Klaus Wolschner

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


II
Politik
und Medien

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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ISBN 978-3-7418-5475-0
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Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

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Was ist Politik?

2020

„Politik ist die Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugute kommender Entscheidungen.” Diese klassische Definition des Dortmunder Politologen Thomas Meyer (2010), die nur als „erste Annäherung“ gemeint ist, leidet nicht nur unter ihrer sprachlichen Verschachtelung. Es lassen sich leicht Einwände formulieren: Wieso ist nur das „Politik“, was sich am Gemeinwohl orientiert? Wieso muss „Politik“ auf Entscheidungen aus sein?

Versuchen wir es einfacher: Als „Politik“ bezeichnet man die Verhandlungen über die Angelegenheiten des Gemeinwesens. Diese Verhandlungen finden teilweise auf der politischen Bühne, also öffentlich, teilweise hinter der Bühne. Moralische Argumente spielen auf der Bühne eine große Rolle, wirtschaftliche Interessen eher hinter der Bühne. Ergebnis der Verhandlungen können Eingriffe in das Alltagsleben des Gemeinwesens sein, etwa die Änderung des Steuersatzes oder die Ausweitung der legitimierten Lebensformen durch eine „Ehe für alle“. Oder eine Kriegserklärung gegen ein anderes Gemeinwesen. Das politische Ziel eines der Verhandler kann auch sein, Entscheidungen zu verhindern.

Verhandlungen zeigen der Gesellschaft  die Unterschiedlichkeit der Meinungen und Interessen auf, auch wenn es weder Konsens noch Entscheidung gibt.
Die da verhandeln haben unterschiedliches Gewicht: Sie sind unterschiedlich vernetzt, haben mehr oder weniger wirtschaftliche Macht, rhetorisches Talent, Einfluss auf Abhängige. Politische Kommunikation ist also alles andere als herrschaftsfreie Kommunikation.
Das „Medium“ der Politik ist in der Regel die Kommunikation, im Hintergrund steht meist physische Macht bzw. die Androhung physischer Gewalt.

Üblicherweise wird der Begriff der Politik für staatliche verfasste Gemeinwesen verwendet, er geht zurück auf die Regelung der Angelegenheiten der griechischen Polis. Die Verhandlungen einer tribalen Stammesgemeinschaft sind allerdings genauso als „Politik“ beschreibbar.

Neben der Ökonomie eines Gemeinwesens und dem Alltagsleben entsteht mit der „Politik“ des Gemeinwesens ein eigener Bereich der Wirklichkeit - es gelten besondere Regeln, „Politik“ führt ein Eigenleben. In der Welt der Politik können Menschen sich als „Gleiche“ anerkennen, die weder in der Ökonomie noch im Alltagsleben gleich sind. Zum Beispiel müssen in der Politik die Repräsentanten der armen und der reichen Bevölkerungsgruppen darüber verhandeln, wie viel sozialer Ausgleich als „gerecht“ gelten soll - über Steuerpolitik und über Sozialpolitik. Solche Streitfragen sind nicht rational zu entscheiden, auch durch eine Volksabstimmung, sondern erfordern komplexe Aushandlungsprozesse. Wenn sich Unmut über diese Verhandlungen anhäuft, kann es dazu kommen, dass die Regeln der Politik infrage gestellt werden, von „oben“ (Putsch) oder von „unten“ (Revolution).

Die politische Bühne ermöglicht die Konstruktion einer Wirklichkeit, die sich nicht unmittelbar aus der Interessenvertretung Einzelner ergibt. Rechtsstaat, Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, allgemeine Menschenrechte und andere Normen sind Kreationen auf der politischen Bühne, „Horizontbegriffe“, mit denen politische Entscheidungen gerechtfertigt werden. Begriffe wie Gerechtigkeit entstehen nicht unmittelbar aus Interessenkonflikten von Betroffenen, sondern als Regelwerk oder moralische Idee auf der repräsentativen Ebene von Politik, die viele Privatkonflikte verallgemeinern muss.
Die Repräsentanten bringen dabei Klientel-Interessen ein in ihre Verantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten: Sie müssen Kompromisse suchen, die - jedenfalls in einer Demokratie - mehrheitsfähig sind.
„Verantwortung“ für die öffentlichen Angelegenheiten muss gelernt werden. In jedem Gemeinwesen gibt es Traditionen und Gewohnheiten, die sich zu einer „politischen Kultur“ verfestigen. Politik ist nicht die Verlängerung des Handels oder des Parteienstreits. Der Kompromiss um den gerechten Lohn wird auf dem „freien“ Markt letztendlich über Erpressungen ausgehandelt - der Arbeitnehmer kann seine Arbeitskraft verweigern (Streik) und der Arbeitgeber kann Arbeitnehmer feuern und andere anheuern. Die Repräsentanten, die auf der politischen Bühne handeln, sind in der Regel nicht unmittelbare Interessenvertreter und müssen die Kompromissfähigkeit für spätere Verhandlungsthemen im Auge haben – die Kompromiss-Findung auf der politischen Bühne ist daher stärker auch „pädagogisches Theater“. Die Repräsentierten lernen, in welchem Kontext ihre Interessen stehen, die Interessenträger lernen, ihre egoistischen Ziele im sozialen Kontext zu werten. „Politische Öffentlichkeit“ und „politische Kultur“ bringen so eine übergreifende Rationalität in die Verhandlungen ein.

Ohne diese „politische Bühne“ der professionellen Repräsentanten gäbe also keine Politik, sondern nur Straßenkampf. Das Scheitern von Räte-Strukturen findet seine Erklärung darin, dass sie kompromiss-unfähig waren, also letztlich politik-unfähig.
Kein Wunder, dass radikal-plebiszitäre politische Konzepte der „Selbstregierung“, die als Utopie im Straßenkampf aufflackern und keine tragfähigen Strukturen von Politik schaffen, nach ihrem Scheitern in der Akklamation für autoritäre Führungs-Strukturen enden können.