Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Von der ersten Zeitung
zur Aufklärung

Auszüge aus dem Aufsatz von

Johannes Weber: Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen 1605

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist die Zeit reif für die Entstehung der modernen Zeitung. Als Zeitung bezeichnen wir jenes Druckmedium, das regelmäßig in kurzen Abständen, wenigstens aber wöchentlich erscheint, in verhältnismäßig hoher Auflage zu einem moderaten Preis öffentlich angeboten wird und damit ein ziemlich großes Publikum über wichtige aktuelle Ereignisse und Vorgänge aus aller Welt informieren kann. (...) Demnach sind es vier Komponenten, die das komplexe Medium Zeitung ausmachen: Publizität, Periodizität, Aktualität und Universalität.

Der Entwicklungsprozess, innerhalb dessen diese Komponenten historisch realisiert werden und allmählich aufeinander zustreben, umfasst einen Zeitraum von rund 150 Jahren. In die Mitte des 15. Jahrhunderts fällt die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg in Mainz. Parallel zum aufwendigen Bibeldruck verfertigt Gutenberg eine Reihe von kleineren Akzidenzdrucken, darunter den sogenannten ›Türkenkalender‹ (›Eyn manung der cristenheit widder die durken‹). Mit der Datierung auf das Jahr 1455 und der Herstellung nachweislich im Dezember 1454 handelt es sich um den ältesten datierten Druck überhaupt; zugleich beginnt damit die Geschichte der politischen Presse: Der ›Türkenkalender‹ ist tatsächlich ein pamphletartiger, in Monatskapitel gegliederter Aufruf an alle Fürsten und Herren in Europa, das im Mai 1453 von den Osmanen besetzte Konstantinopel zurückzuerobern.   Mit der Druckerpresse im materiellen und technischen Sinn tritt also sogleich auch die Presse im übertragenen Wortgebrauch in die historische Wirklichkeit und damit das Phänomen der Publizität.  (…)

 … bis 1500 entwickeln sich die Gattungen der Flugschrift und des (illustrierten) Flugblatts; im 16. Jahrhundert tritt die ›Newe Zeitung‹ hinzu, die häufig wichtige politische oder militärische Begebenheiten zum Gegenstand hat. Das Kriterium der Aktualität lässt bei diesen ereignisbezogenen Pressegattungen oft sehr zu wünschen übrig; vor allem aber ermangeln sie noch der für die moderne Presse typischen regelmäßig fortgesetzten Erscheinungsweise, also der Periodizität. Auch Flugblattserien, die in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gelegentlich eine länger währende politische Affäre oder einen bedeutenden Feldzug referieren, stellen noch keine Periodika dar.

Ihr Erstgeburtsrecht liegt bei den sogenannten ›Messrelationen‹. Urheber ist der in Köln ansässige gelehrte politische Schriftsteller Michael von Aitzing, der zur Frankfurter Herbstmesse 1583 eine chronologische, mit erläuternden Zwischentexten versehene Dokumentensammlung der aktuellen reichspolitischen Konflikte herausgibt.  Die Schrift mit dem Titel ›Relatio Historica‹ wird ein Verkaufserfolg, daher verfasst Aitzing eine Fortsetzung zur Frühjahrsmesse 1584. Seit dem Jahr 1588 schließlich erscheinen diese Relationen stetig halbjährlich zu den Messen, was ihnen den Namen verleiht.

Im Laufe der Jahre überschreitet die Berichterstattung allmählich die Reichsgrenzen und referiert fortlaufend alle wichtigen politischen Begebenheiten aus dem europäischen Raum. Die Messrelation ist also das älteste politische Periodikum. Sein bildungsgeschichtlicher Rang besteht darin, dass die Sphäre der politischen Herrschaft nunmehr beständig öffentlich ausgestellt wird und der Prozess des Politischen von einem größeren anonymen Publikum kontinuierlich mitverfolgt werden kann. (…)

Rorschacher Monatsschrift: In der St. Gallener fürstäbtlichen Druckerei zu Rorschach am Bodensee durch Leonhard Straub gedruckt, erschienen die zwölf Ausgaben des Jahres 1597 unter dem Titel ›Historische erzöhlung / der fürnembsten Geschichten vnd handlungen / so in diesem 1597. Jahr / vast in gantzem Europa, denckwürdig abgelauffen.‹ Samuel Dilbaum hat hier die wichtigsten im süddeutschen Nachrichtenzentrum Augsburg einkommenden Nachrichten, nach Ländern geordnet, in chronikalischem Stil kompiliert.

Der Schritt zur periodischen Zeitung mit – nach Maß des historisch Möglichen – unübertreffbarer Aktualität fällt erst ins 17. Jahrhundert. (…)  Zwei Systeme bilden ihr Fundament: die infrastrukturelle Einrichtung der neuzeitlichen Stafettenpost für die schnelle weiträumige Nachrichtenübermittlung und ein entwickeltes briefliches politisches Korrespondenzwesen in europäischem Maßstab.

Die kaiserlich-habsburgische Stafettenpost, die seit 1490 durch die Generalpostmeister aus dem Hause Taxis eingerichtet wird und zunächst nur die Verbindung zwischen Mecheln (bei Brüssel) und Innsbruck, also zwischen den kaiserlichen Erblanden und dem neu gewonnenen Burgund gewährleistet, entwickelt sich im Laufe der folgenden hundert Jahre allmählich zu einem Postnetz, von dessen Knotenpunkten aus auch regelmäßige Verbindungen zu den wichtigen ausländischen Verkehrs- und Nachrichtenzentren bestehen. Auf den im Allgemeinen wöchentlich beschickten Postlinien wird frühzeitig nicht mehr nur die Diplomatenpost besorgt. Vielmehr wird auch der überaus lukrative Transport von privaten Sendungen übernommen, wodurch das Unternehmen der Generalpostmeister Taxis in wenigen Jahrzehnten beeindruckende Dimensionen gewinnt.

In der Zone zwischen staatlicher und privater Dienstleistung bedient die Post alsbald auch ein Gewerbe, das zwar im Horizont politischer Herrschaft seinen funktionalen Ort hat, doch längst darüber hinauswirkt: die »Avisenschreiberei«, also die kontinuierliche Abfassung und Verbreitung von politischen Nachrichtenbriefen.

Dieses Geschäft steht am Ende eines längeren Ausdifferenzierungsprozesses im handschriftlichen Korrespondenzwesen. Schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte es sich eingebürgert, Nachrichten von allgemeinem Interesse, die zuvor innerhalb des Textes von Privatbriefen weitergegeben worden waren, aus dem persönlichen Briefteil herauszunehmen und auf einem gesonderten Blatt oder Zettel (scedula, schedula)  mitzusenden. Dadurch verwandelte sich der spätmittelalterliche »Zeitungsbrief«, der vor allem im Handelsverkehr verbreitet war, zu einer »Briefzeitung«, also zu einem Brief mit einer Zeitungsbeilage. Diese Beilagen konnten aus der Hauptsendung herausgenommen, kopiert und gesondert weiterverbreitet werden. Auf diese Weise entstand ein Nachrichtenmedium mit öffentlichem Charakter, freilich noch von höchster sozialer Exklusivität.

Historische Bezeichnungen für diese politischen »Zettel« waren »New(e) Zeitung«, »Avise«, »Novissima« oder »Tidinge« (= niederdeutsch oder auch angelsächsisch: Nachricht, Zeitung). (…) Nach dem Vorbild der »scrittori d’avisi« auf dem Rialto zu Venedig bildete sich allenthalben ein Stand von Berufszeitungsschreibern (»Zeitunger«), der politische Korrespondenzen unterschiedlicher Herkunft – teils käuflich – bezog, zu einer umfangreicheren Zeitung von einem oder mehreren Bogen zusammenstellte, eine Reihe von Kopien anfertigte und sie im Abonnement vertrieb. Die kaiserliche Post übernahm nun im Verlauf des 16. Jahrhunderts in zunehmendem Maß den Transport dieser Nachrichtenbriefe, wodurch unwillkürlich – im Rhythmus des Postlaufes – das erste politische Periodikum von damals unüberholbarer Aktualität entstand: die handschriftliche Wochenzeitung.

Um das Jahr 1600 ist diese Gattung des politischen Informationswesens überall etabliert und konventionell geworden. Theoretisch hätte deshalb auch schon früher jene Konstellation eintreten können, die erst im Jahr 1605 zu einem weiteren, nunmehr epochalen qualitativen Sprung in der Pressegeschichte führte.

Allerdings ist bei geschichtlichen Neuerungen solcher Art stets mit einem gewissen Maß an Zufälligkeit und zeitlichem Spielraum zu rechnen. Innovationen treten zwar unweigerlich ein, wenn sowohl die materiellen und technischen Voraussetzungen als auch ein vitales ökonomisches und soziales Interesse gegeben sind, doch das präzise Datum und die konkreten Umstände der Realisierung sind nicht prognostizierbar.

Die Geburt der modernen Zeitung vollzieht sich nachweislich im Herbst 1605, und zwar an der politischen Peripherie des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, im elsässischen Straßburg. Für die Historiographie ist es ein besonderer Glücksfall, dass sich eine Geburtsurkunde erhalten hat, die den Akt in vollkommen unmissverständlicher Weise dokumentiert. Es handelt sich um eine »Supplication«, eine Bittschrift also, die der junge Buchhändler, Zeitungsschreiber und Druckereiinhaber Johann Carolus an den Rat der Stadt richtet. Ziel seiner Eingabe ist es, die »Freyheit« – also ein Privileg, und das heißt: ein örtliches Herstellungsmonopol – für ein neuartiges Produkt seiner Presse zu erhalten. Carolus berichtet einleitend: »Nach dem Ich vor dißem die Wochentlichen gewissen Avisen (handschriftliche Nachrichtenbriefe, J. W.) An mich gebracht / hab Ich Zu etwas ergötzlichkeit (Entgelt, J. W.) des uncostens / so Ich Jährlichen darfür Außlegen / unnd Anwenden muß / dieselbigen ettlichen herren / umb ein gewiß Jahrgelt Alle wochen bißhero communiciret unnd mitgetheilet / Dieweil es aber mit dem Abschreiben langsam Zugangen / unnd vil Zeit darmit Zugebracht werden müßen / Unnd Ich aber vor der Zeit weylandt Thobiae Jobins seligen Truckerey hoch unnd theuer an mich erkaufft / dieselbige mit nicht geringem uncosten / Inn mein hauß gerichtet unnd Angestelt / Als hab Ich nun ettliche wochen her / unnd jetzt das zwölffte mahl / gleichwol nicht ohne sondere mühe / Inn dem Ich Jedes mahl die formen von den Pressen Außsetzen muß / Aber allein Zu befürderung unnd gewinnung der Zeit / Inn meiner Truckerey dieselbigen (die Avisen, J. W.) setzen / ufflegen unnd trucken laßen.«

Wie wir hören, vereinigte Johann Carolus in seiner Person jene professionellen Tätigkeitsfelder, die bisher getrennt voneinander existiert hatten: die Druckerei als Technik des massenhaften Kopierens identischer Texte und die entwickelte Form der periodischen Zeitungsschreiberei. Die Kombination von beidem, also die Reproduktion der handschriftlichen wöchentlichen Nachrichtenbriefe mittels der Druckerpresse, bringt die revolutionäre Neuerung der modernen Zeitung hervor.

Carolus hat offenbar keine Vorstellung von der Reichweite seiner Erfindung gehabt. Seine trockene Schilderung gibt zu erkennen, dass ihn nicht der Hauch einer journalistischen Idee bewegte. Er verstand sein Geschäft weiterhin - wie bei der Avisenschreiberei - als reines Dienstleistungsgewerbe im Horizont vordemokratischen Herrschaftsinstrumentariums. Ihm ging es als nüchternem Unternehmer allein um die betriebswirtschaftliche Rationalisierung und Effektivierung seines Gewerbes - »zu gewinnung der Zeit«, weil es »mit dem Abschreiben langsam Zugangen«. Als findigem Kopf wird ihm auch bewusst gewesen sein, dass die Umsetzung der handschriftlichen Zeitungen in den Druck die Chance auf eine bedeutende Auflagen- und Absatzsteigerung eröffnete. Es hätte kaum Sinn gehabt, die einlaufenden Nachrichten in den arbeitsaufwendigen Satz und Druck zu geben, wenn dann weiterhin nur 15 bis 20 Zeitungsexemplare vertrieben worden wären. Das nämlich war im Avisengeschäft bisher die allwöchentliche Leistung, die eine Schreiberhand bewältigen konnte. Der Bezug einer handschriftlichen Zeitung war entsprechend teuer und einem exklusiven Abnehmerkreis vorbehalten gewesen – nur eine relativ kleine Gruppe zahlungskräftiger »Herren« kam als Publikum in Frage.

Das Medium “handschriftliche Wochenzeitung” verfügte also noch nicht über die Qualität unbeschränkter öffentlicher Zugänglichkeit und damit allgemeiner Publizität. In dem Augenblick jedoch, in dem mittels der Druckerpresse jede Woche einige hundert Zeitungen auf den Markt geworfen werden konnten, führte die massenhafte Reproduktion zu einer drastischen Senkung der Stückkosten und zu einem qualitativen Sprung. Das teure, elitäre handschriftliche Medium im Herrendienst wurde sozusagen lautlos abgelöst von einem relativ preisgünstigen, öffentlich zum Verkauf stehenden und für viele Leser zugänglichen Nachrichtenträger. Damit wurde erstmals in der Geschichte die Haupteigenschaft eines modernen politischen Mediums Wirklichkeit: die allgemeine Publizität regelmäßiger aktueller Information.

Johann Carolus … druckte im Rhythmus der wöchentlich eintreffenden Post – und damit unüberbietbar schnell nach dem historischen Stand des Transportwesens – die jeweils neuesten Nachrichten aus der gesamten bekannten Welt. (…) Die politischen Korrespondenzen (gingen) unverändert in Satz und Druck, wie Carolus bemerkt: “ohn einigen Zusatz / unnd Anderst nicht / das wie sie geschriben hieher khommen”. Dieser Formel werden auch die späteren Zeitungsunternehmen folgen. Sie dient dem Schutz gegenüber möglichen Vorwürfen unwahrer oder anstößiger Berichterstattung und zeigt präzise das Ethos des Gewerbes: Die Zeitung hat ihrer Wahrheitspflicht genügt, wenn sie die einkommenden Meldungen unverändert wiedergibt; eine Prüfung des sachlichen Wahrheitsgehalts ist nicht die Sache des Zeitungsdruckers.(…)  Auf vier, später auch acht kleinformatigen Seiten (in Quart oder Oktav) findet sich eine Anzahl von Nachrichtenblöcken, meist mit vorangestellter Verzeichnung von Korrespondenzort und –datum. Die Reihung der Blöcke folgt keinem redaktionellen Schema, sondern spiegelt den Posteingang der Korrespondenzen zwischen den Druckterminen.

Kommentare zu den Nachrichten wird man vergebens suchen. Erst Ende des 17. Jahrhunderts finden sich in einem Hamburger Blatt, und zwar in der ›Relation aus dem Parnasso‹, die 1687 gegründet wurde, Ansätze zu einem Leitartikel und damit zu einer »räsonierenden«, das heißt: kommentierenden, diskutierenden, vorsichtig wertenden Berichterstattung. Diese Anfänge eines meinungsbildenden Journalismus in einer politischen Zeitung verdanken sich der spezifischen Hamburger Presselandschaft, in der die Konkurrenz mehrerer bereits bestehender Blätter zu publikumswirksamen Neuerungen herausfordert. Der frühe Hamburger Versuch einer räsonierenden Zeitung vermag jedoch keine Schule zu machen und bleibt bis in die Zeit der Französischen Revolution eine avantgardistische Ausnahme.  (…)

Die schmucklose, gleichsam »nackte« Erscheinung der frühen Zeitung repräsentiert und dokumentiert ihren Ursprung: Von der handschriftlichen »Avise« unterscheidet sie sich durch nichts als den Druck. Diese wie jene enthält fast ausschließlich trockene politische, diplomatische und militärische Lageberichte, und zwar aus der gesamten bekannten Welt. Nur gelegentlich sind Meldungen unpolitischer Art eingestreut, über ungewöhnliche Witterungsverhältnisse, Naturkatastrophen, Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Hungersnöte, Großbrände, Aufsehen erregende Kriminalfälle oder Wunderzeichen. Nur ausnahmsweise finden sich “Tatarennachrichten”, die auf Staunen, Aberglauben, Furcht und Mitleid im Publikum zielen, alte Wanderanekdoten sensationellen Gehalts etwa, die als neue authentische Meldungen angeboten werden – unter Verzeichnung eines unverfänglichen Herkunftsortes und eines aktuellen Datums. (…)
Spektakuläres und Wunderbares sind dagegen auch im 17. Jahrhundert noch Domänen des oft – seit Sebastian Brants ›Donnerstein von Ensisheim‹ (1492) – illustrierten Flugblatts und der nichtperiodischen »Newen Zeitung«. In der Presselandschaft des 17. Jahrhunderts übernehmen also die verschiedenen Gattungen komplementäre Funktionen; die Integration dieser unterschiedlichen Funktionen in die Zeitung wird erst im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich einsetzen. (…)

Die »Gelehrtenrepublik«, der Kreis der Akademiker, hatte bis in die letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts keinen aktiven Anteil am Zustandekommen gedruckter Zeitungen. Wohl figurierten oft Hochgebildete Staatsbeamte, Juristen, Militärs oder Privatleute als Korrespondenten, früh auch wurden die gedruckten Nachrichtenblätter von den Gelehrten genutzt. Doch die Verfertigung des Mediums selbst blieb eine Sache der Druckoffizin und des sub- oder nichtakademischen Dienstleistungsgewerbes.  (…)

Des Carolus’ zündende Idee fiel in eine Zeit, in der das Bedürfnis nach aktueller politischer Information im Raum Europa dramatisch anstieg. Die Zeichen der internationalen Politik standen zu Beginn des 17. Jahrhunderts bekanntlich auf Sturm und beförderten die allgemeine politische Aufmerksamkeit und Wissbegierde. Mit dem Beginn jener verschränkten Sequenz von dreizehn Kriegen im Jahr 1618, die wir heute als »Dreißigjährigen Krieg« bezeichnen, wurde es schließlich vielerorts sogar existenznotwendig, über die politischmilitärischen Vorgänge auf dem Laufenden zu sein, zumal aufgrund der kompliziert verwickelten politischen und dynastischen Verhältnisse geographisch scheinbar fern liegende Konflikte binnen kurzem Auswirkungen in nächster Nähe verursachen konnten. Zwar war die Zeitung kein eingeborenes Kind des Krieges, doch ihren historischen Durchbruch und ihre rasche Verbreitung erfuhr sie im Zusammenhang der militärisch eskalierenden Konflikte jener mitteleuropäischen Katastrophe.

Hierzu einige Daten: Nach der Straßburger Zeitung von 1605 erscheint im norddeutschen Wolfenbüttel im Jahr 1609 die zweitälteste Zeitung der Welt. Weitere Blätter entstehen 1610 in Basel, 1615 in Frankfurt am Main, 1617 in Berlin und 1618 in Hamburg. Nach dem »Prager Fenstersturz«, der den Beginn des großen Krieges markiert, kommt es zu einer regelrechten Welle von Zeitungsgründungen. (...)  Am Ende des Jahrhunderts zählt man schließlich rund 60 parallel erscheinende Zeitungen.

Diese Zahlen beziehen sich auf die deutschsprachigen Blätter im Reichsgebiet, in der Schweiz , in Dänemark und im baltischen Raum. Das bedeutet: Es gab im 17. Jahrhundert auch in Kopenhagen, Riga und Reval, ja sogar im russischen Narva, deutschsprachige Zeitungen. Blickt man auf die Karte Europas, so ist die deutsche Zeitungslandschaft im 17. Jahrhundert mit Abstand die vielfältigste. Die große Anzahl von Blättern korrespondiert mit der territorialen und politischen Zersplitterung des Reichs, mit dem dezentralen Staatengefüge. Es verfügen also im Lauf der Zeit alle Territorialstaaten und sehr viele, auch kleinere Reichsstädte über ein eigenes Blatt. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Zeitungen Straßburgs, Wolfenbüttels, Basels, Frankfurts und Berlins, alle gegründet bis 1617, die ältesten periodischen Nachrichtenblätter in Europa darstellen.

Die erste nicht deutschsprachige Zeitung erscheint im Jahr 1618; es ist die niederländische „Courante uyt Italien, Duytsland, &c.“ aus Amsterdam in den protestantischen Generalstaaten. Die Spanischen Niederlande verfügen seit 1620 über ein Blatt, es kommt in Antwerpen heraus.  (…)  Frankreich, nicht weniger zentralistisch als England, hat gar erst ab 1631 eine regelmäßige politische Zeitung. Es ist die Pariser ›Gazette‹ des Theophraste Renaudot – eine Art halbamtliches Blatt von Kardinal Richelieus Gnaden. Er, einer der ersten modernen europäischen Machtpolitiker, hat also frühzeitig auch den politischen Rang und die propagandistische Nutzbarkeit des neuen Mediums erkannt. (…)

Die Versorgung des Publikums mit aktuellen politischen Nachrichten ist im deutschen Reich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts flächendeckend geworden. (…) Seit den 1630er Jahren erschienen immer mehr Zeitungen nicht nur in wöchentlichem Abstand, sondern zwei- oder dreimal pro Woche. Im sächsischen Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum Leipzig sind aus den Jahren 1636 bis 1643 die ›Einkommenden Wochentlichen Zeitungen‹ überliefert, die im Durchschnitt schon wöchentlich fünfmal  ausgegeben wurden. Daher ist wenig verwunderlich, dass Leipzig wenig später zum Geburtsort der ältesten Tageszeitung der Welt geworden ist. Seit dem 1. Juli 1650 gab hier der Drucker  Timotheus Ritzsch ein Blatt mit dem Titel ›Einkommende Zeitungen‹ heraus, das wöchentlich sechsmal erschien. (…)

Die durchschnittliche Auflage der Zeitungen im 17. Jahrhundert ist mit 350 bis 400 Exemplaren anzusetzen. (…)  Nach besonders optimistischer Schätzung haben die Blätter regelmäßig 200000 bis 250000 Leser erreicht; das entspräche 20 bis 25 Prozent aller damals Lesefähigen von ca. 1 Million – bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 15 Millionen. (…) Das Gros der Leser dürfte in der Schicht wohlhabender Stadtbürger zu suchen sein. (…) Der Preis für das Jahresabonnement einer wöchentlichen Zeitung … entsprach ungefähr dem Wocheneinkommen eines Handwerksgesellen an der Spitze der Lohnskala.  (…) Ein weiterer Grund für die Mutmaßung, die frühe Zeitung sei wenig attraktiv für ein größeres Publikum gewesen, könnte darin gesehen werden, dass die Berichterstattung vor allem Vorgänge aus der großen internationalen Politik zum Gegenstand hatte.

Dagegen blieb das Lokale und Regionale, das den Lebensbereich des Lesers unmittelbar berührt hätte, vollkommen ausgespart. Hierfür sind zu dieser Zeit örtlich noch andere, meist orale Medien zuständig, vor allem die Kanzel. (…) Die Faszination des Neuen und Fernen scheint also vorhandene Verständnisdefizite überspielt zu haben.

(…) Dem Charakter der überlieferten Blätter ist zu entnehmen, dass sie über den Beginn des Dreißigjährigen Krieges hinaus zunächst vollständig frei von politischen Bedenklichkeiten, Einflussnahmen und Neigungen geblieben sind. Ihre Gestalt unterscheidet sich von den älteren “intimen” handschriftlichen Zeitungen tatsächlich durch nichts als durch den Druck. Die Berichterstattung zeichnet sich weiterhin durch jene filterlose Offenheit und Unparteilichkeit aus, die im Interesse der älteren Klientel der politischen Herrschaftsträger und Administratoren lag.  (…)

Aus der Garde der politisch scharfsinnigen Gelehrten ist es der Tübinger Juraprofessor Christoph Besold, der erstmals, im Jahr 1629, davon spricht, dass Zeitungen die öffentliche Meinung verändern könnten: “Die neuen Zeitungen verbreiten aber nicht bloß Torheiten, sondern bisweilen auch pseudopolitische Geheimnisse. (...) Es werden Siege ausgesprengt, die Gegenseite wird niedergedrückt, Niederlagen werden erfunden, um das Volk (...) kopflos zu machen, damit es für diese oder jene Partei eintrete.”  (…)

In den Erzbastionen der feindlichen Lager finden sich allerdings auch schon Vorläufer der modernen »Parteiblätter«. Dazu rechnet das bereits genannte ›Wiener Blättl‹ des Matthäus Formica, das sich als eine Art halbamtliches katholisch-kaiserliches Organ geriert. Das protestantische Gegenstück repräsentiert – nicht zufällig außerhalb des Reichs – die Züricher ›Newe Vnpartheysche Zeitung vnd Relation‹ aus der Offizin Wolf (später: Bodmer).  (…) In den reichsstädtischen Zeitungen mit gemischtem konfessionellen und politischen Umfeld wird dagegen weiterhin nach beiden Seiten hin Zurückhaltung geübt; die Berichterstattung verharrt weitgehend in trockener Sachlichkeit und wird von Korrespondenten unterschiedlicher Provenienz bedient. Der Zeitungsherausgeber meidet dadurch Konflikte und nützt seinem Verkaufsinteresse. (…)

Recht spät erst meldeten sich im deutschen Sprachraum einige Kritiker zu Wort, die grundsätzliche weltanschauliche Einwände gegen die längst etablierte Gattung vorbrachten. 1676 veröffentlichte der Rudolstädter Hof- und Justizrat Ahasver Fritsch einen ›Discursus de Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge / hodierno usu et abusu‹ (= ›Abhandlung über den gegenwärtigen Gebrauch und Missbrauch der Nachrichten, die man neue Zeitungen nennt‹).  Drei Jahre später folgte der Rothenburger Superintendent Johann Ludwig Hartmann mit einer gedruckten Predigt über ›Unzeitige Neue=Zeitungs=Sucht / und Vorwitziger Kriegs=Discoursen Flucht‹. Beide Autoren erblickten in den Zeitungen ein Teufelszeug, geeignet, beim Leser die Laster der Neugierde und der Anmaßung zu befördern. Im Interesse der hergebrachten Ordnung seien Privatpersonen, vor allem aber der einfache Mann, von der Kenntnis des politischen Tagesgeschehens fernzuhalten. Solche konservativen, christlich-ständische Stimmen blieben freilich ohne merkliche Resonanz. Sie waren angesichts der Verbreitung und unumkehrbaren Etablierung des Zeitungswesens bereits anachronistisch und konnten sich gegen die gelehrten Apologeten des neuen Mediums nicht mehr durchsetzen.

Schulmänner wie Jan Comensky (Johann Amos Comenius) in Böhmen, Christian Weise am Beamtengymnasium Zittau und Daniel Hartnack vom Gymnasium Altona nutzten und empfahlen die Zeitungen für historisch-politische, geographische und sprachliche Bildungszwecke. Anfängliche Bedenken, dass die sozial uneingeschränkte Publizität der Zeitungen Gefahren berge, spielten eine immer geringere Rolle. In ›Zeitungs Lust und Nutz‹, dem ersten Lehrbuch der Zeitungskunde aus dem Jahr 1695, mochte Kaspar Stieler grundsätzlich keinen Stand mehr von der Zeitungslektüre ausschließen. Sie sei nicht nur nützlich für Regenten, adelige Herren, Kaufleute, Militärs, Kleriker, Akademiker, Schulmeister, Dorfschulzen und Frauenzimmer, vielmehr könnten auch »gemeine Bürger und Handwerksleute«, ja sogar Bauern, »zur Bewahrung vor Schaden nützliche Lehren« aus den Zeitungen ziehen. Stieler unterstützte diese Auffassung praktisch, indem er seinem Lehrbuch ein Lexikon mit über 1600 Stichwörtern beigab. Es diente der »Erklärung Derer in den Zeitungen gemeiniglich vorkommenden fremden und tunkeln Wörter: denen zu Liebe / so kein Lateinisch noch andere Sprachen verstehen«. Mit dieser Haltung stand Stieler an der Schwelle zur künftigen Epoche der bürgerlichen Aufklärung. In entscheidender Hinsicht überschritt er allerdings diese Schwelle nicht. Auch er hielt noch daran fest, dass es den Zeitungsschreibern zu verwehren sei, »einen Senf« über das Berichtete herzumachen: »Denn man lieset die Zeitungen darüm nicht / daß man daraus gelehrt und in beurteilung der Sachen geschickt werden / sondern daß man allein wissen wolle / was sich hier und dar begiebet.« (…)

Tatsächlich verhinderten die Zensur und das Privilegienwesen bis tief ins 18. Jahrhundert, fast bis ins Zeitalter der Französischen Revolution, dass sich die politisch informierenden Nachrichtenblätter zu politisierenden, meinungsbildenden Zeitungen entwickelten. 

Die Entfaltung der überregionalen »politisch räsonierenden Öffentlichkeit«  seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vollzog sich nicht innerhalb des Mediums »Zeitung«. Vielmehr nahm die Entstehung der bürgerlichen, räsonierenden Öffentlichkeit einen Umweg über eine andere periodische Pressegattung, deren Ursprung auf die 1670er Jahre zurückgeht: das historisch-politische Journal als Frühform der politischen Zeitschrift. Als Prototyp kann der ›Verkleidete Götter=Both Mercurius‹ des Nürnberger Druckers Wolff Eberhard Felsecker gelten. Felsecker gab seit Herbst 1673 die erste gedruckte Zeitung der Stadt heraus, den ›Teutschen KriegsCurrier‹. Parallel dazu erschien in den Jahren 1674/75 in vier Folgen der ›Götter=Both‹. Darin wurde auf der Grundlage der Meldungen im ›KriegsCurrier‹ die europäische Politik des jeweils abgelaufenen Vierteljahres diskutiert. Die älteste politisch räsonierende Zeitschrift, die durch ihren monatlichen Erscheinungsmodus vorbildgebend wurde, erschien dann im Jahr 1683 bei Matthäus Wagner in Ulm. Der Umfang solcher Journale war beträchtlich, er lag zwischen 40 und 200 Seiten. Entsprechend hoch war der Preis. (…)

Unterhalb der Ebene der politischen Inhalte dürfte die  mentalitätsgeschichtlich umwälzende Wirkung des neuen Periodikums noch weit profunder gewesen sein. Es ist nämlich die Eigenart des periodischen Mediums selbst, und nicht die konkrete Nachricht, die vor allem an den legitimatorischen Wurzeln vorbürgerlicher Herrschaftspraxis und –darstellung nagt. Marshall McLuhans Einsicht und berühmte Sentenz aus dem Jahr 1964 »The medium is the message« trifft in eminentem Maße auch auf die frühe periodische Zeitungspresse zu: Noch im 16. Jahrhundert waren über die nicht-periodische Presse, durch »Newe Zeitungen«, Flugblätter und Flugschriften, nur sensationelle und hervorragende politische Ereignisse in eine breite Öffentlichkeit gelangt. Die Akteure erschienen dadurch im Glanze des Besonderen und Höheren, was der staatsrechtlichen Legitimation »von Gottes Gnaden« entsprach. Die langwierigen nüchternen Prozesse des Politischen waren dagegen den Untertanen zu jener Zeit noch völlig verborgen geblieben.

Mit dem Aufkommen der aktuellen periodischen Nachrichtenpresse findet nun eine Art Quantensprung statt. Erstmals wird das Politische als mühsames Alltagsgeschäft präsentiert, in Zeitlupe, kleinteilig durch die Berichtsschritte von sieben oder weniger Tagen. Zugleich ebnet die internationale politische Berichterstattung in der Wahrnehmung des Lesers Unterschiede im Rang des Eigenen und des Fremden ein. Die Händel der Großen aller Länder, des angestammten Fürsten wie aller anderen, ob Christ oder Muselman, alle diese Konflikte erscheinen in gleichem Licht und in sehr irdischer Dimension. Das politische Geschäft erweist sich als ewiges gleichförmiges Umwälzen des gleichen Steins. Damit aber wird diese Sphäre auch dem gewöhnlichen Verstand und dem kritischen Auge des Untertanen zugänglich. Und hier befinden wir uns mentalitätsgeschichtlich, im Hinblick auf die Wahrnehmung des Politischen, an der Schwelle zur Aufklärung.

(…) Der Mentalitätswandel, den das neue Medium befördert, korrespondiert im Übrigen sehr genau mit der sedimentierten Realienerfahrung der mitteleuropäischen Bevölkerung aus der Epoche des Dreißigjährigen Krieges. Durch seine pragmatischen Koalitionen wie durch seine unterschiedslosen Verheerungen im eigenen wie im fremden Land wurde nicht nur eine konfessionelle, sondern überhaupt eine höhere religiöse Legitimation von staatlicher Kriegsführung ein für allemal diskreditiert und erledigt. Fortan folgen in Europa Politik und Krieg ausdrücklich der Staatsräson, also einem nüchtern-niederen weltlichen und materiellen Interesse. 

Kommunikationsgeschichtlich gesehen popularisieren die Nachrichtenblätter des 17. Jahrhunderts diesen einschneidenden Wandel der politischen Funktionsstruktur und der staatlichen Legitimation von Gewaltanwendung durch das endlose, detailgenaue, säkulare Referat von Herrschaftshandeln.

Der Preis dafür ist, dass sich seine Akteure schließlich selbst vor einer rational eingestimmten Öffentlichkeit für ihre Taten kritisieren lassen müssen. Hier beginnt das Zeitalter der Aufklärung. Sogleich aber tritt, wie nicht anders zu erwarten, der Kampf um die öffentlichen Medien zur Durchsetzung der »richtigen« Interpretation des politischen Geschäfts in ein neues Stadium. Die Schere des staatlichen Zensors wird allgegenwärtig. Und im Wechselstreit allseitiger Einflussnahme verschwimmt schließlich die Grenze zwischen Belehrung und Manipulation, zwischen Information und Desinformation. Damit sind wir in der medialen Moderne angekommen, während die »unpartheyliche« subjektlose Presse des frühen 17. Jahrhunderts unwiederbringlich der Geschichte angehört.

Vollständiger Titel: Johannes Weber: »Unterthenige Supplication Johann Caroli / Buchtruckers«
Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605
(Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 38, Frankfurt am Main 1992, S. 257-265
abrufbar unter http://www.presseforschung.uni-bremen.de/Weber-Supplik.pdf