Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Texte zur  Kommunikation
von Religion

 

Warum wurden die Worte Jesu nicht
schriftlich festgehalten?
 
Überlegungen zur Geschichte der Kommunikationsmittel: In der jüdischen Tradition waren
Schriftgelehrte" hoch angesehen, Schrift hatte sakrale Bedeutung - dennoch ließ Jesus seine Botschaft nicht aufschreiben. Fand er sich selbst nicht so wichtig?

2007

Im Johannes-Evangelium 8. Kapitel heißt es:
Jesus aber ging zum Ölberg. Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach:
So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

In der ganzen Bibel wird nur ein einziges Mal erwähnt, dass er geschrieben hat - und zwar auf die Erde oder in den Sand! Jesus schreibt in den Sand, den der Wind bald verwehen würde. Was schrieb er? Johannes geht lieber nicht ins Detail. Offenbar war es eine Geste. Offenbar konnte Jesus nicht schreiben.

Warum schrieb Jesus nichts auf?

Nicht nur Sokrates, auch Jesus schrieb nichts. Was Jesus gesagt hatte, wurde zu dessen Lebzeiten auch von seinen Zuhörern oder Jüngern nicht schriftlich festgehalten –  obwohl doch in der jüdischen Kultur lange Tradition war, dass die Worte der Propheten in Schriften festgehalten wurden und „Schriftgelehrte“ daraus zur Ehre Gottes vorlasen. Hielten Jesu Anhänger ihn nicht für einen Propheten? Oder gingen sie davon aus, dass sie nicht sterben würden, bevor das „Reich Gottes“ ausbrechen müsste - und dass man dafür nichts mehr notieren müsse? Bekanntlich haben die Essener (vermutlich neben ihren Schätzen) vor allem Schriften - weil sie ihnen so großen Wert beimaßen - gesammelt und in Höhlen geborgen.

Erst Jahrzehnte nach dem Tod Jesu wurden die kursierenden Geschichten hier und da aufgeschrieben, weil er nun verehrt wurde und offenbar nicht so schnell wiederkam. Wie der Prozess „kulturelles Gedächtnis“ das, was zu erzählen ist, verändert, neu formt, ergänzt, interpretiert, das analysiert die historisch-kritische Bibelforschung.

800 Jahre später wurde aus den vielen kursierenden Jesus-Schriften ein authentischer Bibel-Kanon verbindlich festgelegt. Auch aus Machtgründen.

Exkurs zu den Hebräern

Die Einführung der Schrift veränderte die Gewohnheiten des Menschen nicht sofort, verdrängte nicht sofort die alte -mündliche - Weise der Überlieferung. Man muss immer zwischen der ersten Einführung der Schrift und ihrer allgemeinen Diffusion unterscheiden. Oft dauert es mehrere Jahrhunderte, bis diese Erfindung zur allgemeinen Verfügung des ganzen Volkes verallgemeinert wird.

Die hebräische Kultur wurde so noch lange nach der Niederschrift des Alten Testaments mündlich überliefert. Das hatte seinen Grund zum Teil in den spezifischen Schwierigkeiten des Schriftsystems, in erster Linie aber in kulturellen Merkmalen dieser Gesellschaft. Dazu gehört die Tradition, die Schrift eher als eine Gedächtnisstütze zu gebrauchen und nicht als ein autonomes und unabhängiges Medium der Kommunikation. 

Die Buchrolle war in der jüdischen Tradition ein göttliches Instrument, das seinen Ort im Tempel hatte, neben der „Lade des Bundes Jahwe, eures Gottes, dass es dort wider dich zum Zeugen diene“ (Deuteronomium 31, 26), und sollte im Tempel als Heiligtum verbleiben. Für Bevölkerung blieb mündlicher Unterricht nach wie vor der einzige Weg des Lernens und das Gedächtnis die einzige Form des Bewahrens.

Erst ungefähr sechs Jahrhunderte nach der ursprünglichen Übernahme des semitischen Schriftsystems durch die Hebräer wurde ein offizieller allgemein anerkannter Text der Thora veröffentlicht, das heißt, erst zur Zeit Ezras (ca. 444 v.u.Z.) hörte das Kernstück der religiösen Tradition auf, ein „praktisch versiegeltes Buch“ zu sein und wurde für jeden, der es studieren wollte, zugänglich (Solomon Gandz).

Gleichwohl blieb, wie die zahlreichen Schmähreden gegen die Schriftgelehrten in den Evangelien zeigen, eine beträchtliche Kluft zwischen den literati und den Laien bestehen; die ersteren, die ihr Geschäft auf dem Markt ausübten, gehörten „Familien von Schreibkundigen“ an, die möglicherweise in Gilden organisiert waren, in denen das Geheimnis vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde.
In den Gesellschaften, die als erste das semitische Schriftsystem benutzten, gab es weder so etwas wie eine allgemeine Literalität noch auch nur den Gebrauch der Schrift als eines Mediums der Kommunikation durch die Mehrzahl der Mitglieder einer dieser Gesellschaften.

Schriftkultur zu den Lebenszeiten Jesu

Zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften waren Papyrus und Tinte die üblichen Schreibmaterialen. Der griechische Text wurde fortlaufend, also ohne Abstände zwischen Wörtern und Sätzen in Großbuchstaben geschrieben. 
Das Neue Testament wurde direkt in griechisch geschrieben. Dass gewisse Briefe ursprünglich in Hebräisch geschrieben und später ins Griechische übersetzt wurden, ist unwahrscheinlich, zumal sich die neutestamentlichen Schriften meistens an Juden und Heiden im Römischen Reich richteten, die nicht Hebräisch sprachen.
Vermutlich wurde der Text ursprünglich auf Papyrus geschrieben wurde. Paulus schrieb an Timotheus: „Den Mantel, den ich in Troas bei Karpus zurückgelassen habe, bringe mit, wenn du kommst, und die Bücher, besonders die Pergamentblätter." (2.Tim 4,13). Die Bücher werden Papyrusrollen gewesen sein; die Pergamente waren bestimmt Schriftrollen, die er für seine Studien brauchte. Im zweiten Jahrhundert fing man dann an, eine neue Buchform einzuführen, die Codex-Form.

In den Höhlen von Qumran waren schon hundert Jahre vor Jesus Schriftrollen gesammelt und versteckt worden. Und vermutlich auch abgeschrieben, kopiert. Mehr als hundert verschiedene Kopisten mit unterschiedlichsten Handschriften lassen sich aufgrund der geborgenen Schriftrollen feststellen. Manche Passagen sind nachträglich korrigiert und ergänzt, um Hörfehler zu beseitigen. Tintenfässer und Öllampen, die der Archäologe Roland de Vaux 1951-1956 ans Licht holte, gelten als Beweis für den regen Schreibbetrieb in Qumran. Auch wenn Jesus mit den Essenern direkt nichts zu tun gehabt haben sollte – ihr Beispiel zeigt etwas von der Schriftkultur seiner Zeit. „Es steht geschrieben“ war auch seine gängige Formel, die Autorität ausstrahlen sollte.

Aber Jesus war der Sohn eines Bauhandwerkers - und in den Zeiten war es nicht üblich, die Kinder einfacher Herkunft zu unterrichten. In der Regel erhielten diese Kinder ihre Ausbildung vom Vater, da sie auch dessen Gewerbe fortführten. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass er selbst das Lesen und Schreiben wirklich beherrschte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er auch nur Notizen aufschrieb.
Aber gleichzeitig gab es zu Zeiten Jesu eine Jahrhunderte alte Schriftkultur. Selbstverständlich waren Gottesmänner und Pharisäer „Schriftgelehrte“. Die Worte der Propheten wurden längst durch Schriften festgehalten und verbreitet. Jeder israelitische Hausherr musste die Worte des Gesetzes schreiben können (5. Mose 6,9; 11,20). Jesus hätte sicherlich einen Schreiber finden können - wenn er gewollt hätte.

Wichtiges aufschreiben?

Im Buch Jeremia (36,2) heißt es:   „… erging von Jahwe dieses Wort an Jeremia: Nimm dir eine Buchrolle, und schreib darauf alle Worte, die ich zu dir über Israel und Juda und über alle Völker gesprochen habe, seitdem ich zu dir rede ... Vielleicht werden die Leute vom Haus Juda, wenn sie hören, wie viel Unheil ich ihnen antun will, umkehren".  Interessanterweise eine Art Richterspruch. Bei Jeremia gibt es auch andere Schreibbefehle - in 30,2, dann nochmals in 36,28. Auch bei Jesaja und Habakuk werden „Tafeln“ erwähnt.

Schon bei Moses gab es den Befehl, einen Bericht über ein wichtiges Ereignis niederzuschreiben: „Halte das zur Erinnerung in einer Urkunde fest." (2. Mo 17,14). Wichtige Gebote sollten zwecks Einschärfung auf die Türpfosten geschrieben werden (5.Mose 6,9; 11,20), außerdem auf Steine (5.Mose 27,3.8). Ein israelitischer König sollte sich vom Gesetz eine Zweitschrift anfertigen lassen, um darin lebenslang lesen zu können (5.Mose 17,18)

Zurzeit Jesu fanden in den Synagogen - religionsgeschichtlich betrachtet etwas Neues! - reine Wortgottesdienste statt. Abschnitt aus den fünf Büchern Mose und den Schriften der Propheten wurden gelesen. Das machte deutlich: Heilige Worte sind in heiligen Schriften festgehalten. Und jede Synagoge benötigte zumindest einen lesefähigen Mann. 

Man kann davon ausgehen, dass bei den Synagogen auch Schulen gegründet wurden – nach dem Vorbild der hellenistischen Schulen - solche existierten bereits im 2.Jh. v.u.Z. auch in Jerusalem laut 1. Makkabäer 1,14 und 2. Makkabäer 4,9.12.14.) Der Gedanke, dass eine wichtige Botschaft schriftlich festzuhalten werden muss, dürfte Jesus bekannt gewesen sein.

Während Paulus zwanzig Jahre nach Jesu Tod wegen verschiedener Detailfragen die Arbeit des Briefeschreibens auf sich nahm, fand es niemand der Mühe wert, das Geschehen um Jesu Tod und Auferstehung niederzuschreiben. Paulus interessierte sich nicht für das Leben Jesu.

Die Evangelien sind eine Generation nach dem Tode Jesu niedergeschrieben worden. Es lebten noch Menschen, die Jesus selbst gehört hatten. Die Forschung vermutet zudem sehr frühe schriftliche Sammlungen von Worten Jesu, so genannte Logiensammlungen (Spruchquellen). Bei aller Gedächtnistreue damaliger Menschen war auch, wie die ausgesonderten apokryphen Schriften zum Kanon des Neuen Testaments zeigen, die Phantasie aktiv.
Im Lukas-Evangelium finden wir zu Beginn die Widmung an Theophilus: „... es dir, vortrefflichster Theophilus, der Reihe nach zu schreiben, damit du die Zuverlässigkeit der Dinge erkennst, in denen du unterrichtet worden bist" (Lk 1,3f). Weiter: „Da es nun schon viele unternommen haben, eine Erzählung von den Ereignissen zu verfassen, die sich unter uns zugetragen haben, wie sie uns die überliefert haben, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes gewesen sind …" (1,1f). Daran ist das „viele" bemerkenswert. 
Im Markusevangelium lässt sich für die historische Bibelforschung die nur oberflächliche Verbindung aus vielen kleineren Abschnitten, „Perikopen", zu einem Ganzen erkennen, und zwar daran, dass die Überleitung zum jeweils nächsten Abschnitt zumeist durch ein „und" (griechisch kaì) erfolgt. Jedenfalls weisen diese in sich abgeschlossenen Perikopen darauf hin, dass es bereits vor der schriftlichen Abfassung der Synoptiker mündlich Überlieferungstraditionen oder schriftlich fixierte Texte gab.

Konnten Jesu Anhänger nicht schreiben?

Waren die 12 Jünger imstande, bestimmte Inhalte sorgfältig zu behalten und weiterzugeben? Zu der jungen Jesus-Bewegung stießen erst später „Gebildete", z.B. Paulus, der auch griechische Schriftsteller kannte, außerdem jüdische Priester (Apg 6,7), Leviten wie Barnabas (Apg 4,36) und Zollbeamte wie Matthäus/Levi (Mt 9,9 und 10,3) oder Zachäus (Lk 19).

Für Jesus und seine Augenzeugen war offenbar eine authentische schriftliche Fixierung seiner Worte nicht so wichtig.