Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Texte zur Religion

Wie wir wahrnehmen,
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Augensinn Cover

Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges


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Schriftmagie Cover

Gott im Kopf

Religiöse Vorstellungen gehören zu jeder menschlichen Kultur - 
produziert werden sie als „Bewusstsein ohne Ego" im Kopf

12-2016

Wie alle Wirklichkeitsvorstellungen wird auch die Idee, dass es eine „höhere" Wirklichkeit und eine Sphäre des Göttlichen geben könnte, im Gehirn des Menschen konstruiert. Andrew Newberg hat mit Kollegen in seinem Buch „Der gedachte Gott" das zusammengetragen, was die moderne Gehirnforschung dazu zu sagen hat. Sein Fazit: Der „Drang zur Spiritualität" ist in der Biologie selbst begründet. 
Newberg, ein Radiologe, hatte eine empirische Bestätigung gesucht und gefunden: Er hatte einen langjährig meditierenden Buddhisten an einen SPECT- Scanner (Single Photon Emission Computed Tomography)  angeschlossen. Als dieser in tiefe Meditation fiel, zeigte das Gerät deutliche Aktivität eines bestimmten Teils der Stirnhirnlappen an.

Phantastische Vorstellungen gehören zur mentalen Grundausstattung des Menschen. Um handlungsrelevante Entscheidungen treffen zu können, braucht das Gehirn nicht die volle und bewusste Wahrnehmung der äußeren Welt – für viele Bedrohungssituationen würde das viel zu lange dauern. Aus einzelnen Wahrnehmungselementen konstruiert das Gehirn – oft unbewusst – die „Lage“, auf die das Lebewesen intuitiv und schnell reagieren muss. Wenn Realitätsbilder ins Bewusstsein treten, sind diese aus Wahrnehmungselementen konstruiert und zu einer kompletten Geschichte „konfabuliert“. Dieser Mechanismus des Gehirns ist die Grundlage mythischen Erlebens. 

Aus der neurobiologischen Forschung ist die faszinierende und beinahe zwanghaft sinnstiftende Arbeit des Geistes bekannt. Die Komplexität des Gehirns bringt es mit sich, das der 
homo sapiens sich abstrakt über Gefahren Gedanken machen kann und Vorsorge trifft. Diese Vorsorge kann praktisch sein – oder theoretisch: Überall wo es um unerträgliche Beunruhigungen geht, die praktisch nicht zu bewältigen sind, versucht der Geist durch eine Sinn-Konstruktion, die Ängste zu bannen. Der Geist verringert so die unerträgliche Beunruhigung, die von nicht beherrschbaren Gefahren ausgeht.

Im Zusammenhang der Entwicklung der Sprache und sprachbasierter Kultur hatte das menschliche Gehirn komplizierte Mechanismen entwickelt, um die sensorischen Informationen, die es aufnimmt, zu verarbeiten. Das Gehirn erschafft so den Geist - als Verarbeitungstechnik für die sensorischen Daten. Gedanken, Gefühle und Erinnerungen sind Hilfs-Konstruktionen, um die sensorischen Daten zu ordnen, der Geist versucht gerade zwanghaft, einen Sinn aus der Masse der Datenflüsse zu konstruieren und herauszufiltern, was sich in die Sinn-Konstruktionen nicht einfügt. Newberg nennt diese Mechanismen des Gehirns  „kognitive Operatoren". Die sinnstiftende Arbeit unseres Gehirns ist überlebenswichtig, weil sie handlungsrelevante Informationen produziert und für Handlungen irrelevante Daten ausscheidet. Dieser „para-sympathische" Mechanismus spart Energie.

In den frühesten Schriftzeugnissen der Menschheitsgeschichte finden sich Hinweise darauf, dass die Menschen vor der Zeit der großen Religionen in der Vorstellung lebten, die Stimmen der Götter direkt und unmittelbar zu hören. An "Gehörhalluzinationen" erinnert das den Psychologen Julian Jaynes. Die allerfrühestens Schnitzfiguren, die Archäologen auf ein Alter bis zu 30.000 Jahre alt datieren, waren offenbar Objekte, die in der Vorstellung ihrer Betrachter das dargestellte lebendig werden ließen, Fetische, die man sprechen hörte. Selbstverständlich führten diese Menschen die Befehle der Götter aus oder anders gesagt: ihr innerer Handlungsgrund oder die Befehle der Herrscher erschienen Ihnen wie ein göttlicher Befehl. Sie hatten kein Selbst-Bewusstein, das sie einem göttlichen Willen entgegenstellen könnten, genauso wenig wie ein Selbstverständnis, das sie dem Kollektiv entfremdet hätte. „Kollektivbewusstsein“ nannte Emil Durkheim diese Form des Bewusstseins. 

Das sumerische Atra
asis-Epos beginnt mit der Schrifttafel „Als die Götter (noch) Menschen waren“. Die Geschichte der großen Religionen beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies. Vor der Sintflut, so berichtet der babylonische Gilgamesch-Mythos, flüchteten die Götter in den Himmel. Adam und Eva wollten selbst entscheiden, was gut und böse ist, erzähle der biblische Mythos - ihr angemaßtes Selbst-Bewusstsein trennte sie von den Göttern, das ist die Vertreibung aus dem Paradies. Ihr Selbst-Bewusstsein verunsichert die Menschen gleichzeitig - das abspulte wird als ferner, unnahbarer, unsichtbarer und gleichzeitig unfehlbarer Gott gedacht, das Individualbewusstsein entwickelt sich als Schuldbewusstsein aus der kollektiven Identität heraus. 

Neurologen wie Andrew Newberg haben die Fähigkeit des Gehirns, ein „Ich-Gefühl“ zu erzeugen und so zwischen dem Selbst und der Außenwelt differenzieren zu können, untersucht und festgestellt, dass die Gehirnfunktionen, diese Orientierung leisten, bei meditierenden Buddhisten erstaunlich inaktiv werden. Bestimmte Formen der Epilepsie intensivieren die Emotionen und regen das Gehirn an, diesen gespürten Prozess mit tiefer Bedeutung zu verbalisieren und zu füllen. 

Der schwedische Neurowissenschaftler Michael Persinger hat bei mehr als 1.000 Versuchspersonen gezielt Stellen des Schläfen- und Scheitellappens mit Magnetfeldern stimuliert, 80 Prozent der Personen berichteten von dem Gefühl, ihr Körper würde schweben, sie glaubten innere Stimmen oder Instruktionen zu vernehmen. Olaf Blanke von der Universitätsklinik in Genf hat Stellen im Schläfenlappen bei Gehirn-Patienten direkt elektrisch stimuliert und die Patienten erzählten von außerkörperlichen Erfahrungen wie etwa dem Eindruck, über dem eigenen Körpers zu schweben. 

Dass das menschliche Gehirn unter bestimmten Bedingungen fremde Stimmen im Kopf hören kann, ist zudem aus der Beschreibung von Schizophrenie-Patienten bekannt. Es scheint kein Zufall zu sein, dass von vielen historischen Persönlichkeiten, von denen gesagt wird, sie hätten die Stimme Gottes gehört, gleichzeitig von Epilepsie-ähnlichen Symptomen berichtet wird, darunter Paulus, Mohammed, die heilig gesprochene Kloster-Gründerin Theresia von Avila. Fjodor Dostojewski glaubte, während seiner epileptischen Anfälle Gott berührt zu haben.  

Die außerkörperlichen Erfahrungen zeigen, dass bei der Konstruktion des Selbst-Gefühls im Gehirn die Eindrücke von außen sortiert werden müssen – auch wenn bei dieser „Realitätsprüfung“ etwas schief läuft, hält das Gehirn seine eigenen Täuschungen selbstverständlich für wahr.

Sinn-Konstruktionen - leiblich und emotional verankert

Die christliche Kirche ist ein Aufführungsraum für Gedächtnisrituale, die den sinnlich nicht wahrnehmbaren Gott für Augen, Ohren und Geruchssinn „wahrnehmbar“ werden lassen. Der Kirchenraum ist Schauraum, Hörraum, Duftraum, beim Abendmahl wird er auch zum „Schmeck“-Raum. 
Nicht der ewig zweifelnde Verstand, sondern das emotionale Bedürfnis nach einer Gewissheit macht den Menschen handlungsfähig. Während die linke Hirnhälfte also eine die komplexe Lage sachlich und logisch analysiert, führt die intuitiv, emotional sortierende rechte Gehirnhälfte die Entscheidung herbei, die dann nur noch vernünftig erzählt werden muss, so fasst Newberg diesen Prozess zusammen. Die religiöse Wahrheit ist „wirklich” in diesem Sinne, 
„höher als jede Vernunft”. Sie lässt sich nur erspüren und vergewissert sich durch den kollektiven rituellen Kult.

Als höhere „Wirklichkeit” werden Konstruktionen des Geistes normalerweise nur anerkannt, wenn sie bestätigt und geteilt werden von Bezugspersonen. Gemeinschaften nutzen solche Mythen, um ihren Zusammenhalt zu organisieren und die Zumutungen des Zusammenhalts zu legitimieren. Der Glaube erhöhte schon immer den Zusammenhang der Gruppe und damit die Überlebenschance auch jedes Einzelnen.

Der Tod verliert seinen Stachel durch die Vorstellung, dass die Seele des Verstorbenen wie der Rauch des Feuers gen Himmel steigt. Insbesondere angesichts des Todes versprechen die Mythen aller erfolgreichen religiösen Kulturen der Weltgeschichte Trost und innere Ruhe.

Es ist kein Zufall, dass gerade die religiöse Kommunikation vielfältige Rituale kennt. Schon die tierische Kommunikation kennt Rituale der Begrüßung, um Angst abzubauen und Respekt zu zeigen, faszinierende Paarungsrituale wie das des Perlmuttfalters bereiten biologische Resonanz und soziale Bindung vor. Rituale sind eine grundlegende Form der nichtsprachlichen Kommunikation. 
Rituale bedienen sich rhythmischer Musik, die die Fähigkeit des Gehirns beeinträchtigt, die Grenze des eigenen Selbst zu empfinden. Die Rhythmen der Musik und des Tanzes können ein wohliges leichtes Gefühl der Selbsttranszendenz schaffen.

Emotionen und Erzählungen

Die emotionale Wirkung des Rituals in menschlichen Kulturen hängt dabei in auffallender Weise von seinem kognitiven Kontext ab, von seiner Einbindung in eine kollektiv empfundene „Erzählung". Die Rituale der menschlichen Kulturen sind immer eine Synthese von Rhythmus und Bedeutung. Das Ritual hilft dann dabei, dass man das, woran alle glauben, auch spüren kann.

Die Erzählungen der Religionen benutzen höchst irdische Bilder zur Ausschmückung der krimihaft komplexen Details der göttlichen Welten, sie schaffen bei allen ihren Unterschieden in vergleichbarer Weise eine existentielle Versicherung angesichts der bedrohlichen Schatten im Selbst-Verständnis des Menschen. In archaischen Religionen mischen sich menschliche und göttliche Sphären ungeniert – auch bei Moses in der Bibel - in bis hin zu sexuellen Beziehungen. Der Bezug zur göttlichen Allmacht wird nach dem Modell menschlicher Verträge gedacht - die Menschen bringen Opfer, die Götterwelt sorgt im Gegenzug für Regen, gute Ernten und Siege in den Kriegen.

In der kulturgeschichtlichen Entwicklung religiöser Erzählungen werden Menschenopfer erst durch Tieropfer und schließlich durch individualsierte Verhaltensnormen - Glaube, Gehorsam, Gebet - ersetzt, von den Opfern wird nur noch rituell erzählt. So steht im christlichen Mythos noch heute das archaische Menschenopfer - Gott opfert seinen eigenen Sohn -  im Zentrum des Erlösungsgedankens.

Ausgangspunkt der Menschwerdung ist die embryonale Verschmelzung der Körper. Erst mit der Entwicklung des kindlichen Gehirns entwickelt sich ein Selbst-Konzept aus der Koordination von Erfahrungen der Interaktionen zwischen dem Kind und seiner Umwelt  - das Selbst entsteht als Konglomerat von Gefühls-Erinnerungen und Handlungs-Erfahrungen in der Abgrenzung der eigenen Intentionen zu den Intentionen des anderen (Michael Tomasello). Offenbar, so Newberg, bleibt es geradezu ein neurobiologisches „Bedürfnis", die engen Grenzen des eigenen Selbst zu transzendieren in Erinnerung an die frühkindliche Verschmelzung.

Alle mystischen religiösen Kulturen haben ihre meditativen Praktiken, vom Sufi-Tanz bis zu mantrischen Gebets-Ritualen, um das Empfinden des Selbst zu blockieren. Die Sprache der Mystik ähnelt in allen Kulturen der Sprache, mit der sexuelle Erfüllung beschrieben wird. Beide Erfahrungen, so Newberg, basieren auf einer gleichzeitigen Stimulation des Erregungs- und des Beruhigungssystems und zeigen sich dem Neurobiologen in Form der Aktivierung „ähnlicher neurologischer Bahnen". 

Offenbar gibt es im Gehirn einen Mechanismus, mit dem das Ich-Empfinden von dem „normalen" sensorischen Input abgeschnitten wird. Das „Bewusstsein ohne Ego" ist „neurobiologisch nicht in der Lage, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem begrenzten persönlichen Selbst und der äußeren, dinglichen Welt zu unterscheiden" (Newberg) Das Gehirn sucht nach Erklärungen in diesem „Selbst-losen" Zustand und greift zurück auf Erzählungen einer transzendenten Realität - der Mensch, der in mystischer Versenkung sein Ego transzendieren will, muss die Erzählung allerdings schon kennen und erfahren wollen, um sich in sie hinein konfabulieren zu können.

 

PS: Newberg formuliert die Hoffnung, dass die neobiologischen Gemeinsamkeiten religiöser Mythen dazu führen könnten, dass die Vertreter der Religionen ihr Strebens nach Einheit mit dem Universellen als gemeinsame Erfahrung verstehen und somit Frieden (untereinander) verbreiten könnten. 
Das mag auf meditierende Individuen zutreffen. Aber überall da, wo das religiöse Bedürfnis in Gemeinschaftsbildung eingebunden ist, werden die kulturspezifischen Besonderheiten zu Kampfplätzen der vielfältigen profanen Interessenkonflikte der religiös identifizierten Gemeinschaften. Da Religionsstifter darauf angewiesen sind, dass ihre Offenbarung Resonanz findet, lassen sich Religionen instrumentalisieren für die profanen Interessenkonflikte. 
Der Unterschied von Mission zu Kreuzzug liegt nur noch in der machtpolitischen Gelegenheit. Die meisten Götter werden wie der Alttestamentarische und auch der der Christen im tausendjährigen christlichen Mittelalter als „eifernde" Machthaber gedacht. Nur machtlose Heilige sind friedlich und tolerant.