Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Augensinn Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie
ISBN 978-3-7418-5475-0

Schriftmagie Cover

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:

Virtuelle Realität
der Schrift
ISBN 978-3-7375-8922-2

GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen
ISBN 978-3-746756-36-3

POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1
 

Selbst im Netz

Identitätskonstruktionen des „Wir-Ich” und Techniken des Selbst
in der digitalen Medien-Gesellschaft 

2020/AS

Indoor diving - Selbst im Netz

 

 

 

 

 

 

Indoor Skydiving  
im VR-Labor:  
 virtueller Fall- 
schirmspringer 
in Wien

Es gibt kein Selbst ohne Netz. Auch in traditionellen sozialen Zusammenhängen, die von Anwesenheits-Kommunikation und „face-to-face“-Strukturen bestimmt sind, bildet sich Identität im Netz der jeweiligen sozialen Kontakte. Die geistige Heimat auf dem Dorf ist das „Netz” der überlieferten Kultur. Auch Identität im Dorf ist eine zugeschriebene und gleichzeitig eine „selbst“ gemachte. Das Ich ist ein „Wir-Ich”, hat Norbert Elias formuliert, in der Kulturgeschichte verschieben sich nur die Formen und Zwänge des Wir. Elisabeth Noelle-Neumann prägte die Metapher der „sozialen Haut”.

Die Stadt hat eine Entwurzelung der Körper mit sich gebracht, ein Leben außerhalb der Groß-Sippe, der Dorfgemeinschaft und ihrer Scholle. Stadtluft machte frei. Mit der Mobilität der Körper und ihrer sozialen Bezüge erschien das Selbst-Verständnis als Individuum zu einer Angelegenheit des Einzelnen zu werden. Das heißt aber nur: Der Stadtmensch kann seine „geistige Heimat“ aus einer Menge vorhandener Angebote wählen. Die „Techniken des Selbst“ (Foucault) verändern sich, Menschen können - und müssen - sich der medialen Angebote bedienen, um sich als Selbst zu verstehen und zu beschreiben. Man gleicht nicht mehr dem Onkel Wilhelm, sondern dem Filmschauspieler William. 

Natürlich geht der Verlust der Bindung von lokalen Gemeinschaften einher mit der Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. In der Fremde klammern sich die, die aus ihrer kulturellen Gemeinschaft auswandern mussten, an eine Sub-Kultur Gleichgestimmter, weil die Anforderungen der fremden Kultur - euphemistisch von den fremden Mächten „Integration“ genannt - zur Zerstörung der eigenen Identität und zur anstrengenden Übernahme einer neuen Identität führen. Ich bleibt Wir-Ich. Kulturelle Stile werden zum Identität stiftenden Muster für „Fan“-Cliquen. Die Bedeutung von massenkulturellen Freizeitangeboten für die Identität nimmt zu, insbesondere wenn die Arbeit zum Job wird. 

Die Stadt setzte Menschen frei, die Großstadt bot einen Schutzraum und eine Kultur der relativen Anonymität. Die meisten Menschen nutzten aber diese Freiheit nur sehr behutsam, bewegten sich durch die Großstadt auf Inseln von traditionellen Gemeinschaften – Familien, Freundeskreisen, Kollegien, Cliquen. Kommunikation unter Anwesenden blieb der bestimmende Kommunikationstypus auch in der Stadtgesellschaft. 

Der aufgeklärte Mensch hat gelernt, die Welt der Bilder und Texte, der Zahlen, Zeichen und Symbole als neue Heimat zu empfinden. Erst traten die Bindungen der Großfamilie in ihrer Bedeutung zurück, dann die  - Sinn und  Identität stiftenden - institutionellen Einbindungen durch Arbeit, Religion oder regionale und nationale Rahmungen. An ihre Stelle treten neue symbolisch-kulturellen Bindungen, die im Sinne von „Techniken des Selbst” als frei wählbar erscheinen und als virtuelle Gruppenzugehörigkeiten die soziale Haut ergänzen.

Menschen fremdeln auch in einer fremden Medienkultur. Die Attraktivität von noch so trivialem „Reality-TV“ deutet darauf hin, dass es einen „Reality-Kick“ gibt, also ein „besonderes Erleben am Wissen, dass die dargestellten Personen mit den Namen angesprochen werden, die auch auf ihren Ausweispapieren stehen.“ (Schwender) Klatsch und Unterhaltung in Zeitungen hat immer schon den Vorteil dieses „Reality-Kicks“. Die elektronische Kommunikation lehnt sich, um vertrauensvolle Nähe zu suggerieren, an die Muster der Anwesenheitskommunikation an. Facebook fragt zuerst: „Was machst du gerade?“ - als ob das die Menge der „Freunde“, die man virtuell hat, etwas anginge oder auch nur im Entferntesten interessieren könnte. Niemand kann am Telefon wahrnehmen, wie der Gesprächspartner ironisch das Gesicht verzieht oder abfällig Handbewegungen macht. Dennoch nutzen Menschen beinahe zwanghaft am Handy die Gestik und die Mimik der face-to-face-Kommunikation. Jeder kennt das Bild des Erwachsenen, der in der Stadt über den Bürgersteig geht und - mit Kopfhörer im Ohr - laut gestikuliert und spricht – ist er verrückt oder nur elektronisch vernetzt, das ist die Frage.

Schon wenige Jahrzehnte nach den ersten Gehversuchen im Netz verbringen viele Menschen mehr Zeit im digitalen Netz und in virtuell vermittelten Gemeinschaften als in direkte Kommunikation mit greif-baren Menschen. Das Weltwissen eines Menschen ist nicht mehr nur das biografisch erworbene, in der Bildungs-Biografie verankerte, auf Erfahrung aufbauende Wissen, sondern Netz-Wissen. Heute erscheint die direkte Kommunikation als Abwechslung in der inszenierten Medien-Wirklichkeit. Medieninszenierte „Prominente“ sind wichtiger als die wirklichen Nachbarn. Man kann sich über das Netz zu einem „gemeinsamen“ Film-Abend verabreden – jeder vor seinem Bildschirm, jeder sein Smartphone in der Hand. Eine neue multisensorische Medien-Qualität in der Verknüpfung von Tönen, Bild und Schrift bezieht den ganzen Körper in die Kreationen der Medientechnologien ein. Den ganzen Leib aber eben nicht, die quasi animalischen, ursprünglichen Sinne des Riechens und Tastens sperren sich (noch) gegen die Medialisierung. 

Zerstört die elektronische Handy-Kultur nicht die leibliche Anbindung der Affekte an den physischen Menschen? Können elektronische Medien die Herausbildung der Identität in körpernaher Kommunikation ersetzen, wenn „gemeinsame Erfahrungen“ seltener auf physische Erlebnisse zurückgehen als auf „gemeinsam“ erlebte virtuelle Fiktionen?  Der Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Spitzer reist durch die Lande mit seiner völlig klaren Antwort auf diese Frage: „Zur Dummheit gesellt sich eine merkwürdige Dumpfheit.“ Fernsehen macht dick, faul und gewalttätig. Damit steht er in der großen Tradition der Warner vor neuen Medien, die von Platon und seiner Kritik der „Dünkelweisheit“, zu der die Nutzung der Schrift führe, angeführt wird. Hinter Platon laufen die Kritiker der „Augenlust” und der „Lesesucht“, der Kinosucht wie des „Fernsehfiebers“. Diese Tradition der Kritik unterschätzt seit 2000 Jahren die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns an neue Medienkulturen.I Robot - Selbst im Netz



 


Ich, der Robot
 (
I, Robot) 
ist ein Roman von Isaac Asimov 
1950 veröffentlicht, 
2004 wurde er verfilmt


Das menschliche Gehirn war schon immer eine Traumwerkstatt, eine Inszenierungs-Maschine, wie die Phantasien des Wirklichkeitsbewusstseins der archaischen und antiken Kulturen zeigen. (siehe die Texte über „Bewusst-sein“ M-G-Link und die Mediengeschichte des ICH M-G-Link) Archaische Kulte haben schon immer alle Register einer multimedialen Theatralik gezogen. Der Jahrmarkt ist nur ein Abklatsch davon. Menschen gingen schon immer gern zu solchen Inszenierungen, lange vor Theater und Kino – als Abwechslung zum Alltag. „Authentische“ Situationen der face-to-face-Kommunikation waren da aber noch der Ankerpunkt und Maßstab. Heute scheint die direkte Kommunikation zur Abwechslung in der inszenierten Medien-Wirklichkeit zu werden.

Elektronische Ich-Identitäten entwickeln sich in Projekt-Biografien

Das Subjekt hat in der Netzkommunikation keinen Ortssinn - keinen geografischen Ort und keinen physisch festen Verankerungspunkt. Mit den elektronischen Vernetzungen der digitalen Kultur entstehen ortlose Handlungsräume, in denen Menschen zusammen denken, arbeiten, empfinden, also kognitiv und kommunikativ leben – fast so, als gäbe es den Unterschied zwischen „fern“ und „anwesend“ nicht mehr. Alle denkbaren, weil im globalen Netz vorhandenen Weltverständnisse, Kommunikationspartner und Arbeits-Gruppen sind als Angebote vorhanden. Die Einbindung in virtuelle Kommunikation kann bedeutender sein als die lokale Einbindung (zufälliger) Nachbarschaften in der Stadt. Die Normorientierung der Kommunikation nimmt ab. Schon weil die Zahl der Kontakte sich potenziert, muss ihre emotionale Bindekraft abnehmen. Die Ent-Sozialisierung der Kommunikation kann eine Versachlichung bedeuten – so wie das Buch das Wissen unabhängig von dem „Lehrer“ macht. Inzwischen soll der mobile, „flexible“ moderne Mensch vor allem Zuhause in seiner „portablen“ Kultur sein. Schwerelose Datenwelten sollen den festen Boden unter den Füßen ersetzen, der mit der Heimat und den stabilen Institutionen verloren geht. In diesem portablen Rahmen pflegt der flexible Mensch seine Sprache, seinen gewohnten Gebräuche, seinen geistigen Horizont. Dieser kulturelle Rahmen liefert die Bausteine für eine Selbstzuschreibung und das Selbst-Empfinden in Begriffen der Individualität und Identität. Es ist die mediale Sozialität, die medial erzeugte soziale Haut, die dem Wir-Ich das Gefühl des Bei-sich-Seins vermittelt.

Die elektronische Globalisierung löst die National-Kulturen auf und schafft neue, weltweit mobile kulturelle Standards. Sie setzt damit den Prozess der Entwurzelung und kulturellen Neuverwurzelung fort, den die Mobilität zwischen Dorf und Stadt und zwischen den anonymen Städten einer kulturellen Nation begonnen hat. Rein physisch lebt der moderne Mensch in der Fremde – fast überall. Es wird zweifelhaft, wie sehr es lohnt, sich in ortsgebundenen lokalen Gesellschaften einzurichten und zu binden. Institutionen alter Art geraten in eine Krise, weil sie den Individuen keinen dauerhaften Rahmen eines Sozialsystems garantieren können. Menschen sind weltweit dabei, zu lernen, ihre Absichten und Fähigkeiten in kurzfristige, ergebnisoffene Vorhaben einzubringen. Projekt-Gemeinschaften können beliebig und weltweit gebildet werden. In einer Welt der Projekt-Gemeinschaften wird das Handeln kurzfristiger, informationsintensiver, Ergebnis-orientierter, effektiver, erfolgreicher. Die Projekt-Welt ist die Welt der globalen digitalen Kultur, in der keine lokale Gewerkschaft mehr die Pausen, die Überstunden und die Tarifverträge kontrollieren kann. „Das Projekt als befristete Klein-Föderation ersetzt die lokal gebundenen sozialen Kollektivorganisationen.“ (Manfred Fassler) 
Ohne die alten Ordnungsrealitäten der Welt, die Arbeits-Organisationen, die kirchlichen Institutionen und die politischen Bewegungen, ohne solche auf „lebenslänglich“ angelegten Strukturen wird Identität zu einer offenen Daueranstrengung. Das Individuum entwickelt sich entlang seiner Projekt-Biografie. Die Suche nach einem stimmigen Selbstkonzept und nach biografischer Kohärenz wird mühsamer – oder eben leicht-fertiger, scheinbar leichter fertig. Die emotionale Tiefenströmung von „Shopping“ erklärt sich durch ihren Anteil an der Identitäts-Bildung.

Mit „Individualismus” hat die elektronische Vernetzung nichts zu tun: Der Einzelne kann nur seine Gemeinschaften, mit denen er konform geht, unverbindlicher wählen. Anstatt von „vernetztem Individualismus” sollte man besser von einer neuen Form des „Netz-Konformismus” sprechen. An das Wechseln kann man sich gewöhnen - selbst der Wechsel von  Lebenspartnerschaften und damit von Familienbezügen wird „normal“. 
Schon die Sozialisation von Kindern ist Mediensozialisation. Die Bedeutung der Familie tritt zurück, Peergroups und FreundInnen konstituieren und verändern sich über Gemeinsamkeiten beim Medienkonsum. Reality-Shows und Daily Soaps sind die Paradebeispiele jener Fernsehformate, die zu Identifikationen und Abgrenzungen herausfordern. Medienrezeption ist dabei ein aktiver Prozess - insbesondere Jugendliche suchen Muster kollektiver Identität, in die sie sich ein- und zuordnen können.

Reale digitale Körperausweitung

Der Mensch bekommt mit dem Daten-Netz nicht einen „digitalen Schatten“, wie oft formuliert wird – die Metapher ist irreführend. Es geht nicht um einen Schatten im Sinne eines digitalen Abbildes und einer flachen Verdoppelung, es geht um eine Ausweitung des realen Körpers: In die alte Kohlenstoff-Welt wird eine neue digitale Welt integriert, wie Sascha Lobo in Anschluss an Marshall McLuhan formuliert hat. Big Data weiß, wer wir sind, und wir schauen ins Handy, wenn wir wissen wollen, wo wir sind und wen wir kennen. (2)

Jedes Individuum entscheidet darüber, welche sozialen Netzwerke ihm glaubwürdig erscheinen. Es wählt Gruppen, um sich deren Normen und Werten anzuschließen. Medien können größere Deutungs-Gemeinschaften stiften als schlichte „Anwesenheitskommunikation“ es vermag. In einer „Community“ werden Menschen („Freunde“) gesammelt, die die gleichen virtuellen Vorlieben teilen und sich gern in denselben virtuellen Welten bewegen. Die medialen Gemeinschaften werden zu „Dörfern” im Netz. Sie erfüllen das  Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Behausung, Sicherheit. Ich erfahre, welches Verhalten in einer bestimmten sozialen Situation meine Freunde „normal” oder angemessen finden, und wenn ich vor der Sportschau sitze, weiß ich mich in der Gemeinschaft tausender von Fans. Auch die personalisierte mediale Unterhaltung in Filmen ermöglicht parasoziale, emotionale Nähe - vergleichbar der emotionalen Nähe durch religiöse parasoziale Beziehungen.

Das Selbstbild formt, entwickelt und bestätigt sich über Kommunikation, und der vernetzte Computer ist ein Mittel zur Kommunikation. Immer schon hatte dieses Selbstbild eher feste und andere, eher variable Elemente, die sich im Rollenspiel je nach den Erwartungen der Umgebung (des „Netzes“ der Beziehungen) bilden. Ob man dies als Vielfalt der „Masken“ des Selbst betrachtet oder als differenziertes Potential einer Persönlichkeit, ist manchmal nur eine Frage des Standpunktes. Das Leben mit dem Internet erweitert die Rollen-Möglichkeiten und damit auch die Variabilität des Selbst. Das Subjekt kann sich in virtuellen sozialen Netzen freier bewegen, d.h. es kann sich bewusst maskieren oder eben Aspekte der Identität offenbaren, die im Alltagskontext nicht artikuliert werden können aus Gründen der inneren Hemmungen oder der externen Sozialkontrolle. Kontakte können gepflegt werden, die „face-to-face“ sozial diskriminiert oder zu aufwändig wären. Dadurch ist, so Nicola Döring, zu erklären, dass mancher „User“ sogar das Gefühl hat, im Netz mehr „er selbst“ zu sein. Virtuelle Identitäts-Experimente können also Chancen der Selbstreflexion und Selbstentwicklung bieten, sie sind Teile der Identitätsarbeit. Fühlst Du dich wohl in deiner Haut? Das hängt auch ab von der befriedigenden digitalen Vernetzung.

Bewusstseinsbildung kann nur im Horizont der verfügbaren Medien stattfinden, das galt schon für die Kulturen der Anwesenheits-Kommunikation. Elektronische „virtuelle Realitäten“ (3) gehören der Sphäre der menschlichen Kultur an wie die Phantasien der Schrift und der archaischen Kulturen. Auch für das Lesen gab es früh die Sorge, wie der Mensch umgehen würde mit den Illusionen der Bücher – im Falle der Lesesucht der Frauen aus niederen Ständen stand insbesondere die Sorge dahinter, dass der neue geistige Horizont die Frauen von der Dienstmädchen-Arbeit ablenken könne und eine wenig frauengemäße geistige Freiheit fördere.
Im Zeitalter der Daten-Netze wird Anwesenheits-Kommunikation  - „face to face“ - zu einem Sonderfall der Kommunikation, allerdings zu einem bedeutsamen Sonderfall, denn das Gehirn organisiert sein Material nach den jeweiligen Affektbeiträgen, die Affekte stellen die Energie für die Gedächtnisarbeit bereit. Affektarme Kommunikation kann das Selbst nur affektarm prägen. Menschen merken das nicht, der überwiegende Teil der affektiven Gedächtnisinhalte sind dem Bewusstsein nicht verfügbar. „Ich erlebe mich selbst als denkend, fühlend, wahrnehmend oder entscheidend, und nehme die 90 Prozent, die mich dazu bringen, nicht wahr.“ (Gerhard Roth) Das affektive Selbst steuert aber mit seinen bildhaften, verschwommenen und unartikulierbaren Assoziationen das Bewusstsein. Es muss die Verbindungspfade finden durch die Übermenge der Details, wenn das Daten-Netz zum kollektiven Gedächtnis wird. Wenn ich dem globalen Netz-Gedächtnis die Frage „Wer bin ich?“ stelle und dann auf dem Bildschirm „ungefähr 662.000“ Antworten aufpoppen, ist das nicht mehr als ein großes Rauschen. Google selektiert vor (nach dem, was andere als Antwort angeklickt haben), am Ende muss aber das physische, affektive Selbst den Sinn aus dem Rauschen generieren.

Kommunikation im virtuellen elektronischen Netz wird vielfältiger, unverbindlicher und flüchtiger, das ist die  „message“ des neuen Mediums. Diese neuen Identitätsangebote, zu denen auch Konsumangebote gehören, sind durch eine geringe Verankerungstiefe gekennzeichnet – können also bei Bedarf leichter gewechselt werden. Die neue Welt ist zwingend und insgesamt attraktiver als die alte – das hat sich schon gezeigt, als das Fernsehen in den 1950er Jahren sehr schnell die Eckkneipe zu ersetzen begann. Und wir sind gern „allein zusammen“, wie Sherry Turkle das Phänomen sehr plastisch bezeichnet hat. (3) Der Preis und die Kehrseite der schwachen Bindungen des Wir-Ich scheint ein zunehmender Narzissmus zu sein.

Das Selbst-Bewusstsein reorganisiert den Selbsterhaltungstrieb auf kognitiver Ebene zu einem elementaren Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit in der feindlichen Umwelt. Die Menschen haben eine sprachlich und kulturell entwickelte Form von Subjektivität in das physikalische Universum gebracht. Personalität ist dabei ein sozial eingebundenes Selbstbild: Ohne wechselseitige Anerkennungsbeziehungen, die durch Kommunikation immer wieder bestätigt werden müssen, gibt es keine Identität, und zu dieser Kommunikation gehört die direkt leibliche wie die mehr oder weniger medial durch Sprache, Bilder und Schrift vermittelte. Die Arbeit, aus dieser Vielfalt der Beziehungen ein Selbstbild zu konturieren, kann mehr oder weniger gut gelingen - wie immer in der Geschichte des Wir-Ich.

    Anmerkungen:
    1) Elektronische Kommunikation kann süchtig machen nach normierter sozialer Anerkennung – und depressiv, wie das wirkliche Leben, auch das wird bei Youtube diskutiert   http://youtu.be/QxVZYiJKl1Y
    2) vgl. zur „virtuellen Realität“  MG-Link 
    3) in: Sherry Turkle: Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern (2012),  2011 unter dem Titel Alone Together: „Why We Expect More from Technology and Less from Each Other“ erschienen. Die Psychoanalytikerin Sherry Turkle berichtet in dem Buch von den befragten Kindern und Erwachsenen, die unter dem „alone together“ litten. Mit ihrem  pädagogischen Zeigefinger lässt sich allerdings die Intensität der Netz-Kommunikation nicht eindämmen. Die ersten Generationen der von einer Medienrevolution „Betroffenen“ haben zudem noch nie ein angemessenes Verständnis davon gehabt, welche Veränderungen die neuen Medien bringen werden. 
    Wie hilflos die Zeitzeugen vor einer Medienrevolution stehen können, demonstriert unfreiwillig auch der Psychiater Bert te Wildt in seinem Band „Medialisation - Von der Medienabhängigkeit des Menschen“  (2012). Die Mediengeschichte lässt er bei der Sprache beginnen, Medien machen den Menschen erst zum Menschen. Und dann kippt die Diagnose angesichts der „ausufernden Medienabhängigkeit“, als ob die Sprache nicht auch „ausufernd“ den Menschen geprägt hätte.  

    Zur Frage nach dem Subjekt-Bewusstsein in Zeiten der „virtuellen Realität“ siehe meine Texte

    Der kapitalistische Sozialcharakter - das moderne „Ich“ ohne traditionelles „Wir“   MG-Link
    Das japanische Zwischen-Ich als „Du von Du” und die Digitalisierung der Gesellschaft  MG-Link
    Techniken des Selbst   MG-Link
    Wie kommt der Mensch zu Bewusst-Sein?   M-G-Link 
    Mediengeschichte des ICH - Schrift, Buchdruck-Kultur und die Erfindung des Individuums   M-G-Link
    Individualität und Sozialität   MG-Link
    Bewusst-sein  MG-Link
    Das oral-visuelle Selbst
       MG-Link