uns maßgebend sein: Ein Zwei-Stunden-Programm abends muss gestaltet werden und anderthalb Stunde nachmittags.“ Gleichzeitig formulierte Pleister in seiner Fernsehansprache zur Eröffnung des regelmäßigen Programms am 25.12.1952 große Utopien: „Wir denken, dass die Geräte bauende Industrie durch die Herstellung preiswerter Empfänger möglichst viele von Ihnen in die Lage versetzt, uns zuzuschauen, dabei zu sein mit Auge und Ohr, wenn wir Ihnen das große Geschehen der Welt in Ihre Wohnung bringen.“ Das Fernsehen sollte „eine neue Form menschlicher Verständigung“ bringen. Es „kann dazu führen, dass die Menschen einander besser verstehen" und damit „zur Erfüllung der ewigen Hoffnung der Menschheit: Frieden auf Erden" beitragen. (1)
Nach Kriegsende hatte der Nordwestdeutsche Rundfunk in Hamburg bald mit Fernsehprogrammversuchen begonnen. Von 1952 wurde das Programm in Norddeutschland ausgestrahlt, seit 1954 bundesweit zunächst in Ballungsräumen. Gastwirtschaften schafften sich Geräte an, bei den Radio- und Fernsehhändlern gab es auch in den Schaufenstern aus Werbezwecken laufende Geräte. Während in den USA 1953 schon 20 Millionen Fernsehgeräte verkauft waren, startete das Fernsehen in Westdeutschland im Jahre 1953 mit rund 1.000 „Fernsehteilnehmern“. Die Zuwachszahlen waren beeindruckend: 1955 waren schon knapp 100.000 Teilnehmer registriert, 1958 eine Millionen. Zehn Jahre später, 1968, waren 14 Millionen Haushalte in Westdeutschland mit Fernsehern ausgestattet.
Dass anfangs nur wenige Stunden am Tag gesendet wurden, erschien als angestrebtes Idealformat des Fernsehens. Die Sorge um die Wirkungen des Kino-Films wurde auf das Fernsehen übertragen. Eine Ausweitung der Programmzeit galt als Gefahr. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen suchten das Selektionsverhalten der Zuschauer zu steuern. Die beiden großen christlichen Konfessionen hatten eigene publizistische Organe, die über die rechte Programmauswahl berichteten. Der „Fernseh-Dienst" des Katholischen Rundfunkinstituts in Köln (im Auftrag der deutschen Bischöfe) erschien wöchentlich und sollte das angekündigte TV-Programm „religiös sittlich" bewerten.
Als Vorteil des Fernsehens wurde betrachtet, dass es bisher von zentral gesteuerter gesellschaftlicher Kommunikation ausgeschlossene Gruppen (Landbevölkerung, Geringverdienende) ansprechen konnte - das Fernsehen überwindet solche räumlichen und ökonomischen Schwellen, die für die Print-Medien noch bestanden. Hans Bredow hatte schon in den 1920-er Jahren als Rundfunk-Kommissar des Reichspostministeriums vorhergesagt, dass das Fernsehen für „Familien mit niedrigerem Einkommen (...) eine Quelle sonst unerreichbarer Unterhaltung, Belehrung und Information" sei.
Die Krönung von Elizabeth II (1953), der Durbridge-Krimi „Das Halstuch“ 1959 oder Sport-Übertragungen brachten die gesamte Gesellschaft vor den Bildschirm. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 meldete der Spiegel als Nachricht: „die Nation am Fernsehschirm“. Und er dramatisierte: „Fertigungsbänder standen still."
Vor allem der Sport konnte regelmäßig Fernseh-Events bieten, die geeignet waren, verschiedene gesellschaftliche Gruppen vor dem Fernsehgerät gleich zu machen. Zudem entwickelte sich auch eine Fernsehkultur, in der das Ereignis nicht die eigentliche Attraktion der Übertragung war: Das Fernsehen bot vor allem das Erlebnis, dass alle vor dem Fernseher sitzen und dass alle dabei waren. Das war die „Sensation“, der Sinnesrausch. Aus der tristen häuslichen Umgebung war Teilhabe am aufregenden öffentlichen Geschehen möglich. Deswegen muss am kommenden Morgen auch darüber geredet werden, was man abends im Fernsehen erlebt hat.
Während es vor allem im Bildungsbürgertum starke Vorbehalte gegen die „Glotze“ gab, wurde der Erwerb eines Fernsehgerätes zur Statusfrage und zum Ausweis ,modernen Lebensstils', das bald auch Kinder faszinierte: Wer im eigenen Haushalt kein Gerät hatte, fand es bei Freunden oder bei den Großeltern, die sich ein Gerät angeschafft hatten, um damit ihre freie Zeit als Rentner zu bewältigen und oft auch mit den Enkeln gern die Kindersendungen sahen.
Das Öffentliche zog in die Privatsphäre ein – und das Private wurde öffentlich gemacht. „Unsere Nachbarn heute Abend – Familie Schölermann“ war die erste Familienserie im deutschen Fernsehen. Die Serie suggerierte ein „live“-Erlebnis: Man sollte einer realen Familie ins Wohnzimmer zuschauen. Die Handlung spielte um die gleiche Tageszeit wie die Ausstrahlung - abends zwischen 20 und 21 Uhr. Die Ereignisse des Tages wurden im „Wohnzimmer“ besprochen, ohne deren Schauplätze aufzusuchen. Gezeigt wurden die kleinen und großen Sorgen, aber auch Freuden einer deutschen Durchschnittsfamilie, die das Wirtschaftswunder hautnah erlebte. Die vom NWDR produzierte Serie startete 1954 - nur zwei Jahre, nachdem das Fernsehen seinen Sendebetrieb aufgenommen hatte – und brachte es bis 1960 auf insgesamt 111 Folgen. Anfangs wurden die Sendungen noch live gespielt und gesendet.
Das Wohnzimmer als Fernseh-Raum
Nicht unwichtig war in den ersten beiden Fernsehjahrzehnten die Stellung der Zimmerantenne, um ein möglichst optimales Bild zu erhalten. Das Fernsehen war ein Möbelstück für die gute Stube. Der Einzug des Fernsehers ins Wohnzimmer veränderte dessen Nutzung und bald auch die Gestaltung dieses Raumes. Nicht mehr der große Esstisch kann in der Mitte stehen und das optische Zentrum bilden, Sessel und Sofaecke ziehen ein oder werden so angeordnet, dass die Blickrichtung aller sich auf den Bildschirm zentriert. Das Fernsehen versammelte die Familie, aber nicht, damit sich die Familie mit sich selbst beschäftigte, sondern damit sie gemeinsam Fernsehen erlebte. Sehnsuchtsbilder, Bilder von fremden Orten wurden zum allabendlichen Gemeinschaftserlebnis.
Auf dem Lande war traditionell das Wohnzimmer im Bauernhaus weitgehend ungenutzt, der gemeinschaftliche Raum war die Wohnküche. Dort stand das Radio, das neben der Hausarbeit laufen konnte. „Das hat sich verschoben, als mein jüngster, Onkel heiratete“, zitiert Knut Hickethier einen späteren Studienrat über seine Medienerinnerung: „Die fingen dann den Stil der neuen Zeit an. Sie haben Einrichtungsgegenstände gekauft … Ölöfen wurden angeschafft und der Fernseher. Er war auch zu sehr Anschaffungsobjekt, als dass er einfach in die Küchenecke gesetzt wurde. Bei den Leuten aus meiner Familie machte das jedenfalls keiner, da wurde er immer zwischen die feinen Sessel gestellt.“ In dem bis dahin ungenutzten Wohnzimmer „musste geheizt werden, wenn man fernsehen wollte. Die alten Öfen waren dazu aber zu schwerfällig, bei den Ölöfen ging das sehr viel schneller, da musste man nur den Fidibus reinwerfen und schon war es warm. Da setzten sich dann alle vor den Fernseher, und wenn ich zu Besuch kam, saß nur noch mein Großvater mit den (Lese-)Mappen, der Zigarre und dem Tee in der Küche, während mein Onkel bereits bei Rudi Carell hockte. Heute sitzt niemand in der alten Weise in der Küche." Das Fernsehen griff auch entscheidend in die Zeitstrukturen der Zuschauerinnen und Zuschauer ein. Viele Familien richteten sich darauf ein, dass sie beim Fernsehen aßen oder vor dem Beginn der Sendungen fertig waren.
Das Fernsehen hat vor allem Frauen fasziniert, die bisher von der öffentlichen Information stärke ausgeschlossen waren. In ihren „Medien-Lebensläufen" (Alexandra Raumer-Mandel) erzählen bayerische Hausfrauen über die ersten Jahre: „Da hat man alles geschaut, weil's ja neu war." Oder: „Die erste Zeit war es wahnsinnig. Da hast du dich da'rennt. Schnell, das Essen fertig, schnell - tun wir schnell essen - setzen wir uns hin." Und eine Dritte erzählt: „Und da hat uns alles interessiert. Da kann ich ihnen nicht sagen, was oder wie, weil - ob das Kasperl-Theater war oder was anderes war - das war was Neues. Das war sehr interessant. Da hat uns alles, alles interessiert." Das Fernsehen orientierte sich in seiner Anfangszeit an Kino und Theater, seine Nachrichten-Formate an Wochenschau und Zeitung.
Die Gleichsetzung medialer und realer Wirklichkeitserfahrung wurde wie immer kritisiert und als Gefahr gesehen: Der Sozialphilosoph Günther Anders nannte die Fernseh-Bilder „Phantome“ und „Täuschung“ der Sinne. Friedrich Bischoff, von 1946 bis 1965 Intendant des Südwestfunks, formulierte die Sorge, dass „die Sensation des Überall-dabei-sein-Könnens" zum „pausenlosen Betrachten bewegter Bilder" und zur Fragmentierung der Wirklichkeitserfahrung führen könnte.
Wallenstein im Wohnzimmer – „Bildungsfernsehen“ als Ausrede
In den öffentlich-rechtlichen Rundfunkverträgen wurden derweil als Aufgabe des Fernsehens festgeschrieben, Information und Volks-Bildung zu verbreiten. Die Zeitschrift „Fernseh-Informationen“ sah eine „staatspolitische Aufgabe“ darin, durch Übertragungen aus dem Bundestag die „beispielhafte Demonstration der Arbeit des Parlaments" deutlich zu machen. Mit Hilfe des Fernsehens sollten alle die Möglichkeit haben, am bildungsbürgerlichen Wissenskanon zu partizipieren. Radio-Bremen-Intendant Heinz Kerneck berichtete euphorisch von den guten Verkaufszahlen von Stendahls „Kartause von Parma“ im Anschluss an eine Fernsehaufführung. Auch Schillers Wallenstein sei den Menschen durch das Fernsehen näher gebracht worden. Gleichzeitig formuliert er die „Gefahr, dass ,Wallenstein' in die Wohnküche des abgespannten, ermüdeten Menschen kommt, der da mit Hausschuhen und Strickweste bekleidet sitzt, seine Bratkartoffeln und sein Bier konsumiert.“ Er sah die „Gefahr, dass das Kunstwerk den Menschen in einer nicht adäquaten äußeren und seelischen Situation trifft.“
Mit der Hoffnung, mit Hilfe des Fernsehens das Bildungsniveau der Gesellschaft heben zu können, vermischt sich da die Resignation, als deutlich wurde, dass der Zuschauer aufgrund seiner geringen Vorbildung das Bildungsangebot nicht annimmt sich nicht bilden lassen will. Schon in der Lesesucht-Debatte hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts die kulturpessimistische Sicht Ausdruck verschafft, dass Volksbildung und populäre „Lesewut“ nicht mehr den Vorstellungen der Gebildeten über den rechten Gebrauch des Buches entsprach. Die Warnung vor der falschen Mediennutzung bezog sich nun in derselben Struktur auf das neue Medium Fernsehen. Als zentrales Problem wurde die Wahllosigkeit benannt, mit der gesehen wurde - selbst wenn es anspruchsvolle Sendungen überträgt. Der Theaterbesucher entscheidet sich durch den Kauf einer Eintrittskarte zur Rezeption des dargebotenen Programms, der Fernsehzuschauer liefert sich dem Programm aus. So zitierte der Spiegel 1958 die Katholische Nachrichten-Agentur anlässlich einer Kabarettnummer „Dummerchens Hirtenlied“, die das Fernsehen übertrug: „Wer eine Karte für das Kom(m)ödchen-Programm löst, weiß, was ihn erwartet. Ungezählte tumbe Fernsehzuschauer hingegen werden durch ,Dummerchens Hirtenlied' verwirrt." Der dumme Zuschauer ist angewiesen auf die Vorzensur und Selektion des Programm-Direktors. Wesentliches Mittel der Selektion aber ist die Programmknappheit. Solche akademischen Reden waren eher eine bildungsbürgerliche Ausrede und haben auf die Geschichte des Fernsehens wenig Einfluss gehabt. Aufgrund der Nachfrage kam es zur kontinuierlichen Ausweitung Programms. Gelegentlich wurde die Gefahr benannt, die Zuschauer könnten sonst auf das zeitweise umfangreichere Programm des DDR-Fernsehens ausweichen. In Wirklichkeit waren die Bemühungen in umgekehrter Richtung stärker. Vor allem aber forderte die Geräte produzierende Industrie ein Programm, das ihren Absatz steigern konnte. Der Fernsehempfang war Anfang der 1950-er Jahre vornehmlich in den Großstädten technisch möglich gewesen. Schon in der zweiten Hälfte des ersten Fernseh-Jahrzehnts wurden die Versorgungslücken in ländlichen Gebieten geschlossen. 1957 wurde die erste Million angemeldeter Geräte erreicht, dies bedeutete, dass ca. vier Millionen Bundesbürger regelmäßig Zugang zum Fernsehprogramm in ihrem privaten und familiären Bereich hatten. Ende der 1950-er Jahre bildeten sich auch Fernsehgewohnheiten, die die Woche als „Fernsehwoche“ eine spezifische Struktur verliehen. Eine festere Fernseh-Programmstruktur entwickelte sich. 1957 war die 45-Stunden-Woche beschlossen worden, nach und nach setzte sich vor allem im öffentlichen Dienst der arbeitsfreie Sonnabend durch, damit korrespondierte die Zunahme die Freitagabendunterhaltung.
60-er Jahre: Das Fernsehen strukturiert den Alltag neu
Die Politik interessierte sich für das Medium Fernsehen nur insoweit, als es Transmissions-Kanal für politische Botschaften ist. Die Unzufriedenheit der Regierung Adenauer mit der „Linkslastigkeit“ der ARD gab den Anstoß für die Gründung eines zweiten Deutschen Fernsehens. Am 1. April 1963 begann das ZDF die Ausstrahlung seines bundesweiten Programms. Das Fernsehgerät konnte zum Mittelpunk gemeinsamen Lebens in der Wohnung und im häuslichen Alltag werden. Während es in den 1950-er Jahren noch normal war, dass Gäste zum Fernsehen eingeladen wurden, weil Noch-nicht-Besitzer an dem Wunder teilhaben wollten, setzte sich in den 1960-er Jahren die Ausbreitung eigener Geräte durch. 1963 verbrachten 13 bis 14 Millionen Bundesbürger im Durchschnitt ihren Abend vor dem Bildschirm. Die zeitkritische ARD-Sendung „Zeichen der Zeit“ sah die Republik von einer neuen Epidemie ergriffen, dem „Fernsehfieber“. Dieter Ertel und Georg Friedel gingen im Jahr 1963 Symptomen und Auswirkungen der Fernsehleidenschaft unter diesem Titel nach. In der Universitätsstadt Freiburg fanden sie große Skepsis und hin und wieder auch Angst vor der Magie des Mediums, im Ruhrgebiet guckten schon alle stundenlang.
Und diese Zuschauer wünschten schlichte Unterhaltung. Günter Gaus, seit 1965 Programmdirektor des Südwestfunks, akzeptiert dies mit der Begründung, dass sie das Publikums bindet – um mehr geht es nicht mehr: „Die Unterhaltung im Fernsehen hat zuallererst die Aufgabe, ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Unterhaltung nicht auch für eine gewisse Geschmacksbildung sorgen sollte.“ Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit: „An dieser Aufgabe versagen wir oft. Aber mit der Geschmacksbildung ist das so eine Sache. Wenn wir in sehr bescheidenen Ansätzen, Versuche machen, ein bisschen aus der Schablone auszubrechen, dann beweisen uns die Einschaltziffern, dass dieses vom Publikum schlicht abgelehnt wird.“ Gaus sieht keine Handlungsalternative zu dem Versagen: „Das Fernsehen ist ein Massenmedium, da kommen Sie nicht drumherum. Sendungen wie Lembkes Berufe-Raten gehören zum Futter des Fernseh-Molochs." Das Wort „Moloch“ deutet noch eine Distanzierung an, die aber ohne Konsequenzen bleibt.
Der Soziologe Arnold Gehlen hatte schon 1957 die elektronische Medien-Erfahrung als „Erfahrung aus zweiter Hand“ beschrieben, die die Wahrnehmungswelt der Menschen zunehmend präge und Meldungen zunehmend an die Stelle von erlebten Ereignissen treten lasse. Mit der Zunahme des Fernsehkonsums nahmen auch die kulturkritischen Analysen zu – Bücher mit Titeln wie „Die Droge im Wohnzimmer", „Die neuen Medien machen uns krank", „Verschwinden der Wirklichkeit“ oder die „Streitschrift gegen das Leben aus zweiter Hand“ mit dem Titel: „Schafft das Fernsehen ab“ erschienen. Die akademische Kritik war wirkungslos. Der soziale Druck, über Fernsehereignisse mitreden zu können, nahm hingegen in den 1960-er Jahren zu. Dreißig Jahre nach seiner Einführung rückte das Fernsehgerät auf in den Rang einer Lebens-Notwendigkeit und darf heute bei Zahlungsunfähigkeit nicht mehr gepfändet werden.
siehe auch meine Texte Die Faszination des Films an der Wende zum 20. Jahrhundert M-G-Link Die Anfänge der westdeutschen Fernseh-Demokratie M-G-Link TV-Realität: Fern-sehen, Dabei-sein - Fernsehen als Erweiterungsraum der Lebensrealität M-G-Link Joshua Meyrowitz oder: Fernsehgesellschaft. Wie das Fernsehen die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts veränderte M-G-Link
1) Werner Pleister 1952 im Kontext: „Im Strahlungsbereich unserer Sender wohnen über 10 Millionen Menschen. Wir denken, daß die Geräte bauende Industrie für diese Möglichkeit gut vorbereitet ist und durch die Herstellung guter und preiswerter Empfänger möglichst viele von Ihnen in die Lage versetzt, uns zuzuschauen, dabei zu sein mit Augen und Ohr, wenn wir Ihnen das große Geschehen der Welt, die kleinen Dinge des Alltags, die Feste der Kunst und das heitere Lächeln der guten Laune in ihre Wohnung bringen. Wir wünschen uns, daß Sie uns freundlich ansehen und die vielen Menschen und Dinge, mit denen wir Sie nun bekanntmachen können, gern in Ihren Lebenskreis aufnehmen. Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue geheimnisvolle Fenster in Ihrer Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht. Man hat das Fernsehen eine neue Form menschlicher Verständigung genannt. In der Tat: Es kann dazu führen, daß die Menschen einander besser verstehen. Man hat auch die Befürchtung geäußert, das Fernsehen könne dem Menschen schaden, da es im Zuge der Technisierung der Schöpfung sein Leben weiter mechanisiert. Es kommt auf uns an, ob dieses technische Mittel schadet oder nicht. Ich meine, wir könnten mit ihm die Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen vermehren und wir sollten es dazu benutzen, das große Wunder des Lebens im Reichtum seiner Formen und Inhalte anzuschauen und zu erkennen. Das Fernsehen schlägt Brücken von Mensch zu Mensch, von Völker zu Völker. So ist es wohl wirklich das richtige Geschenk gerade zu Weihnachten, denn es erfüllt seine Möglichkeiten erst dann ganz, wenn es die Menschen zueinander führt und damit beiträgt zur Erfüllung der ewigen Hoffnung der Menschheit: Frieden auf Erden!“
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