Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


Links zu den Abschnitten

III
Medien-
Theorie

Vom Gehirn zum Bewusstsein

Der Neurobiologe Wolf Singer hat sich mit der Frage befasst, wie das menschliche Gehirn
ein Bewusstsein seiner selbst und damit ein ICH konstruieren könnte.
Auszüge seines Aufsatzes „Vom Gehirn zum Bewusstsein“:

(…) Bei der Betrachtung der Evolution, und das gilt für Organismen und Organe gleichermaßen, also auch für die Evolution von Nervensystemen, fasziniert die Beständigkeit, mit der frühe Erfindungen über Jahrmillionen hinweg konserviert wurden. Nervenstrukturen, die bereits zu Beginn der Evolution von Nervennetzen, also schon von Invertebraten entwickelt wurden, finden sich nahezu unverändert in den Nervensystemen der spät hinzugekommenen Säugetiere wieder. Die charakteristischen Merkmale von Nervenzellen, die Ausbildung von Dendritenbäumen, über die sie  Information von anderen Nervenzellen empfangen, und von Axonen, mit denen sie Kontakt zu nachgeschalteten Nervenzellen aufnehmen, diese Polarisierung in einen Empfänger- und Senderbereich ist seit Jahrmillionen unangetastet erhalten geblieben. Unverändert geblieben sind auch fast alle biochemischen Bestandteile dieser Zellen. Etwa 90% der Gene, die in menschlichen Nervenzellen exprimiert sind, finden sich, abgesehen von kleinen, funktionell wenig relevanten Modifikationen, auch schon in Nervenzellen von Schnecken.

Was in diesen Weichtieren über zelluläre Eigenschaften zu lernen ist, läßt sich in der Regel direkt auf höhere Säuger und den Menschen übertragen. Konserviert sind erstaunlicherweise auch bis ins Detail die chemischen Überträgersubstanzen, über welche Nervenzellen miteinander kommunizieren. In den Synapsen, den Kontakten zwischen Nervenzellen, wird durch Freisetzung einer chemischen Überträgersubstanz die elektrische Aktivität der sendenden Zelle in ein chemisches Signal umgesetzt, das dann seinerseits über Rezeptoren und gekoppelte Ionenkanäle in der nachgeschalteten Zelle wiederum elektrische Potentiale erzeugt. Es gibt fast keine Überträgersubstanzen im Säugetiergehirn, die nicht auch schon in einfachen Organismen, wie Insekten und Schnecken, zu finden wären. Konserviert worden ist auch der allgemeine Bauplan von Gehirnen, vor allem der von Chordaten, also jenen Spezies, die über ein Rückenmark verfügen.

Bei allen Gehirnen, ob von Fischen, Reptilien oder Säugern, läßt sich die gleiche Unterteilung in Vorderhirn, Riechhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn und Hirnstamm vornehmen. Diese Unterteilungen ergeben sich aufgrund der Konnektivität der verschiedenen Zentren und der regionalen Expressionsmuster hirnspezifischer Gene.

Besonders auffällig sind diese Ähnlichkeiten natürlich zwischen den Gehirnen von Säugetieren. Die hoch entwickelten Gehirne von Primaten unterscheiden sich von den Gehirnen anderer Säuger vornehmlich durch die enorme Volumenzunahme der Großhirnrinde. Es ist jedoch keineswegs so, dass wir Menschen das größte Gehirn besitzen; Größe ist notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Komplexität und Leistung; es kommt auch und vor allem auf die Verschaltung der Nervenzellen an. Dennoch gilt, dass all die kognitiven Eigenschaften, die Säugetiere voneinander und den Menschen von diesen unterscheiden, einzig und allein auf einer Volumenzunahme der Großhirnrinde, auf einer Vermehrung von Hirnrindenarealen, beruhen. Außer diesem quantitativen Unterschied lässt sich keine wesentliche Veränderung im Aufbau der verschiedenen Gehirne ausmachen.

Bei der Großhirnrinde handelt es sich um eine etwa zwei Millimeter dünne gefaltete Schicht von dicht gepackten Nervenzellen, die gemeinhin als graue Substanz bezeichnet wird, im Gegensatz zu der darunter liegenden weißen Substanz, die aus Leitungsbahnen besteht. In einem Kubikmillimeter Hirnrinde drängen sich etwa vierzigtausend Nervenzellen, die untereinander aufs innigste in Verbindung stehen.                   63

Eine Nervenzelle kontaktiert etwa zwanzigtausend andere und empfängt von ebenso vielen ihre Eingangssignale. Dabei kommunizieren sowohl Nervenzellen miteinander, die in unmittelbarer Nachbarschaft angeordnet sind, als auch Zellen, die weit entfernt in verschiedenen Hirnstrukturen liegen. Über Einzelheiten dieser Verbindungsarchitekturen wird noch zu sprechen sein. Die Evolution höherer kognitiver Leistungen scheint also ganz vorwiegend auf der Vergrößerung dieses dünnen Mantels von Hirnrindenzellen zu beruhen. Bestechend ist dabei, dass diese Struktur im Laufe der Evolution ihre interne Organisation nahezu unverändert beibehalten hat. Die Großhirnrinde der Maus ist von der des Menschen kaum zu unterscheiden.

Dies hat wichtige Implikationen für die Beurteilung der Mechanismen, auf welchen die Evolution neuer Funktionen beruht. Anders als in technischen Systemen ist im Gehirn keine Trennung zwischen Hard- und Software möglich. Im Gehirn wird das Programm für Funktionsabläufe ausschließlich durch die Verschaltungsmuster der Nervenzellen festgelegt. Die Netzstruktur ist das Programm. Die Algorithmen, nach denen die Großhirnrinde arbeitet, haben sich somit im Laufe der Evolution kaum verändert. Es sind lediglich mehr Areale hinzugekommen. Dies bedeutet, erstens, dass die von der Großhirnrinde erbrachten Verarbeitungsleistungen sehr allgemeiner Natur sein müssen und, zweitens, dass die Iteration eben dieser, im Prinzip gleichen Prozesse neue, qualitativ verschiedene Funktionen hervorbringen kann.

Die Hirnrinde lässt sich aufgrund anatomischer und funktioneller Kriterien in Regionen einteilen. Im parietalen und temporalen Bereich liegen Areale, die sich mit der Verarbeitung visueller Signale befassen, dazwischen finden sich Areale, die akustische Aktivität vermitteln, und wenn es sich um die sprachdominante Hirnhälfte handelt, liegen hier auch Areale, die sich mit der sensorischen Verarbeitung von Sprachmaterial befassen. Ferner gibt es Areale, die sich mit der Körperfühlsphäre auseinandersetzen, also mit den Signalen, die von den Rezeptoren im Körper vermittelt werden. In frontalen Rindenfeldern werden Bewegungsprogramme erstellt, und in der dominanten Hemisphäre wird hier zusätzlich die Sprachproduktion verwaltet. Schließlich sind da die stammesgeschichtlich relativ rezenten praefrontalen Areale, die für die Handlungsplanung und vermutlich auch für die Einbindung in soziale Gefüge zuständig sind.                   64

Hier findet sich auch der Kurzzeitspeicher, der es uns ermöglicht, Reaktionen auf Reize aufzuschieben und Handlungsentwürfe gegeneinander abzuwägen.

Das Bestechende an dieser funktionellen Unterteilung ist, dass die interne Struktur der verschiedenen Hirnrindenareale praktisch identisch ist, obgleich sie doch offensichtlich ganz verschiedene Funktionen wahrnehmen. Nur der Spezialist ist in der Lage, ein histologisches Präparat, das von der Sehrinde entnommen wurde, von einem zu unterscheiden, das von der Sprachregion stammt. Es gibt feine Unterschiede, aber die generelle Organisation, die Verschaltung, ist nahezu identisch. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass in der Hirnrinde ein Verarbeitungsalgorithmus realisiert wird, der zur Behandlung unterschiedlichster Inhalte taugt und dessen Iteration alleine offenbar zu immer höheren kognitiven  Leistungen führen kann.

Welches nun sind die Leistungen, die in der Hirnrinde erbracht werden, oder allgemeiner gefragt, welches sind die grundlegenden Funktionsprinzipien, nach denen Gehirne organisiert sind?

Das Bindungsproblem

Bis vor kurzem, und wohl schon seit geraumer Zeit, sind Fachleute wie Laien gleichermaßen, der Intuition folgend, davon ausgegangen, daß irgendwo im Gehirn ein Konvergenzzentrum existieren müsse, wo alle Signale, die über die Sinnesorgane gesammelt werden, konvergieren, um dort einer einheitlichen Interpretation zugeführt zu werden. Es wäre dies dann auch der Ort, wo Handlungsentwürfe erarbeitet und Entscheidungen gefällt werden; und für die, welche dualistische Positionen bevorzugen, wäre dies auch der Ort, wo der mit mentalen Eigenschaften ausgestattete  Homunkulus wirkt, der über alle Hirnfunktionen wacht und koordinierend tätig ist. Aber selbst wer monistischen Positionen zuneigt, ist versucht, wenn er seiner Intuition folgt, ein hierarchisches oder pyramidales Ordnungsprinzip zu postulieren - ganz so, wie es Descartes natürlich und unvermeidlich schien. Nun hat uns die moderne Neurobiologie belehrt, daß wir alle, Descartes eingeschlossen, irrten, dass die tatsächliche Organisation des Nervensystems auf dramatische Weise verschieden ist.                      65

Es trifft zwar immer noch zu, und ich will dies am Beispiel des Sehsystems illustrieren, dass  die ersten Schritte der Informationsverarbeitung dem seriellen Prinzip folgen. Licht wird im Auge durch Photorezeptoren in neuronale Aktivität umgewandelt, und diese elektrischen Signale gelangen über Fasersysteme zum Thalamus und dann zur primären Sehrinde. Ab dann aber dominiert das Prinzip der Parallelverarbeitung. Die Verarbeitungswege verzweigen sich auf zahlreiche, oft parallel angeordnete Areale, die fast alle reziprok miteinander verbunden sind. Auch imponiert die Fülle von Rückkopplungsbahnen. Es existiert kaum eine Vorwärtsverbindung, die nicht von einer quantitativ mächtigeren Rückwärtsverbindung parallelisiert wird.

Zudem haben wir inzwischen gelernt, daß in all diesen Arealen ganz unterschiedliche Aspekte der Sehwelt abgearbeitet werden. In Arealen des so genannten dorsalen Verarbeitungsweges, der vorwiegend Regionen des Parietallappens einschließt, werden hauptsächlich Signale über die Bewegung und die Lokalisation von Objekten im Raum verarbeitet. Hier wird auch die Form von Objekten analysiert, aber nur bezüglich der Parameter, die für die Programmierung von Greifbewegungen relevant sind. Die Areale dagegen, die den ventralen Pfad ausmachen und im Temporallappen liegen, führen Analysen aus, die für die Objektidentifikation unerlässlich sind.

Vergebens sucht man jedoch nach Konvergenzzentren, die am Ende der Verarbeitungswege liegen könnten. Areale im Frontallappen, die bei isolierter Betrachtung des visuellen Systems als mögliche Konvergenzzentren in Erscheinung treten, befassen sich lediglich mit der Kontrolle der Aufmerksamkeit und sorgen dafür, dass wir unsere Augen und unseren Kopf den interessanten Objekten zuwenden, nachdem die vielen anderen Areale in einem kompetitiven Abstimmungsprozess entschieden haben, was interessant ist.

Wenn jedoch die anderen Sinnessysteme und die motorischen Zentren in das Verbindungsdiagramm miteinbezogen werden, ergibt sich eine Netzwerkarchitektur, die jeden Hinweis auf eine pyramidale Organisation mit einem Konvergenzzentrum an der Spitze vermissen lässt. Man sieht sich vielmehr einem hoch distributiv und parallel organisierten System gegenüber, das auf außerordentlich komplexe Weise reziprok vernetzt ist. Und dies wirft die kritische Frage auf, wie diese vielen gleichzeitig ablaufenden Verarbeitungsprozesse so koordiniert werden können, dass kohärente Interpretationen der Welt erstellt, sinnvolle Entscheidungen getroffen und gezielte Handlungsentwürfe programmiert werden können.       66

Es gibt hier keinen Agenten, der interpretiert, kontrolliert und befiehlt. Koordiniertes Verhalten und kohärente Wahrnehmung müssen als emergente Qualitäten oder Leistungen eines Selbstorganisationsprozesses verstanden werden, der alle diese eng vernetzten Zentren gleichermaßen einbezieht. Zu klären, wie diese Koordination erfolgt, ist eine der großen Herausforderungen, mit denen sich die Neurobiologie im Augenblick beschäftigt. Wir bezeichnen dieses Problem als das Bindungsproblem. Ich will hier nicht ins Detail gehen, weil ich 1999 in einer Spezialausgabe der Zeitschrift Neuron über dieses Problem ausführlich berichtet habe. (Singer I999a)

Die Struktur von Bindungsproblemen, die in solch distributiv organisierten Systemen gelöst werden müssen, lässt sich auch an scheinbar einfachen Wahrnehmungsakten veranschaulichen. Wenn man eine beliebige Szene betrachtet und sich dabei  vergegenwärtigt, dass diese auf der Netzhaut lediglich eine zweidimensionale Helligkeitsverteilung erzeugt, wird deutlich, welch immense Leistung das Sehsystem erbringen muss, um die in der Szene enthaltenen Figuren vom Hintergrund abzugrenzen und zu identifizieren.

Unsere Sehzentren müssen von den vielen Konturen und Helligkeitsunterschieden jene herausfinden, die konstitutiv für eine bestimmte Figur sind, diese perzeptuell binden und dann gemeinsam interpretieren. Es muss also wieder ein Bindungsproblem gelöst werden. Würde dieses Bindungsproblem falsch gelöst, würden z.B. die Konturen von Objekten mit Konturen des Hintergrundes verbunden, wäre es natürlich unmöglich, die Objekte zu erkennen.  (…)               67

Von Repräsentationen zum Bewusstsein

(…) Wie kommt es, dass wir nicht nur das in unserem Gehirn repräsentieren können, was in der Umwelt vorhanden ist, sondern dass wir uns dessen auch bewusst sein können, dass wir uns gewahr sind, Wahrnehmungen und Empfindungen zu haben, ein Phänomen, das die Angelsachsen als phenomenal awareness ansprechen. Diese Fähigkeit scheint zu erfordern, dass es im Gehirn kognitive Strukturen gibt, welche die Repräsentation des Draußen noch einmal reflektieren, noch einmal auf die gleiche Weise verarbeiten wie die periphären Areale die sensorischen Signale aus der Umwelt und dem Körper. Die Funktion des „inneren Auges“ könnte gedacht werden als Folge der Iteration, der wiederholten Anwendung auf sich selbst, der gleichen kognitiven Operationen, die den unreflektierten Primärrepräsentationen des Draußen zugrunde liegen.

Nun gibt es tatsächlich Hinweise, dass die in der Evolution später hinzugetretenen Hirnrindenareale ihre Eingangssignale nicht mehr direkt von den Sinnesorganen beziehen, sondern von den bereits vorhandenen stammesgeschichtlich älteren Arealen, die ihrerseits mit den Sinnesorganen verbunden sind. Die neuen Areale scheinen die Signale, die sie von den alten, von den primären Arealen bekommen, auf die gleiche Weise zu verarbeiten wie letztere die Signale, die sie von den Sinnesorganen erhalten. So ließen sich im Prinzip durch Iteration der immer gleichen Repräsentationsprozesse Metarepräsentationen aufbauen - Repräsentationen von Repräsentationen -, die hirninterne Prozesse abbilden anstatt die Welt draußen.         70

Solche Metarepräsentationen aufbauen zu können bringt Vorteile. Gehirne, die dies vermögen, können Reaktionen auf Reize zurückstellen und Handlungsentscheidungen abwägen, sie können interne Modelle aufbauen und den erwarteten Erfolg von Aktionen an diesen messen. Sie können mit den Inhalten der Metarepräsentationen spielen und prüfen, was die Konsequenzen bestimmter Reaktionen wären. Die Möglichkeit, Metarepräsentationen aufzubauen,  befähigt zu umsichtigem Handeln und erlaubt damit, Gefahren präventiv aus dem Weg zu gehen. Letztlich kann in dieser Fähigkeit zum kombinatorischen Spiel mit gespeicherten Inhalten, zur Erzeugung neuer praediktiver Modelle, die Grundlage für Kreativität gesehen werden.

Wie bedeutend die Rolle dieser internen Mustererzeugung, dieser internen Modellbildung ist, läßt sich mit Hilfe nicht-invasiver bildgebender Verfahren, z. B. der funktionellen Kernspintomographie, demonstrieren. Mit diesen Techniken lässt sich am menschlichen Gehirn feststellen, welche Hirnrindenareale aktiv werden, wenn man sich etwas vorstellt. Ein robustes Ergebnis solcher Untersuchungen ist, dass eine Vielzahl von Arealen in gleicher Weise aktiv werden, unabhängig davon, ob z.B. visuelle Muster tatsächlich gesehen oder nur vorgestellt werden. Insbesondere die höheren Areale, also jene, denen die Erstellung von Metarepräsentationen obliegt, werden auch aktiv, wenn sich die Probanden bestimmte Inhalte nur vorstellen - und diese interne Aktivierung ist modalitätsspezifisch. Bei visuellen Vorstellungen werden visuelle Areale aktiv und beim stummen Sprechen die Sprachareale. Aber es gibt auch Areale, die nur bei der Vorstellung aktiv werden und nicht bei der Wahrnehmung realer Inhalte. Diesen Arealen fällt die Aufgabe zu, die Aktivität in den spezifischen Arealen zu orchestrieren, in denen die zur Vorstellung erforderlichen Repräsentationen gespeichert liegen. Schließlich fallen einige Areale auf, die tatsächlich nur bei der Wahrnehmung realer Inhalte aktiviert werden. Es sind dies die phylogenetisch alten, primären, sensorischen Areale, die ihre  Eingangssignale vorwiegend von den Sinnesorganen beziehen.

Unter bestimmten pathologischen Bedingungen, z. B. bei Halluzinationen, werden intern generierte Aktivitätsmuster als von draußen kommend wahrgenommen. In solchen Fällen ändern sich dann die Verteilungsmuster der Hirnrindenaktivität. Anders als beim Gesunden, der sich etwas vorstellt oder stumme Sprache spricht, werden bei halluzinierenden Patienten auch die primären Sinnesareale mit aktiviert.    71

Bei akustischen Halluzinationen betrifft dies die primäre Hörrinde in der Heschelschen Querwindung der linken, sprachdominanten Hemisphäre. Jedes Mal, wenn der halluzinierte Sprecher spricht, und die Patienten können das genau angeben, lässt sich eine Zunahme der Hirnaktivität messen. Die Aktivierung des primären sensorischen Areals erfolgt vermutlich über Rückkopplungsschleifen, die von höheren Hirnrindenarealen kommen. Wenn dieses primäre Areal in der sprachkompetenten Hemisphäre mit aktiviert wird, werden die selbsterzeugten Erregungsmuster offenbar so wahrgenommen, als kämen sie von draußen. Werden diese primären Areale nicht mit aktiviert, wie es bei Gesunden der Fall ist, wenn sie stumme Sprache sprechen, bleibt die Wahrnehmung des Gesprochenen als Selbsterzeugtes erhalten.

Diese Beispiele sollten deutlich machen, wie groß bei Wahrnehmungsprozessen der Anteil selbstgenerierter Aktivität sein kann. Es bestätigt dies auf eindrucksvolle Weise, was wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen nahelegen: dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat.

Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Voraussagen bestätigt, erfolgt die Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muss das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeiten verlängert. In den meisten Fällen dürfte sich der Wahrnehmungsakt jedoch auf das Bestätigen bereits formulierter Hypothesen beschränken. (…)            

Das Subjekt als kulturelles Konstrukt

Unbehandelt blieb bisher (…) die Frage nach unserem Selbstbewußtsein, nach unserer Erfahrung, ein autonomes, freies Ich zu sein.
Nach meinem Dafürhalten lässt sich diese Frage nicht mehr allein innerhalb neurobiologischer Beschreibungssysteme behandeln, da diese sich ausschließlich an der naturwissenschaftlichen Analyse einzelner Gehirne orientieren, siehe hierzu den Aufsatz von Singer (2000). Mir scheint hingegen, dass die Ich-Erfahrung bzw. die subjektiven Konnotationen von Bewusstsein kulturelle Konstrukte sind, soziale Zuschreibungen, die dem Dialog zwischen Gehirnen erwuchsen und deshalb aus der Betrachtung einzelner Gehirne nicht erklärbar sind. Die Hypothese, die ich diskutieren möchte, ist, dass die Erfahrung, ein autonomes, subjektives Ich zu sein, auf Konstrukten beruht, die im Laufe unserer kulturellen Evolution entwickelt wurden. Selbstkonzepte hätten dann den ontologischen Status einer sozialen Realität. In die Welt kamen diese wie die sie ermöglichenden Kulturen erst, nachdem die Evolution Gehirne hervorgebracht hatte, die zwei Eigenschaften aufwiesen:
erstens, ein inneres Auge zu haben, also über die Möglichkeit zu verfügen, Protokoll zu führen über hirninterne Prozesse, diese in Metarepräsentationen zu fassen und deren Inhalt über Gestik, Mimik und Sprache anderen Gehirnen mitzuteilen; und,
zweitens, die Fähigkeit, mentale Modelle von den Zuständen der je anderen Gehirne zu erstellen, eine ‚theory of mind’  aufzubauen, wie die Angelsachsen sagen. Diese Fähigkeit ist dem Menschen vorbehalten und fehlt dem Tier. Allenfalls Schimpansen haben eine wenn auch sehr begrenzte Möglichkeit, sich vorzustellen, was im anderen vorgeht, wenn er bestimmten Situationen ausgesetzt ist.           73

Wir Menschen können dies in hervorragender Weise und sind deshalb in der Lage, in Dialoge einzutreten der Art „ich weiß, dass du weißt, wie ich fühle“ oder „ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, wie du fühlst“ usw. Interaktionen dieser Art führen also zu einer iterativen wechselseitigen Bespiegelung im je anderen. Diese Reflexion wiederum ist, wie ich glaube, die Voraussetzung dafür, dass  der Individuationsprozess einsetzen kann, dass die Erfahrung, ein Selbst zu sein, das autonom und frei agieren kann, überhaupt möglich wird.

(…) Der Dialog, der den Individuationsprozess erst möglich macht, vollzieht sich bereits in der frühen Kindheit und erlaubt erste Ich-Identifikationen schon nach den ersten paar Lebensjahren. Dieser frühe Dialog zwischen Bezugsperson und Kind vermittelt diesem in sehr prägnanter und asymmetrischer Weise die Erfahrung, offenbar ein autonomes, frei agierendes, verantwortliches Selbst zu sein, hört es doch ohne Unterlass: „tu nicht dies, sondern tu das, lass das, sonst “, oder „mach das, andernfalls!“ Diese Hinweise sind in idealer Weise dazu angetan, dem Kind klarzumachen, dass es offensichtlich frei ist, zu entscheiden, was zu tun ist, und dass es für seine Entscheidung zur Verantwortung gezogen, belohnt oder bestraft werden kann. Wichtig für mein Argument ist nun, dass dieser frühe Lernprozess in einer Phase sich ereignet, in der die Kinder noch kein episodisches Gedächtnis aufbauen können. Wir erinnern uns nicht an die ersten zwei bis drei Lebensjahre, weil in dieser frühen Entwicklungsphase die Hirnstrukturen noch nicht ausgebildet sind, die zum Aufbau eines episodischen Gedächtnisses erforderlich sind. Es geht dabei um das Vermögen, Erlebtes in raumzeitliche Bezüge einzubetten und den gesamten Kontext des Lernvorganges und nicht nur das Erlernte selbst zu erinnern. Zwar kann auch ohne episodisches Gedächtnis gelernt werden, es fehlt aber dann die kontextuelle Einbettung des Gelernten: Man weiß das Gelernte, spürt das Erfahrene, aber weiß nicht, woher das Wissen, woher die Erfahrung kommt. Was Kleinkinder wissen, wissen sie an sich. Fragt man sie, woher sie dies oder jenes wissen, dann werden sie sagen, dies sei halt so, selbst wenn ihnen das Abgefragte erst vor kurzem beigebracht wurde. (…)               74

Aus neurobiologischer Sicht liegt somit der Schluss nahe, dass auch die höheren Konnotationen von Bewusstsein, die wir mit unseren Konzepten von Freiheit, Identität und Verantwortlichkeit verbinden, Produkt eines evolutionären Prozesses sind, der zunächst Gehirne hervorgebracht hat, die in der Lage waren, eine Theorie des Geistes zu erstellen und mentale Modelle der Befindlichkeit des je anderen zu entwerfen. Dies und die Herausbildung differenzierter Sprachen ermöglichte die Entwicklung von Kommunikationsprozessen, die schließlich zur Evolution menschlicher Kulturen führte und zur Emergenz der nur den Menschen eigenen subjektiven Aspekte von Bewusstsein.

Wenn dem so ist, wenn also die subjektiven Konnotationen von Bewusstsein Zuschreibungen sind, die auf Dialogen zwischen sich wechselseitig spiegelnden Menschen gründen, dann ist zu erwarten, dass die Selbsterfahrung von Menschen kulturspezifische Unterschiede aufweist. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass bestimmte Inhalte dieser Selbsterfahrung, beispielsweise die Überzeugung, frei entscheiden zu können, illusionäre Komponenten haben. Im Bezugssystem neurobiologischer Beschreibungen gibt es keinen Raum für objektive Freiheit, weil die je nächste Handlung, der je nächste Zustand des Gehirns immer determiniert wäre durch das je unmittelbar Vorausgegangene.

Variationen wären allenfalls denkbar als Folge zufälliger Fluktuationen. Innerhalb neurobiologischer Beschreibungssysteme wäre das, was wir als freie Entscheidung erfahren, nichts anderes als eine nachträgliche Begründung von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären, deren tatsächliche Verursachungen für uns aber in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit fassbar sind. Nur ein Bruchteil der im Gehirn ständig ablaufenden Prozesse ist für das innere Auge sichtbar und gelangt ins Bewusstsein. (…)      75

    Auszüge aus:
    „Vom Gehirn zum Bewusstsein“, in: Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn (2002), S. 60-76

     

    siehe u.a. auch die Texte über
    - die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung - Bilder im Kopf
    - wie das Gehirn Wirklichkeit konstruiert - Gehirnspinste
    - über die Realität der medialen Fiktion - Medien-Fiktionen