Klaus Wolschner 

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


II
Politik
und Medien

Leitmedium Internet

5-2013

Der Begriff „Leitmedium” wird auch in der wissenschaftlichen Diskussion sehr unterschiedlich genutzt. Er wird kleinteilig verwendet für die Bedeutung überregionaler Qualitätszeitungen (Spiegel, Süddeutsche) innerhalb der Berufsgruppe der Journalisten. In der mediengeschichtlichen Diskussion wird der Begriff Leitmedium für die „langen Wellen“ der Medienentwicklung benutzt, insbesondere zur Analyse der sozialgeschichtlichen Veränderungen, die die Druckkultur in der Neuzeit und das Fernsehen in der Moderne bewirkten. In diesem Sinne kann man analysieren, wie die neue elektronische „All-in-one“-Medienkultur des Internets die alten Leitmedien - also die Druckmedien Buch und Zeitung sowie das Fernsehen - verändern und eine prägende Rolle für die Medienkultur und damit für die Gesellschaft einnehmen. Jugendliche verbringen bereits heute mehr Zeit „im Netz” als vor dem Fernseher, es gibt keine Chance, sie für das Fernsehen zurückzugewinnen. Der Generationenwandel wird das Schicksal des klassischen Fernsehens besiegeln.

Medien ermöglichen Kommunikation. Schon die natürlichen Kommunikation-Techniken des Körpers, also die Laute, die gesungenen Töne und die Sprache, prägten die Formen, in denen die Hominiden ihre Realität wahrnehmen konnten. Sie prägen in dem Sinne das Realitätsverständnis.

Schrift als Speicher- und Verbreitungsmedium

Neue „Leitmedium“ bauen auf frühere Kommunikations-Kulturen auf, erweitern ihre Möglichkeiten, integrieren diese. Die Sprache als primäres Medium menschlicher Verständigung behält ihre grundlegende Bedeutung in den Entwicklungsetappen der technischen Kommunikationsmittel.

Was sich in der Medienkulturgeschichte verändert, sind die technischen Mittel der Realitätswahrnehmung. Offensichtlich ist, wie ein Mikroskop die Realität für diejenigen erweitert, die es benutzen können. Weniger offensichtlich ist, wie die Schrift als Speichermedium für Sprache zur Voraussetzung des systematischen philosophischen Denkens in der Antike wurde, und wie die Drucktechnologie in der Neuzeit die Realitätswahrnehmung der Masse der Bevölkerung revolutioniert hat.
Drucktechnik entkoppelt die Sprache von den unmittelbaren Bezügen der Kommunizierenden. Was in der Antike nur für eine kleine Elite der gebildeten Menschen gegolten hat, hat sich in Europa im Verlauf von drei Jahrhunderten Neuzeit verallgemeinert: Oral geprägte Sprache wurde durch gesprochene Schriftsprache abgelöst. Neben die Familie tritt die Schule als Vermittler der zivilisatorisch erforderlichen Bildung.

Das abstrahierende Denken, in dem Begriffe dieselbe sprachliche Gestalt haben wie lautmalende, abbildend bezeichnende Worte, ist auf der Basis von Schriftsprache möglich geworden und hat mit der breiten Entfaltung von Wissenschaft das Verständnis der Realität revolutioniert. Wenn im 20. Jahrhundert fast jedermann sich selbst mit freudianischen Begriffen wie „Es” und „Über-Ich” begreifen kann, zeigt das die durchschlagende Kraft der neuen Medien des Druckzeitalters.

Die phonetische Schrift ist dabei ein elitärer medialer Code: Die 24 Zeichen des griechischen Alphabets führten in unterschiedlichen Kombinationen ähnlich wie ein digitaler Code den Menschen ein abstraktes Schriftbild vor Augen, das menschliche Gehirn muss daraus Wirklichkeitsvorstellungen konstruieren. Lesen ist anstrengend und nicht jedermanns Sache.

Computer-Netze für Bilder, Sprache und Schrift

Bei der elektronischen Medientechnologie bleiben die digitalen Bausteine dagegen im Hintergrund der Wahrnehmung: Sie ermöglichen es, beinahe beliebige, analog erscheinende Bilder und Töne zu bilden, die für das menschliche Gehirn wie Sinneseindrücke wirken und an Naturbilder und Naturtöne erinnern und daher leichter entzifferbar sind. Die elektronischen Abbilder der Naturbilder haben die gleiche Qualität wie phantasierten Kunstbildern. Das gab es in früheren Kommunikationskulturen nur in der Phantasie der Menschen: Den Hexenflug, an dessen Realität die Menschen des Mittelalters keinen Zweifel hatten, gibt es heute im Kino zu sehen. Die Folge: Niemand glaubt noch seinen visuellen Eindrücken. Die körperlichen Wahrnehmungen können durch computergestützte elektronische Wahrnehmungen geradezu erweitert werden (augmented reality). Die elektronischen Medien lassen die Realitätsproduktion des Gehirns komplexer werden, sie schaffen neue Möglichkeiten der Illusion, sie lassen aber gleichzeitig die menschliche Entzifferungs-Praxis kritischer werden.

Die Potentiale der elektrischen Medienwelt finden mit ihrer elektronischen Miniaturisierung zu ihrer (vorläufig) revolutionären Bedeutung: Die klassischen elektrischen Medien waren stationär, sie erforderten große Apparate, zu denen man hingehen musste wie zum Fernsehapparat. Die miniaturisierte elektronische Technik ist überall dabei und das möglichst in Scheckkartengröße. Der Mensch trägt sie am Körper wie das Hörgerät und im Köper wie die Multifokal-Linse oder den Herzschrittmacher. Der digitalisierte Mensche ist immer online in seiner virtuellen Welt.

Die elektrischen Medien nahmen in den USA und in Europa in der Mitte des 20. Jahrhunderts fast jeden Menschen mehrere Stunden täglich in Anspruch, beeinflussten sein sonstiges Leben und seine handlungsrelevante  Realität aber nur wenig und meist nur indirekt.
Die elektronischen Medien im 21. Jahrhundert lassen sich nicht mehr abschalten, sie prägen Alltagshandeln und Alltagswahrnehmung sehr viel intensiver – und oft unmerklich.

Wenn mir ein entfernt lebender Mensch mitteilen möchte, wie toll seine Party war, dann benutzt er dafür nicht die Kommunikationsmöglichkeiten der Schrift in einem Brief, er geht nicht zum Telefon, weil das unmittelbar nicht möglich wäre wegen der Lautstärke und die Frage ist, ob ich abends um 23 Uhr das noch hören möchte. Eine SMS würde schon fast als unzureichend verstanden - ich erwarte einen kleinen Handy-Film, für den die Party-Teilnehmer natürlich ordentlich posieren. Es ist unvermeidlich, dass die für mich relevante Realität, mein Realitätshorizont von diesen elektronischen Möglichkeiten geprägt wird. Die Party in San Francisco interessiert mich genauso wie die im Nachbardorf, der geografische Abstand spielt keine Rolle. Die Vorstellung, dass eine Nachricht aus San Francisco acht Wochen brauchen könnte, bevor sie mir überbracht werden kann, gehört ins 19. und nicht ins 21. Jahrhundert. Ich kann und will daher alles und sofort kommunizieren. Der räumliche Ort, an dem ich mich gerade befinde, definiert nicht mehr meine Realitätswahrnehmung - es ist oft sogar egal, wo ich bin, meine gelebten Realitätsbezüge sind elektronisch real.

Das Internet frisst das Fernsehen

Das Internet ist ein „All-in-one“-Medium. Es integriert und verändert das Fernsehen, weil insbesondere dann, wenn die technische Entwicklung die alten Formate integriert, die Nutzer-Möglichkeiten, die sie von Filmen im Internet kennen, als Anspruch auf das klassische Fernsehen übertragen. Nutzer werden nicht mehr bereit sein, zu unterscheiden und dem Fernsehen (wie etwa der Briefpost) zuzugestehen, dass es eben ein wenig altbacken strukturiert ist. Im Internet sind nutzergenerierte Inhalte ein wichtiges Element, sie haben hohe Akzeptanz, weil sie „von unten“ kommen. Solche Elemente stehen dem Verlegermodell – „alles Gute kommt von oben“ – diametral entgegen. Dass dieser Trend zwingend ist, zeigt sich an der zunehmenden Bedeutung von Leserbriefen in Print-Produkten. 

Über das Internet kann ich meine Lieblingsfernsehserie schauen, wann und wo ich das möchte, ich kann meine Musik nach meinen Geschmack zusammenstellen und Nachrichten abrufen, wenn ich dafür Zeit und Aufmerksamkeit habe. Wenn mich Medien ansprechen sollen, die diese Funktionen nicht haben und mich in klassischer Weise bevormunden wollen, müssen sie schon erhebliche Vorteile in die Waagschale legen. Im Netz kann ich wie mit einem Klick wie mit der Fernbedienung das „Programm“ austauschen, ich kann zudem zu einem Chat, zu meinem Mail-Briefkasten  oder einem Buch wechseln. Im Internet sind „Community-Tools“ selbstverständlich: Ich sehe, welche Freunde online sind, die Nutzungsgewohnheiten meiner Freunde helfen mir bei der Orientierung. Solche Elemente fehlen im klassischen Fernsehen.
Das Internet kommt mit seiner einzigartigen All-in-one-Vielfalt den Interessen der Konsumenten unwiderstehlich entgegen, es steht für absolute Ubiquität, Individualität, Personalisierung, Flexibilität und Interaktion. Seine Möglichkeiten prägen die Bedürfnisse der Information, Kommunikation und Unterhaltung. 

Völlig unverständlich sind schließlich begrenzte Archivierungs-Zeiten für Medieninhalte der Öffentlich-Rechtlichen, insbesondere weil sie durch Nutzergebühren bezahlt wurden. Unverständlich ist auch die Trennung zwischen Medien-Inhalten, für die ich pauschal bezahlen muss, und anderen, die kostenfrei sind. Das Internet zwingt dem Fernsehen auf die Dauer seine Logik auf – so wie das Fernsehen den Print-Zeitungen (und der politischen Selbstdarstellung) seine Logik aufgezwungen hat - Fotos, Farbfotos, Personalisierung etc. Auf Dauer werden sich für das Schauen von Filmen auf der Wohnzimmer-Leinwand und auf den kleinen portablen Geräten die Strukturen durchsetzen, die die Möglichkeiten des Internets ausschöpfen – alles andere wird als „alter Zopf“ erscheinen, auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkgebühren in ihrer heutigen Form. Werbung muss unter den neuen medialen Bedingungen unterhalten – sonst wird sie einfach weggeklickt oder die Zuschauer überbrücken die Werbepause mit ihrem Smartphone.

Leitmedium „mobiles Internet”

Es gibt noch keinen neuen Begriff für diesen neue allumfassende Kommunikationsmedium der „digitalen Gesellschaft”. Das Wort „Internet“ bezeichnete ursprünglich nur eine technische Vorstufe davon. Entscheidend ist die Koppelung der Potentiale des Internets an die mobilen  Empfangs- und Sendegeräte. Die Bezeichnung „Leitmedium Internet” ist möglicherweise daher nur eine vorläufige Bezeichnung.
Es ist aber offensichtlich, dass dieses neue Leitmedium die wahrgenommene Realität der Menschen radikal verändern wird wie die Erfindung der Sprache vor 70.000 Jahren, der Drucktechnologie in der europäischen Neuzeit und der elektrischen Medien im 20. Jahrhundert.

Das neue Leitmedium Internet revolutioniert auch die Politik

Die „partizipative parlamentarische Demokratie“, in der die Entscheidung rein parlamentarisch bleibt, ist eine Gestalt der Demokratie aus der Fernsehensgesellschaft. Die User werden früher oder später mitentscheiden wollen und effektive Beteiligungsrechte verlangen – „Liquid democracy“ ist der Arbeitstitel für eine Struktur, die die zivilgesellschaftliche Partizipation zunehmend in die demokratischen Entscheidungsstrukturen hineinzieht und integriert.