Vernetzte Multimedia-Computer als umfassendes Medium
2008
„Willkommen in einer virtuellen Welt!” begrüßte Lev Manovich 1996 die Leser in seinem Aufsatz „Virtuelle Welten”. Er war seiner Zeit um einige Jahre voraus. „Schlüpfen Sie in Ihren Avatar! Haben Sie keine Erfahrung oder nicht die Zeit, sich einen eigenen zu gestalten? Kein Problem. Wir haben eine ganze Bibliothek an vorgefertigten Masken; eine wird Ihnen perfekt passen. Schließen Sie sich der Gemeinschaft ähnlich denkender Benutzer an, die darin übereinstimmen, daß der dreidimensionale Raum mehr Sex besitzt! Ja, es gibt nichts Befreienderes, als durch eine 3D-Szene zu fliegen, gefährliche Manöver auszuführen und auf die Jagd zu gehen.” Außerhalb der elektrischen Welten gibt es keine Existenz mehr. Provozierend formulierte er das Credo der neuen Spezies Avatar: „Ich kann angeklickt werden, also bin ich."
Der Computer und das Internet vereinen die elektrischen Medientechniken des 21. Jahrhunderts mit den elektronischen Speicher- und Verbreitungsmedien des 20. Jahrhunderts: Wir erleben die Vollendung der zweiten Medienrevolution, die Entstehung eines umfassende Mediums, das Ton, Bild, und Schrift integriert und gleichzeitig die für die überkommenen Massenmedien des 20. Jahrhunderts typische technisch bedingte Trennung von „Sender“ und „Empfänger“ aufhebt.
Rückblende: Die Schriftkultur hatte den Rezipienten idealtypisch zu einem diszipliniert schweigenden, gebildeten und denkenden Individuum gemacht. Die Alltagskultur blieb überwiegend von der oralen Primärkommunikation geprägt - auch die meisten privaten Briefe sind Ersatz für Primärkommunikation, aufgeschriebener Küchenschwatz. „Wie geht es dir? Danke, es geht.” Kein Zufall, dass der private Brief durch das elektrische Medium Telefon in seiner Kommunikationsfunktion abgelöst wurde: Das Telefon ist authentischer, weil es die Stimme überträgt, Kommunikation ist unabhängig von räumlicher Entfernung in Echtzeit möglich und bidirektional: Antworten brauchen nicht fünf Tage. Dass die Filter-Funktion der Arbeit des Aufschreibens entfällt, macht das Telefongespräch spontaner, entfernt die Alltagskommunikation wieder von der gebildeten Buchkultur. Gedichtete Liebesbriefe waren auch in der kurzen Phase, in der das Buch das Leitmedium war (vom 17. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert), die Ausnahme, aber es gab sie und sie galten als erstrebenswertes Muster auch für Akte der Primärkommunikation. Die Liebeserklärung am Telefon oder inzwischen per SMS hat keine "veredelnde Wirkung" mehr auf Primärkommunikation.
Der vernetzte Multimedia-Computer wird als Telefon und elektronischer Briefträger gleichzeitig fungieren, jeder Einzelne kann sich als Kommunikator an "alle" (im Sinne von Massenkommunikation) wenden oder auch gezielt an ihm bekannte und vertraute Adressaten. Über das Handy ist der globale Dorf-Schwatz als Kommunikationstyp schon prinzipiell überall und in jeder Lebenslage denkbar, mit UMTS und den E-Paper-Folien wird sich diese totale Kommunikationsbereitschaft auf alle Anwendungen (von der Zeitung/Schrift bis zum Film oder Bildtelefon) zu jeder Zeit an jedem Ort erweitern.
Hier bestätigt sich McLuhans Satz als prophetisch, dass Medien im Kern Erweiterungen menschlicher Sinnesorgane sind. Die neuen technischen Hilfsmittel wachsen dem Menschen an, werden zu kulturellen Techniken und begründen neue Lebensweisen.
Die virtuelle Welt des „Second Life“ fasziniert die Menschen. Nur das Riechen und Schmecken und Fühlen kann der Multimedia-Computer noch nicht virtuell ersetzen. Elektrische Medien bedeuten neue Formen der Verbindung von privatem und kollektivem Bewusstsein.
Die klassische Gemeinschaft ist an körperliches Beisammensein gebunden, verbindet primärkommunikativ mit nur denen, die räumlich und zeitlich wirklich zusammentreffen, sich also auch fühlen und riechen können. Der computer-vernetzte Multimedia-Mensch befreit sich von solchen physischen Begrenztheiten.
Die postindustrielle Informations- oder Wissensgesellschaft provoziert neue Fragen zu den Grundlagen und den sozialen Implikationen des technischen Fortschritts. Der als Rechner entwickelte Computer mutiert zum Medium im Sinne von McLuhans Diktum „extension of men“. Im globalen Chat-Room spielen Entfernungen keine Rolle mehr, über die Multimedia-Maschinen nehmen die menschlichen Sinnesnerven Realitäten in entfernten Ländern genauso wahr.
Die SMS- und Chat-Kommunikation gibt einen ersten Vorgeschmack. Wenn einmal das Videotelefon im Wohnzimmer lebensgroß wie auf eine Wand projeziert werden kann, muss ich frei wählen, ob ich mich mit meiner Freundin aus Kanada zum Kaffeeklatsch verabrede oder mit der Nachbarin. Im Zweifelsfall wird die Freundin oder der unbekannte Lover aus dem Chatraum einfach dazugeschaltet, wenn die Nachbarin klingelt.
Die Speichermedien der Schriftkultur ermöglichten eine Gelehrten-Kultur, dies aber im Grunde neben der oralen Primärkommunikation des Alltags. Die banale Alltags-Kommunikation wurde von der Schriftkultur beeinflusst, aber doch in ihrer Substanz und fundamentalen Bedeutung für das menschliche Leben belassen. Die elektrischen Medien ergreifen in totaler Weise auch Besitz von der primären Alltagskommunikation.
Elektrisch vermittelte Kommunikation wird genauso einfach, mühelos und spontan, wie die Primärkommunikation es immer war. Was ich sehe und mit wem ich direkt „in Echtzeit" sprechen kann, hängt nicht mehr von der Reichweite meiner biologischen Sinnesorgane ab, sondern von meiner Netz-Anbindung. Meine Clique ist eine Mischung aus echten Kumpels und virtuellen Echtzeit-Usern, das Abenteuer meines Lebens spielt sich zu wesentlichen Teilen am Bildschirm ab.
Wer sagt, dass sich nicht schon heute die Gefühlsregungen vor dem Fernsehbildschirm tiefer in die Seele einschreiben als das Wenige, das ich - nach einer überholten Terminologie - als "real" erleben darf?
Mein Alltag wird eintönig und grau neben dem globalen, ja galaktischen Medienzauber. In der virtuellen Welt kann ich endlich direkt mit meinen Stars leiden, kämpfen und gewinnen, und zwar täglich wo ist gehe und stehe. Ich kann klein, hässlich und ein Versager sein – das schränkt mich in meinem virtuellen Leben nicht ein. Wo es Kafka gegraust hätte, fühlt sich der global und galaktisch vernetzte Multimedia-Mensch erst richtig wohl.
Das menschliche Gehirn hat für sein Empfinden von Realität kein Problem, sich darauf einzustellen: An die Stelle der Götter, der Mariengestalten, der Engel und Hexen, der Kaiser- und Papst-Verehrung, der Märchen und Wundergeschichten aller Art treten die Cyber-Kreationen. Das menschliche Gehirn hat sich nie mit dem, was Puristen als "harte" Realität bezeichnen, zufrieden gegeben. Der Glaube hat immer schon Berge versetzt, in früheren Jahrhunderten vor allem in seinen religiösen Einkleidungen.
Aber der vernetzte Multimedia-Mensch wird ein anderer sein.
Wie anders? Vielleicht hilft die alte Vorstellungswelt des Theaters der Phantasie für das Neue:
„Während das Theater als Medium marginalisiert ist, universalisiert sich das Theatrale mehr und mehr. Wir alle spielen - im Sinne des amerikanischen Soziologen Erving Goffman - Theater, und zwar immer exzessiver und immer ubiquitärer“ (Ulrich Arnswald). Die Event-Kultur produziert und inszeniert alltägliche Ereignisse, Unterhaltung genannt, eine künstliche Wirklichkeit, die die zwischenmenschliche Unterhaltung durch das Unterhaltenwerden durch die Medien-Stars ersetzt. Im Medium Fernsehen ist Inszenierung zum Selbstzweck geworden, jeden Abend holen sich Millionen Menschen die theatralisierte Gemeinschaft in Form von Shows ins trostlose Wohnzimmer: Es wird gesungen und getalkt, beim Fernsehen noch ohne Rückkanal.
Das wird sich bald ändern. Der Zuschauer wird ein gefragter, aktiver Zuschauer werden, der sich reaktiv einbringt in seine Unterhaltung. Bisher nur über teure 0185-Nummern.
Vergleicht Medienkultur des Internets mit der des Radios, fällt auf: Radio beruht auf wiederholten Programmabläufe, die von stündlichen Nachrichtensendungen rhythmisiert werden. Radio löst den Ort auf, ist überall und nirgendwo, aber es strukturiert die Zeit in einer Weise, wie das vorher nicht bekannt gewesen war. Radio ist das Medium der Angestellten und Beamten.
Das Internet nun bricht auch mit der Zeitstrukturierung. Hier gibt es nur noch Gleichzeitigkeit verschiedenster Text-Bild und Ton-Informationen. Der Raum ist virtuell. Die Bewegungsart im Internet ist das Surfen, die Community trifft sich im „chat-room”, man ist „on” oder „off”.
Die Einbindung in globale virtuelle Gemeinschaften schafft die Chance, sich in mehreren Rollen wohl zu fühlen und zu verwirklichen. Die Positions- und Rollenwechsel lassen sich nur bewältigen, wenn die Rollen einfach sind, wenn es klare Vorbilder für die Rollen gibt.
Reflexion eines sich inszenierenden Selbst auf seine biografische und soziale Situation war Identität nur in der Überzeichnung idealistischer philosophischer Thorie. Normalerweise konnte auch das Individuum des Buchzeitalters nicht seiner biografischen und sozialen Situation entkommen. Solche Prägungen, die ererbt waren oder in die man hineinwuchs, werden abgelöst durch medial geliehene Identitäten aus dem Repertoire der Kult-Figuren. Das verändert die Kommunikation, das Verhältnis zwischen den Menschen, also die Gesellschaft.
Das elektronische Netzwerk erlaubt die Konstruktion einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die McLuhan als das Selbstverständnis, in einem „globalem Dorf” zu leben, bezeichnet hat.
In seinem ungeheuren Potential der Virtualisierung steckt die spezielle Message dieses Mediums.
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