Religion als die archaische Vergeistigung der Mächte von Natur und Gemeinschaft
Über die Kulturgeschichte des religiösen Empfindens und des vernünftigen Denkens
2020
Religiöse Überzeugungen, religiöse Glaubens-Systeme und institutionalisierte Religions-Gemeinschaften bilden ein faszinierendes und geschichtsmächtiges Beispiel für die Macht der menschlichen Kommunikation. Als der homo sapiens zu denken begann, konstruierte er Mythen über die Herrschaftsverhältnisse in seiner Gemeinschaft, über das Schicksal nach dem Tod, über den Ursprung der Dinge und über Bändigung der feindlichen Kräfte der Natur. Die Versuche, die Legitimität der Machthaber zu erklären und die Angst wenigsten mental zu bewältigen, hatten eine Form, wie wir heute als „religiös“ bezeichnen. Religiöse Geschichten erzählen davon, wie die Menschen sich aus einer höheren Perspektive gesehen und verstanden haben, sozusagen „von oben“, aus einer mentalen „Vogelperspektive“. Religion ist die frühe, archaische Urform des vergeistigten Denkens.
Diese Form des Denkens steht mit ihren Ritualen und ihren Gesängen noch ganz im Bann der körperlichen Empfindungen. Der homo sapiens hat ein ungeheures Bedürfnis entwickelt, komplizierte Geschichten über die Ursprünge von allem zu erzählen und eindrucksvolle Gedankengebäude aufeinanderzutürmen, um sich aus der Distanz zu betrachten und zu begreifen. Das beeindruckt die Menschen - ihre gesungenen Gebete verbreiten aber Zuversicht durch die gefühlte Geborgenheit. Wenn religiöse Vergeistigung heute noch attraktiv ist, dann trotz aller vernünftigen logischen Einwände - weil bei der religiösen Kommunikation das Gefühl im Zentrum steht.
Religiös gebundene Menschen empfinden ihre Beziehung zu Gott. Religiöse Riten zelebrieren das gemeinsame Gefühl. Es müssen viele Worte gemacht werden, die Götter haben die Schrift erfunden, die Schriftform ist geradezu die göttliche Form der Offenbarung, das gehört zu ihrer Autorität. Die schriftsprachlich basierten Formen der Suche nach höherer Weisheit beherrschen das Denken – aber im Kern des Glaubens geht es weiter um Emotionen. Der gefühlte Glaube ist die höchste Form des archaischen Geistes.
Das Wort „heilig“ signalisiert heute noch, dass hier quer durch das ansonsten profane Leben eine magische Grenze verläuft: Schriften werden zu „Heiligen Texten“, sterbliche Menschen zu Heiligen und Gegenstände zu „heiligen Reliquien“. Menschen sterben gern für ihre Religion. Solche Gefühle sind religionsübergreifend und sie überdauern historische und gesellschaftliche Veränderungen – es gibt auch im 21. Jahrhundert keine Gesellschaft ohne Religion. Auch die Aufklärung und Jahrzehnte des militanten Atheismus in den Staaten des „realen Sozialismus“ haben den Menschen die Religion nicht austreiben können. Offenbar gibt es ein Bedürfnis nach emotionaler Verankerung einer großen mentalen Überzeugung, die gibt es in ganz unterschiedliche Erzählungen und in unterschiedlichen Epochen und Kulturen. Der Versuch, den Kommunismus als „vernunftbasierte“, zivile Ersatzreligion zu verbreiten, ist gründlich gescheitert. Religion sei das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ hat Friedrich Schleiermacher 1799 (!) formuliert, „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Der Mensch, der sich aus der Vogelperspektive sieht, erschrickt und sucht Erdung.
Der Ursprung des religiösen Empfindens ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Geborgenheit in einer großen Gruppe, die von den die engen familiären Banden nicht mehr zusammengehalten werden kann. Die göttlichen Herrscherfiguren sind die nicht nur Abbilder der menschlichen Herrscher, die menschlichen Herrscher sind göttliche Weihe und Macht, sie sind gottähnlich. Es ist kein Zufall, dass im Neuen Testament für Glauben und Vertrauen dasselbe griechische Wort - pistis - verwendet wird, dass „Islam“ gleichzeitig Hingabe und Unterwerfung bedeutet. Der emotionale Kern der gewollt-gefühlten Abhängigkeit in der großen Religionsgemeinschaft ist das emotionale Bedürfnis nach Geborgensein in einer Welt von Fremdem.
Die gefühlte Religion wird kulturell entfaltet mit „unter die Haut gehenden“ körperlichen Ritualen, das Wort als Theoriegebäude der Schriftkultur kommt als sekundäre kommunikative Bindeform hinzu. Über das religiöse Gefühl erhebt sich ein ausladender erzählerischer Überbau, den der Glaubende für-wahr-halten soll, und eine gesellschaftliche Institution. Diese Institution festigt sich durch „Heilige Schriften“. Bibel wie Koran legen die Regeln der Gemeinschaft fest, auch die profanen des Erb- und Eherechts. Die Götter reden da mit den Menschen „auf Augenhöhe“. Manchmal kommuniziert der Gott groteske Sonderrechte, etwa dass Paulus jüdisches Opferfleisch essen darf. Dass der Prophet Mohammed mehr Frauen haben durfte als normale Stammesführer, diese Botschaft hat Gott ihm persönlich sozusagen von Mann zu Mann überbracht. Das Buch fixiert den erzählerischen Stoff, der die Gemeinschaft zusammenhalten soll, in der Form eines intellektuellen Überbaus, mit dem Schriftgelehrte, Rechtsgelehrte und Kirchenväter ganze Bibliotheken hochtheoretisch füllen und praktisch ihre Religionskriege und Kreuzzüge rechtfertigen.
Die Logik der Heiligen Erzählungen beschreiben wir rückblickend als „mythisch“. Aber für die archaischen Menschen in den Jäger- und Sammler-Kulturen war es eine große Anstrengung ihres Geistes, familienübergreifende Gemeinschaftsstrukturen in symbolischen Ordnungen zu stabilisieren und traumhafte Zeichen in den sichtbaren, materiellen Gegenständen der Natur zu erkennen. In animistischen Praktiken werden die Fragen der Existenz-Sicherung reflektiert, es geht um die Fruchtbarkeit, Krankheiten, das Wetter, das Jagd- und Kampf-Glück. Natur wird vergeistigt wahrgenommen. Die animistischen Kulte verbinden die sinnliche Fülle mit großen Worten.
Die Vorstellung einer Göttin der Fruchtbarkeit ermöglicht es, die Probleme der Fruchtbarkeit anzusprechen. Die Frau ist ihrer Natur ausgeliefert, aber sie kann Bitten formulieren und versuchen, die personalisierte Macht gnädig zu stimmen – mit Opfern. Diese weibliche spirituelle Tradition wirkte über den Mithras-Kult als Marien-Verehrung bis ins Christentum fort.
Rekonstruktion der Tempelanlage von Göbekli Tepe, erbaut 10.000 Jahre v.u.Z.
Vor 12.000 Jahren haben die frühen Sammler im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmondes“ begonnen, Wildgetreide anzubauen und zu mahlen. Und sie haben ein gigantisches Monument der Macht errichtet: die Tempelanlage von Göbekli Tepe. Welche Mythen wurden da in Stein gehauen? Auffällig ist, dass hier nicht der Reichtum der neuen Zeit symbolisiert wurde, das wären die kultivierten Pflanzen gewesen. Vergeblich suchten die Archäologen bisher auch nach den sonst für die Zeit typischen Fruchtbarkeits- und Frauen-Motiven. Dargestellt sind dagegen unzählige gefährliche Jagd-Tiere, meist mit erigiertem Penis.
Für den Archäologen und Ausgrabungs-Leiter Klaus Schmidt deuten diese überdimensionalen Bildnisse in Göbekli Tepe darauf hin, dass sich hier der Mann als Krone der Schöpfung denkt. Aber diese Jäger-Männer beschäftigen sich nicht mit der Zukunft, „sie stehen am Abgrund, am Abschluss ihrer großen Zeit.“ Für Carol van Schaik ist Göbekli Tepe ein Monument männlicher Macht und kündigt die Phase der patriarchalischen Religion an, die durch das sinnlose Herumschleppen riesiger Felsbrocken und ihren Aufbau in gewaltigen Steinkreisen ihre Macht visualisierten, während ihr Jagd-Erfolg tatsächlich immer weniger zur Ernährung ihrer Frauen und Kinder beitrug. Während die Spiritualität der Wildbeuter sich im Alltag manifestiert hatte durch Rituale, Tanz und Gesang, manifestiert sich die Religiosität der Sesshaften durch das sinnlose Herumschleppen riesiger Felsbrocken und ihren Aufbau zu gewaltigen Steinkreisen, Tempelanlagen und Pyramiden.
Der zu denken beginnende homo sapiens hatte das Bedürfnis, seine großen Gedanken zu materialisieren – in Bildnissen, erst kleinen, dann immer mächtigeren Götterstatuen. Die Größe der Götterstatuen demonstrierte die Macht der Götter und damit auch die ihrer Erbauer. Es ist seine symbolische Intelligenz, die den Menschen zum Kulturwesen macht (Ernst Cassirer).
Die Linie solcher architektonischen Weltwunder als medialer Botschafter der Macht setzt sich über die ägyptischen Pyramiden fort bis zu den großen Kathedralen des Mittelalters. Hunderte, später Tausende von Arbeitskräften mussten für solche Bauwerke gemeinsam schuften und von dem Wenigen, das sie hatten, noch reichlich abgeben – zum Ruhme des Herrschers und der Götter und zur Versinnbildlichung der kollektiven Sozialordnung. Und da, wo religiöse Lehren auf solche Symbolisierungen und Bilder eigentlich verzichten wollten und sich um eine Schrift herum organisierten, erzählen sie ersatzweise, dass die „Heilige Schrift“ von Gott-Allah selbst herabgereicht oder diktiert wurde.
Die Fähigkeit, mit seiner fiktiven Sprache mythische Gedanken zu denken und sich darüber auszutauschen, also sich gemeinsam Mythen vorzustellen, hat es dem homo sapiens ermöglicht, sich in größeren Gruppen zu organisieren. Die großen Machthaber großer Reiche stützten sich auf große mythische Erzählungen. Die großen Glaubens-Systeme des Christentums und des Islam konnten zu Weltreligionen werden, indem sie der staatlichen Machtentfaltung dienten und entsprechend umformten.
Mythos und Logos
In den Anfängen der antiken griechischen Philosophie, auf die die europäische Aufklärung aufbaute, suchte der menschliche Geist die weltlichen Phänomene nach einfachen abstrakten Prinzipien zu ordnen. An die Stelle des archaischen Denkens, das leibnahe Kräfte und menschenähnliche Wesen als wirkende Ursachen unterstellt, tritt die Liebe zu abstrakten Erkenntnis-Urformen und geometrischen Konstruktionen - als Struktur für „Wahrheit" gelten kreisrunde Formen, dichotomische Begriffspaare, sprachliche Logik-Formen oder Zahlen-Muster. Die antike griechische Philosophie war ein Versuch, eine neue geistige Ordnung in die Dinge zu bringen, ohne sich auf übermächtige Götterfiguren zu beziehen. In ihre Mythen haben die alten Griechen deutlich mehr Energie investiert als in pragmatische handwerkliche Fähigkeiten.
Griechisch gebildete Anhänger des jüdischen Wanderpredigers Jesus haben in den Jahrhunderten nach seinem Tod viele Elemente des griechischen Denkens integriert in ihren Kult und zu einem neuen Religions-System geformt. Das Christentum an den Hebeln der Staatsmacht hat sich dann an der Vernichtung der antiken griechischen Kultur aktiv und passiv beteiligt: Im alten Rom waren die religiösen Kulte Privatsache gewesen. Nur die Teilnahme am staatlichen Opferkult war eine Bürgerpflicht, die man als römischer Bürger erfüllen musste - wie man heute aufstehen muss beim Erklingen der Nationalhymne oder bei der Erscheinung des Staatsoberhauptes. Das Christentum als Staatskult war dagegen eine totalitäre Ideologie: Andere Kulte wurden verboten und verfolgt, ihre Heiligtümer niedergerissen, ihre Bücher verbrannt. 300 Jahre nach der Etablierung des Christentums zur Staatsreligion war die antike Bildungstradition im Herrschaftsbereich des christlichen Rom zerstört. Das Christentum ist sozusagen im „dunklen“ Mittelalter bei sich angekommen. Dieser Prozess ist ein Beispiel dafür, wie ein neuer Herrschafts-Mythos auch philosophisch überlegene Denksysteme neben sich nicht duldet.
Das Einmalige an der menschlichen Sprache ist, dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt – „Un-Worte“. Mit der alphabetischen Schrift-Sprache lassen sich Worte konstruieren, die keine Verankerung mehr haben in körperlichen Empfindungen oder visuellen Eindrücken. Wie es das Bedürfnis gibt, und traumhafte Bilder am Tage weiterzuspinnen, so gibt es das Bedürfnis, aus lauter „Un-Worten“ ein Gedankengebilde aufzutürmen und sich darüber auszutauschen.
Aus der Analyse der kommunikativen Strukturen der Religionsgeschichte lassen sich so Einblicke gewinnen in die Ursprünge des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur. Dem dienen die Texte, auf die hier besonders verwiesen wird.
zum Beispiel:
Göttliche Vernunft MG-Link Was ist Religion? Religiöse Kommunikation stiftet Sinn - für soziale Verbände und Individuen M-G-Link Die mentalen Konstruktionen von Himmel und Hölle M-G-Link Monotheismus und das Gottesbildnis-Verbot in der Geschichte - Gottes-Bilder M-G-Link Religiöse Vorstellungen als Bewusstsein ohne Ego - Gott im Kopf M-G-Link Wie Europa christlich wurde: Das Christentum als Produkt kommunikativer Formierung im Kontext der Krise der Antike M-G-Link Die Zeitalter des Islam M-G-Link
siehe u.a. auch die Texte über
Die Entstehung der Alphabetschrift – MG-Link Schrift-Denken MG-Link Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung M-G-Link Sprache Denken Mythen: Über das Denken in Anschauungsformen, in Sprachsymbolen und in Mythen M-G-Link Gehirngespinste oder: Wie das Gehirn Wirklichkeit konstruiert M-G-Link Kultur der Erzählung: Wofür der Mensch das symbolische Zeichenhandeln braucht M-G-Link Bigger than Life - Mammutjäger vor der Glotze M-G-Link
Zu Göbekli Tepe und dem Ursprung der Religion gibt es eine sehenswerte 3SAT-Dokumentation https://www.youtube.com/watch?v=Idu-t3X-cTQ
Lit. u.a. Klaus Schmidt, Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger. Die archäologischen Entdeckung am Göbekli Tepe (2006) Carel van Schaik, Kai Michel, Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern (2020)
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