Klaus Wolschner

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
und Medien

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

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Die Französische Revolution
als europäisches Medienereignis

2020 /pop

„Die Französische Revolution war das größte Medienereignis seit den Tagen der Reformation ... Die Milderung der Zensur und die Freigabe der Politik für die Beteiligung der Bürger lösten 1789 eine nie gekannte Flut politischer Publizistik aus, die zwar unter der Jakobinerdiktatur eingeschränkt wurde, letztlich aber bis zum Staatsstreich von Napoleon Bonaparte (1769–1821)  anhielt.” (Rolf Reichardt)

Die französischen Zeitungen entwickelten sich über Nacht zu Massenmedien. Rund zehn Prozent der französischen Bevölkerung wurde durch rund 1.600 Zeitungen erreicht -  das bedeutete einen einzigartigen Demokratisierungsschub der politischen Information und Meinungsbildung. Der ehemalige Arztes und Untergrundschriftsteller Jean-Paul Marat etwa brachte „Ami du Peuple“ heraus.

Im zentralistischen Frankreich hatten noch im Vorfeld der französischen Revolution die Flugschriften und illegalen Raubdrucke eine größere Bedeutung für die entstehende revolutionäre Stimmung als die von der Zensur erlaubten periodischen Druckerzeugnisse. Seit den 1770er Jahren wurde die Frivolität, Sittenlosigkeit und Korruptheit des Adels und der Königsfamilie in einer Unzahl von „Cahiers Scandaleuses“ und Flugschriften angeprangert.

Die erste Phase der Französischen Revolution 1788-1793 selbst wird vielfach als Durchbruch der politischen Presse interpretiert. Es waren aber vor allem die politischen Akteure, die ihre Zeitungen als Propaganda-Instrumente gründeten. Sowie sich ein Machthaber durchsetzen konnte, war es mit der Zeitungsvielfalt für die anderen auch wieder vorbei.

Während eines Jahrzehntes der Revolution wurden mehr Druckschriften verbreitet als im gesamten 18. Jahrhundert vorher. „Kraft der ihnen eigenen Emotionalität, ihrer mitreißenden Melodien und visuellen Präsenz prägten insbesondere die politischen Chansons und die gedruckten Bildflugblätter sich dem kollektiven Bewusstsein tiefer ein als Texte und Reden.“ (Reichardt)  Neue Zeitungen wurden gegründet, alte Titel erschienen öfter als bisher und in höherer Auflage. Sie wurden nicht nur an Abonnenten geliefert, sondern auch zu günstigeren Preisen im Straßenverkauf ausgerufen. Auf den Titelseiten prangten Schlagzeilen, die sich gut ausrufen loeßen. Die Bildergeschichten wurden von den Straßensängern besungen und erklärt wie früher die frommen Andachtsblätter. Besonders populär waren die revolutionären Karikaturen. Als der Braunschweiger Pädagoge und Freiheitspilger Joachim Heinrich Campe im August 1789 auf dem Quai de Conti zum Pont-Neuf ging, fiel ihm auf, dass „alle die großen Gebäude stromauf- und unterwärts, soweit das Auge reicht, besonders die große und prächtige Münze, mit Kupferstichen behangen sind, welche größtenteils die dermalige Revolution betreffen.“

Campe berichtete aus Paris, wie „die fliegenden Blätter und Broschüren des Tages (.. .) von vielen hundert Kolporteurs durch alle Straßen der Stadt, nicht bloß dem Titel, sondern oft auch dem Hauptinhalte nach, ausgeschrien werden“. Campe waren „die dicht ineinandergeschobenen Menschengruppen“ aufgefallen, welche wir vor allen denjenigen Häusern erblicken, deren Mauern mit Affichen beklebt sind. Vor jedem, mit dergleichen Zetteln, die in großen Bogen mit großer Schrift gedruckt bestehn, beklebten Hause, sieht man ein unendlich buntes und vermischtes Publikum von Lastträgern und feinen Herren, von Fischweibern und artigen Damen, von Soldaten und Priestern, in dicken, aber immer friedlichen und fast vertraulichen Haufen versammelt, alle mit emporgerichteten Häuptern, alle mit gierigen Blicken den Inhalt der Zettel verschlingend, bald leise, bald mit lauter Stimme lesend, darüber urteilend und debattierend.“ Der Magdeburger Pastor Heinrich Zschokke berichtete im April 1796: „An der Straßenecke steht ein zerlumpter Virtuose mit der Violine, neben ihm ein Weib oder Mädchen; beyde singen, ohne von dem Geräusch der Wagen, Reuter und Schreyer irre gemacht zu werden, die sangbarsten Arietten aus den neuesten Opern mit republikanischen Texten.“

Auf dem Lande wurden die Blätter und die Dorfzeitungen den Bauern und Landarbeitern von Pfarrern, Schulmeistern und Grundherrn vorgelesen. Das öffentliche, gemeinsame Vorlesen durch bekannte lokale Autoritäten knüpfte an die gewohnte mündliche Kommunikation an und verlieh den Zeitungsnachrichten größere Glaubwürdigkeit als es eine individuelle, stille Lektüre gehabt hätte. Überall entstanden informelle nachbarschaftliche Lesezirkel und halböffentliche Orte. Der Cirque National, ein überdachtes Hippodrom mitten im Garten des Palais-Royal, fasste mehr als 8000 Zuhörer, dort wurden nicht nur Zeitungsnachrichten vorgelesen, sondern auch 17 Vorträge über Rousseaus „Contrat social“ gehalten. Männer und Frauen saßen auf getrennten Tribünen, Frauen durften nicht das Wort ergreifen.

Die Revolutionäre hatten ein großes Sprachbewusstsein, sie wollten „aristokratische“ Wörter auszumerzen und mit der revolutionären „Sprache der Freiheit“ auch das neue Denken verbreiten – insbesondere gegen die Dialekte, die in den französischen Provinzen gesprochen wurden. Mit ihrem neuen Vokabular betrieben die Revolutionäre eine Umwertung der Werte.

Die Revolutionäre waren auch Meister der Symbolik. „Gebrauchen wir und vervollkommnen wir die Sprache der ‚Zeichen‘, diese beredte Zeichensprache, die zunächst nur die Sinne anspricht, diese aber so erregt, dass der Eindruck weitergeleitet wird bis hin zum Zentrum der Gedanken“, schrieb Jacques Boileau aus der burgundischen Kleinstadt Avalion 1791 an die Zeitung Cercle Social: „Ein solcher Sinneseindruck ist gleichsam ein natürlicher, elektrischer Impuls, der das Herz neu belebt, mit einem heiligen Feuer erfüllt, das - wenn es erst einmal brennt - nicht wieder erlischt.“

Orte und Straßen wurden umbenannt, sogar die christliche Zeitrechnung durch den Republikanischen Kalender ersetzt. Besonders beliebt war der dreifarbige Anstecker, er wurde 1793 allen Franzosen zur Pflicht gemacht. An alte Maibäume knüpfte die Sitte an, revolutionäre Freiheitsbäume zu pflanzen. Nach dem alten römischen Vorbild wurden Vaterlandsaltäre errichtet und die rote Freiheitskappe getragen. 1779 gab es den Plan, in Paris ein steinernes Amphitheater für 300.000 Zuschauer zu errichten: „Ich kann mir in der Welt nichts Erhabeneres vorstellen als einen Chor mit drei- bis vierhunderttausend Stimmen, gesungen von Menschen, die alle von einem Gefühl durchdrungen sind“, erklärte Louis-Marie de La Révellière-Lépeaux und begründete: „Die Priester haben von jeher ein großes Geschick darin bewiesen, überall dieselben Kultformen zu verwenden und die Menschen dadurch an ihre Herrschaft zu binden. Der philosophische Gesetzgeber muss sich desselben Mittels bedienen…“

Bereits die „Pantheonisierung“ Mirabeaus am 4. April 1791 sollte den Pomp der alten Monarchie zu übertreffen. Voltaires Pantheonisierung am 11. Juli 1791 wurde bewusst als eine Gegeninszenierung zu den königlichen Entrees des Ancien regime inszeniert. Zu Hunderttausenden waren die Bürger zusammengekommen, und über die Presseberichte waren alle „dabei“ – europaweit.

Die revolutionäre Publizistik hatte das Ziel, nicht nur die gebildeten Kreise, sonder möglichst alle Menschen zu erreichen und sie mit dem nationalen Freiheitsenthusiasmus und der neuen revolutionären „Ordnung des Wissens“ vertraut zu machen. Napoleon beendet die Kommunikations-Revolution, er reduzierte die Zahl der Zeitungen auf ein Minimum und ließ Kneipen, Cafes und Theater mit einem Spitzelsystem überwachen.

Mischform mündlicher und schriftlicher Kommunikation

Die turbulenten Ereignisse der Französische Revolution wurden in ganz Europa im Sinne einer „medialen" Erfahrung über längere Zeiträume verfolgt und wahrgenommen. Die Berichte reisender Augenzeugen in den Druckmedien ermöglichten es, Weltgeschichte als „second hand-Erfahrung" mitzuerleben. 1790 begeistert sich Christoph Wieland darüber, „dass wir Zeitgenossen und Zuschauer dieses größten und interessantesten aller Dramen, die jeweils auf dem Weltschauplatz gespielt wurden, gewesen sind". Es gab im deutschen Sprachraum in den 1790er Jahren rund 250 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von ungefähr 300.000 Exemplaren, die Leserschaft war aber aufgrund der vielfältigen Leserkreise insbesondere in städtischen Gebieten zehnmal so hoch. Der erfolgreiche Verleger Friedrich Justin Bertuch aus Weimar freute 1792 darüber, dass seine Druckerzeugnisse „vom Regenten und Minister an bis herab zum Holzspalter auf der Straße und den Bauern in der Dorfschenke" alle ansprächen. Die Briefe aus Paris von Joachim Heinrich Campes aus dem Jahre 1789 waren Alltagsreportagen, er berichtete über Mode und Kaffeehäuser, über das Leben der Parks und der Straßen, über Feste und Freizeitaktivitäten. Die französische Kleidermode wurde als Protestform zu der ständischen Kleiderordnung wahrgenommen. Campe warnte die deutschen Fürsten 1789 unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens aus Paris: „Der große Spiegel hängt; sehe hinein, wer nicht Lust hat, mit Frankreichs Despoten ein gleiches Schicksal zu erfahren!"

Die Berichte über die Ereignisse in Frankreich setzten neue Maßstäbe, bisher kaum Denkbares passierte. Eine Flut von anonymen Flugschriften unterlief die verzweifelten Versuche der Pressezensur, die Nachrichten zu unterdrücken. In einer württembergischen Verordnung zur Pressezensur aus dem Jahre 1791 heißt es, man wolle den „schädlichen Mißbrauch der Preßfreiheit" verhindern, weil gerade „politische Zeitungen" einen „so großen Einfluß auf die Denkungs-Art der ungebildeten und zahlreichen Claße Unserer lieben und getreuen Unterthanen" besäßen.

Das Örtchen Wetzlar etwa hatte wenige tausend Einwohner, war aber immerhin seit 1689 der Sitz des höchsten Gerichtes des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des Reichskammergerichts. Der Sekretär des Reichskammergerichts zu Wetzlar, Johann Melchior Hoscher, stellte eine zunehmende Zahl von „Tumultsachen" fest, die er im November 1789 auf die „Rebellion in Frankreich" zurückführte: Der „französische Empörergeist“ verbreite sich „wie ein elektrischer Schlag in viele andere Gegenden“, als wolle er wie „eine allgemeine Seuche die Welt ergreifen“. Bauern und revoltierende Handwerkergesellen pflanzten nach der neuen französischen Sitte Freiheitsbäume und griffen die Revolutionsparole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" auf. Sächsische Bauern wollten die Grundherrschaft abschaffen und forderten, „dass es wie in Frankreich werden müsse". Der Wiesbadener Hofkammerpräsident Carl Friedrich von Kruse 1790 nahm das Bild von der „ansteckenden Seuche" auf, die „durch die narcotische Kraft des Wortes Freiheit" übertragen würde. Die Stuttgarter Schustergesellen riefen im Mai 1794 bei ihren Protestversammlungen: „Vive la Nation! Es lebe Freiheit und Gleichheit!"

Schriftsteller Heinrich Christian Boie bemerkte im Dezember 1789, Deutschland werde mit Schriften über die Ereignisse in Frankreich „bis zum Eckel überschwemmt“: „Wie ein elektrischer Schlag, der von Paris ausging, wirkte sie auf alle Nationen... Auf kein Land wirkte sie aber stärker, als auf unser Deutschland. … Bis in die kleinsten deutschen Dörfer drang dieser Schlag, und bei der Unzufriedenheit, mit der die meisten Menschen in der Welt leben, erregte er Neigung zur Empörung. Wenige deutsche Staaten werden gewesen sein, in denen nicht Gährungen entstanden sind.”

Gottlob Benedikt Schirach schrieb 1793: „Die bestürzende Kunde von der Guillotinierung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 – dem ‘blutigsten Schandfleck unsers Jahrhunderts’, wurde europaweit von unzähligen Ereignis-Stichen verbreitet, die unter einer berichtenden Überschrift zumeist das Gleiche zeigen: Umgeben von einem Militärkordon und der gaffenden Menschenmenge steht der Henker neben der Guillotine und inszeniert die sekundenschnelle Hinrichtung, indem er mit einer brutalen Bewegung das abgeschlagene Haupt des ehemaligen Königs für alle Umstehenden sichtbar an den Haaren hochhält.”

Johann Wilhelm von Archenholtz schrieb 1795: „Eine von den vielen Folgen, die die französische Revolution für Deutschland gehabt hat, ist die große Menge neuentstandener politischer Schriftsteller, Blattschreiber, und Buchmacher, die aus Zeitungsblättern (sollten es auch die elendesten im südlichen Deutschlande seyn) ihre Kenntnisse schöpfen, und dann sogleich die Feder in die Hand nehmen, um ihre Urtheile über die großen Begebenheiten des Tages, der Welt mitzutheilen.”

Zum internationalen Medienereignis wurde Frankreichs revolutionäre Politik schon mit dem Bastillesturm des 14. Juli 1789 als einem Ereignis großer Symbolkraft. Das Hamburger Politische Journal berichtete im August mit der Postkutschen-bedingten Verzögerung:Wie Paris die Freyheit von Frankreich erstürmt“ wurde: „Unser Zeitalter ist voller Wunder. Die religiösen haben aufgehört. Es geschehen lauter politische Wunder … Die Tage vom 12ten bis 15ten Julius gehören zu den merkwürdigsten in der Geschichte des menschlichen Geschlechts.”

Im deutschen Sprachraum war vor allem die „Mainzer Republik“ von 1792/1793 aus Paris inspiriert. „Durch ihre demokratische Kultur nach französischem Vorbild wurde die Mainzer Republik in Deutschland ihrerseits zum Medienereignis.” (Reichardt)  Der Tod des französischen Königs rief auch die Kritiker auf den Plan: In Großbritannien schrieb Edmund Burke 1790 sein Buch Reflections on the Revolution in France. Mehrere Theater brachten die sensationellen Ereignisse von Paris auf Londoner Bühnen.

Demokratische Macht des Volkes bedarf der Pressefreiheit

Der Aufstand der französischen Aufklärer war auch durch das Beispiel der Amerikanischen Revolution inspiriert. Am Anfang ging es um den Protest in den nordamerikanischen Kolonien gegen die Steuererhöhungen der Engländer: Die 1765 von den Engländern verordnete Steuer auf Drucksachen (die „Stamp Tax“) brachte die Medien auf die Seite derer, die die Unabhängigkeit forderten. Die Steuer musste nach einem Jahr zurückgenommen werden – und allen war die Macht der Medien klar geworden. Frankreich unterstützte – es ging gegen England – den Freiheitskampf der Kolonien. Die französischen Zeitungen dokumentierten das Geschehen kommentarlos, aber die Leser konnten die Ideen der Verfassung und der Menschenrechte leicht auf ihr Land übertragen.

Die deutschen Zeitungen trugen die Ideale und die Debatten aus Paris in die deutschen Bürgerstuben – meist unkommentiert aus Angst vor Zensur oder Repression. Und sie berichteten über den demokratischen Terror der Jakobiner.

Für Immanuel Kant etwa hatte sich damit die Demokratie selbst desavouiert. Der Gesetzgeber, so hielt Kant fest, solle seine Gesetze so geben, „als ob sie auf dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können". Das „als ob" sollte vor dem Terror und der Dummheit des Pöbels schützen. Gesetzgeber ist der aufgeklärte Monarch, Kant dachte an Friedrich den Großen von Preußen. Diese Sorge vor der Macht des besitzlosen Pöbels teilte Kant mit Platon und Jean Jacques Rousseau, der noch 1762 formulierte: „Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht." Es folgten Napoleon, die Restauration, 1815, die Karlsbader Beschlüsse, ein Jahrhundert des Ringens um die Aufteilung von Rechten und Macht zwischen alten und neuen Kräften, zwischen alten Familien, Bürokratien und repräsentativen Versammlungen, meist im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie. 

Die Massenpresse trug im 19. Jahrhundert das Wissen der Aufklärung
in die Köpfe des Volkes und bereitete damit die Massendemokratie vor

Die Revolutionäre von 1789 repräsentierten städtische Eliten, mehr nicht. So konnte es eine Konterrevolution geben, die - sozialgeschichtlich gesehen - im Namen der Ungebildeten und der Bauern die Demokratie wieder einschränkte und schließlich ganz abschaffte. Das Volk erlag den Versprechungen charismatischer Führer, Beteiligungs-Verfahren waren ihm weniger wichtig.

Das 19. Jahrhundert wurde nun zum Jahrhundert der massenhaften Aufklärung: Das neue (Hintergrund)-Wissen, der neue Deutungskontext, der in den gebildeten Zirkeln der Aufklärung entwickelt worden war, wurde über eine beispiellose Entwicklung der Druck-Medien buchstäblich ins Volk getragen.  

Die „öffentliche Meinung” wurde zum zentralen politischen Begriff mit der Französischen Revolution. „Öffentliche Meinung“ bekam zusammen mit dem Begriff der Demokratie eine neue Bedeutung. Maximilien Robespierre, ein Verfechter des Repräsentationsprinzips, hatte 1793 einen Plenarsaal für die Nationalversammlung gefordert, in dem auf den Tribunen Platz für 12.000 Bürger sein sollte – die Kontrolle der „Öffentlichkeit“ sollte sicherstellen, dass die Repräsentanten keine „volksfeindlichen“ Beschlüsse fassen.

In der Französischen Revolution wurde mit der Rhetorik von der „Herrschaft des Volkes“ geradezu experimentiert. Der „Wille des Volkes“ war der Bezugspunkt verschiedener Fraktionen der Revolutionäre und Jean-Paul Marat schließlich ihr populistischer Agitator, der unter Berufung auf den „Willen des Volkes“ ein Terror-Regime propagierte. Demokratie bedeutete eben auch wildeste Hetzreden und eine Menge, die als Lynchmob auftrat. Aufgrund dieser Erfahrung blieb der Volksbegriff gespalten, es gab die alte Vorstellung vom „Pöbel“ und das Volk als Staatsvolk und Nation.

Wenn Immanuel Kant 1784 in der Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung” seinem Staatsoberhaupt, dem preußischen König, nahelegt, „seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen“ und sogar in Form „einer freimütigen Kritik der Welt öffentlich vorzulegen“, dann meint er damit natürlich nur die vernünftigen Untertagen, nicht den Pöbel. Der deutsche Aufklärer Christoph Martin Wieland bewertete die Verfassung von 1793 als „ein Gemisch von Tyrannei und Anarchie" und schrieb 1798 „Über die öffentliche Meinung” resigniert: „Pöbel bleibt ja immer Pöbel, und er ist es umso mehr, je weniger man aus seinem Äußeren Pöbel vermuthet.“

Schon die Revolten von 1848 in den verschiedenen europäischen Städten waren durch die Medienberichterstattung verbunden. Am Ende des 19. Jahrhunderts existieren in Deutschland Zeitungen für alle politischen Richtungen - Liberale, Sozialisten, Konservative. Politische Parteien verfügten nur über geringe Organisationsmittel, das wichtigste Instrument, um Parteien zu bilden und zusammen zu halten, waren Zeitungen. Bei Spaltungen ging es sofort immer um die Parteizeitung, ohne die die neuen parteibildenden Ideen nicht verbreitetet werden konnten. Lenins Konzept der Parteizeitung ist insofern ein Kind des 19. Jahrhunderts.

 

    Siehe auch die Texte zu:

    Imagined Community - die deutsche „Kultur-Nation” als mentale Konstruktion und Religionsersatz  
    MG-Link
    Mediengeschichte im 19. Jahrhundert    MG-Link
    Sprachpolitik der Französischen Revolution    MG-Link
     

    Lit.:
    Rolf Reichardt, Die Französische Revolution als europäisches Medienereignis,
     in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG)
             http://www.ieg-ego.eu/reichardtr-2010-de (2012-05-19)

    Rolf E. Reichardt  Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur (2002)
    Holger Böning (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts  (1992)