|
Wie das ICH entstand
Die Evolution des Ich-Bewusstseins im Spiegel religiöser Projektionen des Homo sapiens
2020/21
Fasziniert stehen die Anthropologen vor den Zeugnissen der frühesten menschlichen Totem-Kulturen, in denen Sippen sich mit Tier-Symbolen identifizierten und den Tieren magische Kräfte zusprachen. Die Tiere waren Symbole für das Kollektiv-Bewusstsein der Sippe. Es gab kein „Ich”, sondern nur ein „Wir“. Irgendwann begannen die Menschen, sich als Herrscher über die Tiere zu begreifen, und es tauchten menschenähnliche Gestalten zwischen den Tier-Fetischen auf: Die Imagination der Menschen schuf „Götter“ nach ihrem Bilde. Das waren Götter, die unter den Menschen lebten und mit denen die Herrscher auf Augenhöhe reden konnten. Die ersten Schriftzeugnisse der Religionen erzählen dann von einer dritten Phase im Selbstverständnis des Homo sapiens, von der Vertreibung der Menschen aus diesem Paradies: Die Götter wohnten fortan nicht mehr in den von den Menschen gebauten Tempeln, sondern im Himmel. Das Selbst-Bewusstsein der Menschen differenzierte sich, sie waren Verstoßene und konnten sich auch sich durch die Brille der Götter als „frei” sehen - frei zur Sünde und zu Schuldgefühlen.
Das sind die ersten Zeichen dafür, wie in der Evolution des Geistes die Ahnung eines Ich-Bewusstseins, einer vollkommen sozial eingebetteten Identität, entstanden ist. Erst mit der Verbreitung der Schriftkultur in der Neuzeit verallgemeinerte sich das Selbst-Verständnis vom Menschen als Individuum, das sich aus gemeinschaftlichen Bindungen des „Wir” stärker befreien sollte, um sich als Einzelner und Vereinzelter verstehen zu können. Diese Evolution des Geistes war gebunden an die Schriftkultur und die Sprache der Schriftkultur. Lange war es eine Kultur kleiner Eliten. Natürlich ist an dem Selbstbild des autonomen Individuums viel Einbildung - auch heute gibt es keine Individualität ohne soziale Einbettung. Die soziologische Beobachtung, dass ein Kult des Individuums die alten religiösen Kulte verdrängt, geht auf Émile Durkheim zurück. Die Geschichte des Ich ist so vor allem dokumentiert in der Geschichte der religiösen Projektionen der Menschen. zur Psychologie und Neurobiologie des Ich vgl. „Bewusstsein des Selbst” MG-Link
Eine erste Phase des Kollektiv-Bewusstseins beschreiben Ethnologen als „Totemismus“.
In einer zweiten Phase begannen die Menschen, mit ihrer Sprache Mythen zu erzählen – die Menschen fühlten sich von göttlichen Kräften durchdrungen, die Götter schienen noch mitten unter ihnen zu wohnen.
Erst in einer dritten Phase werden die Götter in den Himmel ausquartiert – sie schweigen. Die großen mesopotamischen Religionen erzählen noch davon, wie Menschen mit den Göttern „von Angesicht zu Angesicht“ geredet hatten und welche Gesetze sie heruntergereicht haben.
In einer vierten Phase konzentriert sich das Göttliche für den Menschen in seiner unsterblichen „Seele“. Schließlich wird die Seele entmythologisiert, es bleibt die Psychologie des Unbewussten und Inneren.
I – Totemismus
Bewusstsein ist nicht von Natur aus Ich-Bewusstsein. Am Beispiel des australischen Totemismus hat schon Émil Durkheim eine Gemeinschaft beschrieben, die durch eine Gleichförmigkeit des Handelns und auch des Denkens und Empfindens im Sinne eines „Kollektivbewusstsein“ gekennzeichnet ist und in der die Lebenswelt dominant ist. Identität ist nur lebbar als Rollen-Identität.
Viele Säugetiere bewegen sich in Gruppen, im Schutz dichter Wälder reichen vielleicht sechs Tiere. Die Gibbons im offenen Gelände bewegen sich in Gruppen von bis zu 80 Tieren. Mit Signallauten koordinieren die Tiere ihr instinktives Verhalten, bei den Primaten gibt es taktile Kommunikation (Körperpflege, Umarmung, Stupsens mit der Schnauze), stimmliche Kommunikation mit Grunz-, Bell- und Kreischtönen. Es gibt nichtvokale Lautsignale wie etwa Zähneknirschen oder das Patschen auf Zweige. Unterschiedlichste Gesichtsausdrücke und das drohende Auge-in-Auge-Starren gehören zu den visuellen Signalen. Das Signal-Spektrum kommuniziert besondere Situationen der äußeren Bedrohung und weist auf Nahrungs-Funde hin, Signale dienen aber auch der Kommunikation in inneren Gruppen-Angelegenheiten. Bestimmte Vögel-Arten begrüßen morgens mit ihrem Gezwitscher den Tag und sammeln sich mit „Gesang” für ihre langen Flüge, um dann wie auf ein Kommando in aerodynamischen Mustern loszufliegen. Auch Paviane verständigen sich über Laute und bilden bei ihren Wanderungen ein streng geometrisches Muster. Bei Gorillas entfernen sich Gruppenmitglieder nie mehr als 50 Meter von dem dominanten Tier, bei Wanderungen legt die Gruppe rund 500 Meter zurück.
Man darf annehmen, dass die Frühformen des Homo sapiens in ähnlichen Strukturen lebten. Sie verfügten wie alle anderen Primaten über eine Fülle von visuellen und stimmlichen Signalen. Wenn ihre Gruppen aus Gründen der Verteidigung größer wurden, so vermutet der britische Psychologe Robin Dunbar, wurde die lauthafte Kommunikation für die Innenbindung der Gruppe wichtiger als das „Kraulen“ und „Lausen“ – das ist für ihn eine Erklärung dafür, warum und „wie die Menschen zur Sprache fanden“. Aber das war sicherlich zu Beginn eine schlichte Kombination von Sprachlauten, die Namens-Laute für Objekte oder Situationen mussten in ihrer Differenzierung nicht weit über die Kombination von Signallauten hinausgehen.
Das Bewusstsein der Wildbeuter-Menschen, deren Fetische die Archäologen auf Zeiten bis vor 30.000 Jahren bestimmen, können wir uns nur als meditierendes, tagträumendes Bewusstsein vorstellen. Da verschwimmen aufsteigende Erinnerungen mit momentanen Wahrnehmungen, beides scheint oft gleich intensiv und präsent. Um die aufsteigenden Tagträume deuten zu können, brauchten diese Menschen offenbar die Schnitzfiguren und die Vorstellung, dass die Figurinen präsent sind und zu ihnen reden. Das Symbolisierte ist im meditativen Bewusstsein verwoben mit dem Symbol. Das meditative Bewusstsein kennt keine klare Grenze eines „Ich”. (1)
Apis – ägyptisches Totemtier und Symbol der Fruchtbarkeit. Berichtet wird, dass Frauen sich vor dem Stier entblößten. (Kunsthistorisches Museum Wien)
Offenbar war das als „Totemismus“ bezeichnete Phänomen verbreitet bei den Jäger- und Sammler-Kulturen, es findet sich auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichen Ausprägungen. Die Verehrung von Totem-Tieren - durch die Brille der späteren Religionen beschrieben als Verehrung von „Tiergöttern“ – war eine universelle Erscheinung in Wildbeuter-Kulturen. Die rituellen Praktiken des Totemismus zeigen bis heute einen Drang zur Nachahmung von Lauten und Bewegungen gewisser Tiere, die offenbar auf die Urmenschen großen Eindruck gemacht haben. Der Drang zur Nachahmung findet sich auch im Tierreich, sprichwörtlich geworden ist dieses Verhalten bei Affen („nachäffen“). Kindliches Lernen besteht zu wesentlichen Anteilen aus vergleichbarem Nachäffen. Man kann davon ausgehen, dass sich die Frühmenschen auf gleicher Stufe sahen wie Tiere, die ihnen teilweise an Kraft oder Schnelligkeit überlegen waren und deren Verhaltensweisen ihnen fremd und geheimnisvoll vorkommen mussten. Auf vielen Felsmalereien aus dem Jungpaläolithikum sind Menschen mit Tierfellen oder Köpfen maskiert dargestellt. Offenbar wurde bei den Tänzen das Nachahmen durch Bewegung und Stimme, Tanz, Gesten und Gesang durch eine entsprechende Maskierung - Anlegen des Tierfelles – unterstrichen. In der Darstellung durch Tanz und Stimme suchte der archaische Mensch Macht über das Dargestellte zu erlangen. Die Nachahmung wurde zum Zauber-Ritual. Noch heute ahmen afrikanische Buschmänner in ihren Tänzen Tiere nach.
Mit diesen Riten müssen sich zunächst noch keine Mythen verbinden – mythische Erzählungen würden ja eine differenzierte Sprache voraussetzen. Für die Anfänge der totemistischen Kulturen kann man davon ausgehen, dass die Lautäußerungen des Homo sapiens aus Ein-Wort-Sätzen bestanden, die Zeige-Gesten oder szenische Darstellungen ergänzten und dramatisch betonten.
In den totemistischen Kulturen identifizierte sich die Gruppe mit dem nachgeahmten Tier und erlebte sich darin als Einheit. Das Totem-Tier ist die Vergegenständlichung der kollektiven Identität, der Einzelne identifiziert sich mit den Werten, Geboten und Verboten, Traditionen, Sitten, Gebräuchen und Glaubensformen seiner Sippe und mit den Erwartungen und dem Bild, die seine Gruppe von ihm hat.
Tiere wurden auch als Ahnen der Sippe verehrt. Der Tierschädel konnte als Sitz der Lebenskraft konserviert werden, der Verzehr des Fleisches eines verehrten Tieres konnte bedeuten, dass man sich dessen Lebenskraft aneignete. Es entwickelten sich auch Tabus, das Fleisch des verehrten Tieres zu essen, jedenfalls ohne besondere Rituale, die auch eine Entschuldigung beinhalten konnten.
Das Modell der Tiernachahmung übertrugen die archaischen Menschen insbesondere auf Sonne und Mond. Die Veränderung der Gestalt des Mondes, die Farben bei Sonnenauf- und Untergang, die Einhüllung der Sonne durch Regenwolken oder das „Untertauchen“ der Gestirne und ihr Aufstieg auf der anderen Seite waren völlig unerklärlich. Was war das, was am Tag leuchtete und Wärme spendete, was schaute nachts in dieser und dann wieder in einer anderen Gestalt auf die Menschen herunter? Das waren Phänomene, die man nicht berühren oder befühlen und also nicht „begreifen“ konnte. Die Phänomene wirkten geheimnisvoll und unfassbar, unheimlich und bedrohlich. Möglicherweise hat die Sichel-Form des Mondes die Menschen dazu bewegt, hier eine Analogie zu den Hörnern eines Tieres zu sehen. Zu den „lunaren“ Tieren des Totemismus gehören jedenfalls das Rind (Kuh oder Stier), aber auch Widder, Ziegen, Hirsche, Antilopen oder Rentiere. Mit den „Waffen“ dieser Tieren konnte eine Ähnlichkeit zum Bild des Mondes hergestellt werde. Diese Ähnlichkeit bildete die mentale Brücke.
Denn das mit den Fern-Sinnen Wahrgenommene musste in Verbindung gebracht werden zu Objekten des „Mesokosmos“, mit greifbaren und somit begreifbaren Objekten. Dinge und Erscheinungen, die sich den erkennenden Tastversuchen entzogen, blieben unheimlich, solange sie nicht durch Analogien mental „gebannt“ werden konnten. Ähnlichkeit war so für das archaische Denken das Mittel, um das Unbekannte durch Bekanntes zu erklären, das un-greifbare durch Greifbares. So gewannen die Menschen eine anschauliche Vorstellung des Unvorstellbaren, die in der sinnlichen Wahrnehmung gespeichert werden konnte - das bedrohliche Phänomen wurde entzaubert. Wobei man davon ausgehen kann, dass das archaische Denken nicht unterscheiden konnte zwischen imaginären und „wirklichen“ Dingen, Vorgängen und Ereignissen. Der Anschaulichkeit der symbolischen Darstellungen steht die große Verschwommenheit und Traumnähe der möglichen Bedeutung gegenüber. Die Totem-Kulte waren Versuche, die Welt geistig so zu ordnen, dass Bedrohliches einen Sinn bekam und für symbolisches Handeln zugänglich wurde.
Das mentale Bewusstsein der Menschen entwickelte sich mittels der Sprache in einem kumulativen Prozess kultureller Evolution, seine frühe Form war das Kollektiv-Bewusstsein. Die Frage ist also weniger: „Wie einzigartig ist der Mensch?“ als vielmehr: „Wie einzigartig sind die Menschen“? (2) Der Psychologe Julian Jaynes geht davon aus, dass die Gruppenkommunikation sich erst differenzieren und fortentwickeln musste, als die Jäger- und Sammler sich in sesshaften, ackerbauenden und damit größeren Gemeinschaften niederließen.
II – Die Welt der Mythen: Die göttlichen Kräfte nehmen Menschengestalt an
Die frühen mythischen Erzählungen setzen eine differenziertere Sprache voraus. Auch sie haben eine Orientierungsfunktion. Auch der Mythos erklärt Unbekanntes, Unverstandenes und Rätselvolles, indem er Analogien zu Bekanntem herstellt. Mythen entstehen, wenn es Einzelne gibt, besonders begabte Menschen, die eine Geschichte erzählen und diese Erzählung von der Gemeinschaft als etwas Besonderes wahrgenommen wird. In den frühen werden Phänomene wie Sturm und Gewitter, Blitz und Donner „erklärt“ und zwar durch die Rückführung auf das Handeln der höheren Mächte nach dem Muster menschlichen Handelns. Die dramatischen Naturphänomene können offenbar nur durch dramatische Geschichten „erklärt“ überzeugend werden, die sich bei den höheren Mächten abgespielt haben. Im Zentrum der frühen Mythen steht das Tier: das Himmelsstier, die Himmelskuh, der Ziegenbock, der Mistkäfer, der Löwe, die Schlange. Diese mythischen Tiere hatten keinerlei menschliche Eigenschaften; sie waren aber kraftvoll, schlau oder riesengroß.
Während der Frühmensch in den Anfängen der Evolution des menschlichen Geistes sich offenbar auf einer Ebene mit den Tieren sah, imaginierte der Mensch die verehrungswürdigen höheren Mächte später als menschenähnliche Gestalten, als „Götter“. Der Schritt hin zu den menschenähnlichen Göttern zeugt vom wachsenden Selbstbewusstsein des homo sapiens. Erst mit der Sesshaftwerdung des Menschen vollzieht sich dieser Übergang auf menschliche Gottesbilder. Mit der Agrarwirtschaft begannen die Menschen, Tiere zu Haustieren zu zähmen und damit ihre Überlegenheit auszuspielen. So konnte den Menschen bewusst werden, dass sie vom Tier verschieden waren. In allen Kulturen, in denen in der sog. „neolithischen Revolution“ zwischen dem 8. und 5. Jahrtausend v.u.Z. Ackerbau und Viehzucht eingeführt wurde, wandelte sich das Verhältnis des Menschen zum Tier. Nur noch gelegentlich wurden Götter vorübergehend in einer Tiergestalt imaginiert. Schöpfungsmythen entstanden, in denen Götter in Menschengestalt den Kosmos ordneten, den Menschen erschufen und den Tieren ihren Platz und ihre Rollen zuwiesen.
Zunächst standen die Totem-Tiere mehr oder weniger gleichberechtigt neben den Menschen-Göttern, später wurden aus den Totem-Tieren allmählich Geister und Dämonen, Wald- und Feldgeister, die sich noch in der der Schriftfassung der griechischen und römischen Mythen finden und die noch lange tierische Gestalt trugen: Pan oder Faunus waren Berg- und Walddämonen mit struppigem Haupthaar, Ziegenfüßen und Hörnern. Spuren des Totemismus finden sich in der griechischen Sage vom Zeuskind, das ja nach Version von einer Ziege, einer Kuh, einer Hündin oder einer Wölfin ernährt wurde. Solche Untiere konnten auch alles verschlingen – als Schlangen, Würmer, Drachen, Raubtiere, Hunde oder große Insekten.
Dass es aus der Frühphase der menschenähnlichen Götter deutlich mehr Zeugnisse von der Verehrung der Fruchtbarkeit und damit der Frau gibt, deutet darauf hin, dass die Frauen als Sammlerinnen auch in den Anfängen der Landwirtschaft entscheidenden Anteil an dem Neuen der Epoche hatten, sie hüteten die „Mutter Erde“ und auch die Fruchtbarkeit des Bodens, während die Männer weiter auf die Jagd gingen. Es gibt verschiedene Darstellungen der Himmelsgöttin als Frau mit Brüsten, Bauchwölbung oder Dreieck als Symbol der Vulva und daneben den Stier als männliches Götter-Symbol. Offenkundig wurden die weiblichen Fruchtbarkeitsidole früher „personifiziert“ und anthropomorph symbolisiert als die männlichen Tier-Götter. In den Heiligtümern von Catal Hüyük gibt es aus der Zeit um 6000 v. u.Z. frühe Zeugnisse der Götterbildung - die Göttin in riesiger Menschengestalt, ihr göttlicher Mann als Stier. Nur auf den Statuetten, die im selben Kultraum gefunden wurden, reitet er in menschlicher Gestalt auf dem Stier, dem alten göttlichen Symbol. Die Kult-Darstellungen der Göttin in Catal Hüyük zusammen mit dem Himmels-Stier sind das älteste erhaltene Götterpaar, das dieses Nebeneinander zeigt. Beim weiblichen Fruchtbarkeitsidol gelang die Umwandlung in eine menschenähnliche Göttin offenbar leichter, für die Umwandlung des Himmelsstiers in einen Himmelsgott mussten die Menschen offenbar die Scheu vor dem uralten Kulttier überwinden.
Die Entfaltung der Mythen in den größeren Gemeinschaften der sesshaften Menschen ging einher mit einer Differenzierung der Sprache. Die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen von diesen Mythen aus der Zeit der mündlichen Überlieferung stammen aus Mesopotamien. Auch wenn diese Schriften von Priestern verfasst wurden, die ihren jeweiligen Herrschern verpflichtet waren und hier rückblickend die alten überlieferten Erzählungen rekonstruieren mussten, verraten sie einiges über die mündliche Tradition. Bessere Quellen haben wir nicht.
Der Neurobiologe Andrew Newberg beschreibt das mythische Kollektiv-Bewusstsein als „Bewusstsein ohne Ego” (vgl. den Text ‘Gott im Kopf’, M-G-Link). Die absolute Autorität erscheint personalisiert und wird durch kollektive performative Rituale - körperliche und Sprech-Rituale - in ihrer Verbindlichkeit bestätigt. Die Metaphern der Personalisierung übertragen menschliche Verhaltensweisen und das aus der Sippe bekannte Autoritäts-Modell auf die Götterwelt – Gott ist Vater (oder Mutter). Das mythische Kollektiv-Bewusstsein stärkt soziale Schwarm-Realität.
Der Babylonische Schöpfungsmythos ist in einer Schriftfassung aus dem 17. Jahrhundert v.u.Z. erhalten. Offenbar gibt es eine ältere sumerische Vorlage, deren Held „Enlil“ war, der Windgott, der die Hörnerkrone als Emblem trug und dessen heiliges Tier der Stier war. Im Enlil-Mythos war aus dem Himmels-Stier bereits der menschlich-göttliche Held Enlil geworden, dessen Seele nun in der Unterwelt gefangen gehalten wird. Von ihm wird eine typisch menschliche Helden-Geschichte erzählt: Er wurde von seinem Sohn Ninurta befreit. Dieser junge Gott griff die Monster an und fesselte sie an seinen Wagen. Enlil wurde wieder lebendig.
Das Gegenteil des geordneten Kosmos ist das Chaos, durch das sich die Menschen bedroht fühlen. In den mesopotamischen, kleinasiatischen und ägyptischen wie natürlich in vielen anderen Entstehungs- und Schöpfungsmythen spielt die Überwindung des Chaos eine große Rolle. Im babylonischen Schöpfungsmythos „Enuma Elish“ muß Marduk erst aus dem Chaos wieder die Ordnung herstellen; die gleiche Vorstellung liegt auch dem alttestamentlichen Schöpfungsmythos zu Grunde, wo uns die Erde im Zustand des Chaos und der Finsternis geschildert wird, als der Geist Gottes über den Wassern schwebte. Das Wasser und die Fluten sind häufig der ungestaltete und formlose Stoff, eben das Chaos. Die alten Mythen des Nahen Ostens, aber auch vieler anderer Völker erzählen, wie aus dem Chaos der Kosmos entstand, wie Gott den Himmel, die Erde, die Pflanzen, die Tiere und den Menschen erschuf; wie er dann dem Menschen Fertigkeiten lehrte, Werkzeuge übergab und wie gesellschaftliche Einrichtungen, etwa die Ehe, entstanden. Die Erzählungen spiegeln die Angst des Menschen in den frühen Hochkulturen wider – Angst vor dem Rückfall in den Zustand der Unordnung und vor dem Einsturz der so mühevoll aufgebauten menschlichen Ordnung.
Das Kollektiv-Bewusstsein der Sesshaften erfordert differenziertere Sprachlaute
Archäologen berichten fasziniert von den handwerklichen Hilfsmitteln, die diese Dorfgemeinschaften erfanden, die arbeitsteilige Vorbereitung der Böden, die Planung der Saat und die Speicherung der Ernte erforderten ein deutlich komplexeres Bewusstsein des kollektiven Handelns als der Alltag der Jäger und Sammler. Natoufien wird die Fundstelle genannt, an der frühe Zeugnisse der mesolithischen Kultur im Wadi el-Natuf in Palästina ausgegraben wurden, 20 Kilometer nördlich vom See Genezareth. Um 10.000 v.u.Z. waren die Natoufien-Menschen Jäger wie ihre Vorfahren; sie waren geschickt als Bearbeiter von Knochen und stellten Feuersteinklingen her. Sie trugen durchbohrte Muscheln und Tierzähne als Schmuck, hatten offenbar einen Sinn für Schönheit, und hinterließen Tierzeichnungen an ihren Höhlenwänden.
Aus der Zeit um 9.000 sind drei Dauersiedlungen ausgegraben worden mit großen Bestattungsplätzen und rund fünfzig runden schilfgedeckten Steinhäusern mit Durchmessern von bis zu sieben Metern, die um einen Platz herum errichtet waren. Aus dem Nomadenstamm mit rund zwanzig Mitgliedern war ein Dorf mit 200 Bewohnern geworden. Zahlreiche Werkzeuge zeigen nicht nur von dem Ackerbau der Siedlung, sondern auch von ihrem handwerklichen Geschick und ihrer vorsorglichen Planung.
Wer auch immer in dieser Siedlung geherrscht hat – er herrschte mit seiner lauten Stimme. Die Worte waren Gesetz, die Mitglieder der Sippe mussten sich der Worte erinnern, sie wiederholen. Das, was den Menschen in den Ohren klang, waren Machtworte, Befehle, „Hinweisreize der sozialen Kontrolle“. Wie Kinder, die etwas nicht vergessen dürfen, das vor sich hin murmeln, so haben diese einfachen Menschen diese Befehle sich durch Wiederholungszwang gemerkt. Und wenn in alten Zeugnissen immer wieder berichtet wird, dass die Götter direkt zu den Menschen sprachen, von Mann zu Mann, dann erinnert das den Psychologen Jaynes an Gehörshalluzinationen. „Diese Halluzinationen nahmen ihren Ausgang von lauten Befehlen“, die das Stammesoberhaupt erteilt hatte und die in den Untertanen nachhallten. Aus den Machtworten der Stammesführer wurden später machtvolle Götter-Worte. Wenn es so gewesen ist, dann würde sich damit erklären, wie in den Grabstätten jener frühen Zeit in Natoufien der tote Stammesführer aufgebahrt ist: Halb sitzend, als würde er weiter leben, jedenfalls in der Vorstellung seiner Verehrer, und weiter seine Befehle geben. „Ist der König tot, wird er zum lebendigen Gott.“ (Jaynes): Das Mausoleum des Königs ist über Jahrhunderttausende der frühen Kulturen das Haus des Gottes. Der amerikanische Psychologen Julian Jaynes fragt in seinem Buch „The Origin of Consciousness“ (3) nach dem Zusammenhang von Evolution, Sprachentwicklung und kulturelle Ausformung des uns so vertrauten menschlichen Bewusstseins.
Die riesige Tempelanlage in Göbekli Tepe am mittleren Lauf von Euphrat und Tigris, wo heute die Grenze zwischen Türkei und Irak verläuft, errichtet offenbar vor rund 12.000 Jahren, sind eine Demonstration der Macht. Am Beginn der Ära des Ackerbaus und der Sesshaftigkeit wurden hier riesige symbolische Menschenbilder in Stein gehauen. Wer konnte Tausende von Arbeitskräften dazu bringen, tonnenschwere Felsbrocken zu Steinkreisen aufzutürmen? Welche arbeitsteiligen Herrschafts-Gemeinschaften waren in der Lage, solche großen Bauwerke zu planen und verfügten über hinreichende Überschussproduktion, um die erforderlichen Arbeitskräfte dafür abzustellen und zu organisieren? Welche Mythen wurden da in Stein gehauen? Auffällig ist, dass hier nicht der Reichtum der neuen Zeit symbolisiert wurde, das wären die kultivierten Pflanzen gewesen. Vergeblich suchten die Archäologen bisher auch nach den sonst für die Zeit typischen Fruchtbarkeits- und Frauen-Motiven. Dargestellt sind dagegen unzählige gefährliche Jagd-Tiere, meist mit erigiertem Penis. Für den Anthropologen Carol van Schaik ist Göbekli Tepe ein Monument männlicher Macht und kündigt die Phase der patriarchalischen Religion an, die durch das sinnlose Herumschleppen riesiger Felsbrocken und ihren Aufbau in gewaltigen Steinkreisen ihre Macht visualisierten, während ihr Jagd-Erfolg tatsächlich immer weniger zur Ernährung ihrer Frauen und Kinder beitrug. Während die Spiritualität der Wildbeuter sich im Alltag manifestierte durch Rituale, Tanz und Gesang, manifestiert sich die Religiosität der Sesshaften durch das sinnlose Herumschleppen riesiger Felsbrocken und ihren Aufbau zu gewaltigen Steinkreisen, Tempelanlagen und Pyramiden.
Bis um 6.000 v.u.Z. hatten sich sesshafte bäuerliche Gemeinschaften über einen Großteil des Nahen Ostens verbreitet und waren mit ihrer erfolgreichen Anbau-Technik auch nach Norden ausgewandert, ins heutige Europa. Von ihrer Kultur sind vor allem monumentale Bauwerke erhalten, letztlich auch die Pyramiden. Aber das ist schon die späte Phase dieser Zeit, in der die Götter noch mit den Menschen sprachen.
Als die Götter noch unter uns waren – vor der Zeit der großen Religionen
Die großen Religionen des alten Orients verarbeiten schon die Erfahrung, dass die Menschen die Götter nicht mehr sprechen hörten: Die Götter haben die Menschen aus ihrem Paradies vertrieben, weil sie zu selbstbewusst wurden und meinten, über Gut und Böse selbst entscheiden zu können. Es sind Erzählungen von Göttern und Dämonen, die sich von den Menschen abgewandt haben, die sich ihnen verbergen und nur gelegentlich antworten auf die Bitten der Menschen, indirekt und meist durch Zeichen.
Wie tickten die Menschen, bevor sie aus dem Paradies vertrieben wurden, als sie unter den Göttern lebten und ihren Stimmen ohne distanzierendes Selbstbewusstsein gehorchten? Was war, als dieses reflexive Selbstbewusstsein der Menschen noch nicht war? Jaynes sucht danach in den ältesten Schrift-Zeugnissen der menschlichen Kultur. Er fragt: „Welche ‚Mentalität’ – welches Stadium der Psychoevolution – zeigt sich in den frühesten Schriftdokumenten der Menschheit?“ Und da die Hieroglyphen kaum mit der dafür erforderlichen Sensibilität in ihrer Bedeutung für die ägyptischen Zeitgenossen entzifferbar sind, befragt er die alten hebräischen Dokumente, in denen manche der älteren Tradition durchscheinen, und die homerischen Gesänge der „Ilias“, die seit der Zeit um 1000 v.u.Z. tradiert und schließlich aufgeschrieben wurden. Die Worte und Begriffe, die in der klassischen Übersetzung für Bewusstsein und einzelne Aspekte des Mentalen stehen, haben in der Ilias eine andere Bedeutung, sie beziehen sich auf Aspekte der leiblichen Dingwelt. „Psyche“ steht für Lebenssubstanzen, die wir als Blut und den Atem benennen. Thymos bedeutet Bewegung. ‚Der thymos verlässt die Glieder’ bedeutet, der Mensch bewegt sich nicht mehr. Auch die tobende See hat thymos. Das Wort soma, das später Körper bedeutet und einen Kontrapunkt zur Seele (psyche) bildet, steht in Homers Ilias-Erzählungen im Plural für die toten Gliedmaßen, den Leichnam. Die Helden der Ilias kennen keinen „Willen“, sie entscheiden nicht – sie hören auf die Stimmen der Götter. Wo wir subjektive Empfindungen unterstellen würden, wirken in der Ilias die Götter. „Die Menschen der ‚Ilias’ kannten keine Subjektivität wie wir“, fasst Jaynes zusammen. Die Erklärung für Affekte und Handlungsimpulse werden externalisiert, projiziert. Für eine Beschreibung von inneren Empfindungen gab es noch keine Sprache.
Diese alten Götter redeten „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“, so hallt diese Kultur noch in den Schriften des Alten Testaments nach als wehmütige Erinnerungen (etwa 2. Mose 33, 11). Im babylonischen Imperium Hammurabis stieg Marduk zum Staatsgott auf. Im babylonischen Schöpfungsmythos wird ausgiebig begründet, warum Marduk eine so hohe Stellung gebührt, er wurde der „Gott der 50 Namen“ genannt, damit andere Götterkulte auf ihn übertragen werden konnten. Auch er hat seine Heldengeschichte: Nachdem er das Ungeheuer Tiamat als personifiziertes Chaos überwunden hatte, wurde er zum „Herrn von Himmel und Erde“.
Der Gilgamesch-Epos, der die Taten und Abenteuer des legendären Königs von Uruk und seines Freundes Enkiddu erzählt, bildet einen Nachklang dieses Prozesses der Götterbildung, in dem die früheren Geister der Himmels-Tiere in einen halbmenschlichen und übermenschlich-göttlichen Zustand übergehen. Wetter-Gott war auch der syrische Baal/Hadad.
So haben auch die frühen Ausformungen religiöser Erzählungen der Orientierung, Identitätsfindung und Sinngebung der Menschen gedient. Der Himmelsgott ist in den Gestalten des alttestamentlichen Gottes, der ägyptischen Gottheiten, des römischen Jupiters und des griechischen Zeus das Spiegelbild des eines Menschen, der mit dem Tier nichts mehr gemein haben will. Diese Himmelsgötter zeichnen sich durch Weisheit, Allwissenheit, Kraft und Allmacht aus. Sie werden gewöhnlich mit den jeweiligen Herrschern identifiziert, der Kult ist gleichzeitig profaner und religiöser Kultur. Die Himmelsgötter haben die Regeln des Zusammenlebens der Menschen bis in Details geregelt, sie werden für das Wohlergehen verantwortlich gemacht. Diese Götter stellten sich die Menschen nach ihrem Ebenbilde vor und blicken zu ihnen hoch wie Kinder zu dem Vater. Aber die Stellvertreter der Götter reden mit den Göttern.
Der babylonische Herrscher Hammurabi redete mit seinem Gott Marduk von Angesicht zu Angesicht – davon gibt es auf der Stele des Codex Hammurabi ein Reliefbild, das beide Männer - in ähnlicher Pose sich gegenüberstehend - zeigt. Die Menschen kamen zu der babylonischen Stele „zu hören meine Worte“, wie es am Fuß der Stele heißt. Noch mit der Schrift sprach der Herrscher zu den Menschen, das war schon der Übergang zu den großen Religionen der „Achsenzeit”. Diese Götter sind Bestandteile des menschlichen Bewusstseins. Sie treten nicht in großer Distanz unter Blitz- und Donner-Begleitung auf, nicht umrahmt von schrecklichen Naturgewalten, sondern wie Menschen. Die Menschen halluzinieren und verbalisieren ihre Halluzinationen als Götter. Der Psychologe Jaynes kennt dieses Phänomen aus der Praxis als Gehörshalluzinationen und Gesichtshalluzinationen. In der Psychologie werden solche Halluzinationen als Krankheitsbild klassifiziert, Künstlerpersönlichkeiten wie Robert Schumann litten darunter. Jaynes vermutet, dass sie in der Jungsteinzeit „normale“ Begleiterscheinungen der Anstrengungen des Hörverstehens und der Rechtfertigung des eigenen Handelns waren. Bewertungen, Entscheidungen, Antriebe oder moralische Skrupel wurden auf die Stimmen der Götter bezogen, nicht als „eigene” Entscheidungen auf ein „Selbst“, eine „Seele“, ein „Ich“.
In den überlieferten Texten aus dem alten Mesopotamien sind es die Worte der Götter, die darüber entscheiden, was zu tun ist. Auf einem Kegel aus Lagas liest man: „Mesilin, König von Kiš, errichtete auf Geheiß seiner Gottheit Kadi, betreffend die Bepflanzung jenes Feldes, eine Stele an jenem Ort. Uš, Patesi von Umma, um sich ihrer zu bemächtigen, fertigte Zauberformeln an; jene Stele zerbrach er in Trümmer; in die Ebene von Lagaš rückte er vor. Ningirsu, der Held des Enlil, auf dessen rechtmäßiges Geheiß führte Krieg gegen Umma. Auf das Geheiß des Enlil schnappte sein großes Netz zu. An jenem Ort auf der Ebene errichtete er ihren Grabhügel.“ (Zitate nach Jaynes) Die Stimmen der Götter Kadi, Ningirsu und Enlil geben die Anweisungen, die Herrscher hören und nur weitergeben. Wie kann die Schrift einer Stele bei Nacht entziffert werden? „Die Glätte ihrer Oberfläche gibt ihm sein Hören kund; die eingemeißelte Schrift gibt ihm sein Hören kund; das Licht der Fackel hilft ihm besser hören.“ Lesen der Keilschrift wurde wahrgenommen als Hören.
Gesetzes-Stele mit Halbrelief: Hammurabi steht vor seinem Gott
Hammurabi war der größte aller Statthalter-Könige, Stellvertreter von Marduk, dem Stadtgott von Babylon. Hammurabi herrscht über sein Imperium mit einer unzähligen Menge von Briefen, Tontafeln und Stelen. Seine bekannteste Hinterlassenschaft ist der Codex Hammurabi, datiert auf das Jahr 1792 v.u.Z. In die etwa zweieinhalb Meter hohe Stele aus schwarzem Basalt ist ein Text eingemeißelt, der die Regeln des Zusammenlebens fixiert. Neben der Stele stand eine Statue des Herrschers. Am Fuß der Stele heißt es, man müsse vor die Statue Hammurabis treten „zu hören meine Worte“. Das Halbrelief zeigt Hammurabi und Marduk, wie sie sich auf Augenhöhe anblicken, es gibt kein Zeichen von Demut angesichts des Gottes. Was Marduk diktiert, ist der Wille Hammurabis, oder anders gesagt: Was Hammurabi will, ist der Wille des Gottes (Marduk/Šamaš).
In der Keilschriftliteratur finden sich immer wieder sprechende Götter. Die sprechenden Götter wurden rituell gepflegt mit Mundwaschungen. Auf den sumerischen Keilschrift-Tafeln sind für die Gottheiten sehr ausführlich komplizierte Zeremonien der Mundwaschung vorgeschrieben, mit denen die Redegabe der Götter erneuert werden sollte. „Beim Licht tropfender Fackeln trug man den Gott mit seinem Intarsiengesicht aus Juwelen zum Flußufer, und dort wurde ihm unter Zeremonien und Beschwörungen mehrmals der Mund ausgewaschen, wobei das Gesicht nacheinander gen Osten, Westen, Norden und schließlich gen Süden gewandt war. Das benutzte Weihwasser war ein Sud von vielerlei Zutaten: Tamariskenrinde, verschiedene Gräser, Schwefel, verschiedene Gummis, Salze und Öle, dazu Dattelhonig sowie verschiedene kostbare Steine. Nach weiteren Beschwörungen wurde der Gott ‚an der Hand’ zurück auf die Straße ‚geleitet’, wobei der Priester ein litaneiartiges ‚Fuß, der vorwärtsschreitet – Fuß, der vorwärtsschreitet ...’ intonierte. Am Tempeltor wurde dann nochmals eine Zeremonie abgehalten. Darauf nahm der Priester den Gott ‚bei der Hand’ und geleitete ihn zu seinem Thron in der Nische, wo ein goldener Baldachin aufgeschlagen war und der Mund der Statue abermals ausgewaschen wurde.“ (zitiert nach Jaynes)
Auch im alten Ägypten galten die Hieroglyphen generell als „Schrift der Götter“. Das Horusauge, auch Udjat-Auge genannt, ist das altägyptische Sinnbild des Lichtgottes Horus. Dem entsprechenden Hieroglyphen-Zeichen wurde magische Bedeutung zugeschrieben. Als Amulett getragen schützt es bis heute gegen den „bösen Blick“, es bringt Kraft und Fruchtbarkeit.
Osiris war die halluzinierte Stimme eines verstorbenen Königs, dessen Belehrungen noch immer etwas galten und der weiterhin die Überflutungen des Nils kontrollierte. So machte es Sinn, den Körper einzubalsamieren und mit Speis und Trank, mit Sklaven und Frauen auszustatten. Horus als der Sohn des Osiris ist gleichzeitig seine wesensgleiche „Verkörperung“, weil in ihm die halluzinierte Stimme des Königs fortlebt. Auch in den alten ägyptischen Vorstellungswelten sind die Herrscher gottgleich und die Götter menschengleich.
III – Der selbstbewusste Mensch lässt die Götter in den Himmel verschwinden
Und dann gibt es einen um das Jahr 1230 errichteten Steinaltar, der den Tyrannen von Assyrien, Tukulti-Ninurta I., abbildet. Wie in einem Schulbuch wird da das neue Götterbild erklärt: Der Tyrann steht, stolz und aufrecht, aber er ist ein zweites Mal abgebildet, kniend. Er geht auf die Knie - wovor? Nicht vor seinem Gott, sondern vor dessen leeren Thron. Der Gott ist abwesend, der Mensch wird demütig. „In der ganzen vorherigen Geschichte wird kein König jemals kniend dargestellt. In der ganzen vorherigen Geschichte gibt es keine bildliche Darstellung, die auf einen abwesenden Gott hindeutet“, konstatiert Jaynes. Alle Abbildungen Hammurabis zeigen einen aufrecht dem Gott gegenüberstehenden und lauschenden König, die früheren Rollsiegel zeigen den irdischen Herrscher von Angesicht zu Angesicht mit einem menschengestaltigen Gott. Auf den Rollsiegeln der neuen Zeit wird die Gottheit durch ein Symbol vertreten.
Aus der Zeit des Ninurta-Steinaltars ist das babylonisches Gedicht „Ludlul bel nemeqi“ (Ich will preisen den Herrn der Fertigkeiten) überliefert, dass eine Gottesverzweiflung ausdrückt, wie sie später in den Psalmen des Alten Testaments immer wieder auftaucht. Da heißt es: „Mein Gott hat mich verlassen und entschwand, Meine Göttin hat mich im Stich gelassen und hält sich fern. Der gute Engel, der mir zur Seite schritt, ist auf und davon.“ Auch Gebete und Opfer haben nicht geholfen. Erst im Tempel des Marduk, der seine „Verfehlungen im Wind zerstreute“, wird ihm Hilfe zuteil – er wird gesund.
Auch wenn die alten Götter mit Sonne, Mond und Sternen assoziiert worden waren - sie hatten auf Erden gemeinsam unter den Menschen „gewohnt“ und hatten im Tempel ihr Domizil, wo man sie pflegte und ernährte. Erst als die göttlichen Stimmen nicht mehr gehört wurden, wurde die Erde zum Tummelplatz von Engeln und Dämonen – die unsichtbaren, unnahbaren Götter wurden in der Sphäre der Wolken imaginiert. Nur die geflügelten Engel konnten Zugang zu ihnen haben.
Als im siebten Jahrhundert die Geschichte von der großen Flut, von der später auch im Alten Testament als „Sintflut“ erzählt wird, in den Gilgamesch-Zyklus eingegliedert wird, wurde damit der Wegzug der Götter von der Erde mit der Naturkatastrophe begründet: „Selbst die Götter wurden von Entsetzen ergriffen angesichts der Flut. Sie flüchteten sich hinauf in den Himmel des Anu.“
Das Verschwinden der Götter im Himmel ist die Kehrseite der Bewusstwerdung der Menschen, dass sie allein sind. Verzweifelt versuchen sie, den Willen der schweigenden Götter indirekt zu ermitteln - über Omen-Texte, Losorakel oder über eine Augurienschau. Omentexte kombinieren zwei Erscheinungen, die assoziativ zusammen gedacht werden in der Art: Wenn ein Mann unabsichtlich auf eine Eidechse tritt und sie tötet, dann wird er über seinen Gegner obsiegen. (Babylonisches Omen) Riesige Sammlungen solcher Sprüche wurden im ersten Jahrtausend zusammengetragen. Omen-Texte befassten sich mit den Unwägbarkeiten der Geburt. Die Medizin gründete in solchen Erfahrungen, welches Ereignis mit welchem Phänomen zusammentritt. Und die Astrologie: Der Stand der Gestirne bei der Geburt, interpretiert nach Mustern der Omen-Analogie, verrät bis heute das Schicksal des neuen Menschen. Träume wurden als göttliche Zeichen und Wahrsagungen verstanden, seit der spätassyrischen Periode werden sie in Traumbüchern gesammelt. Ähnlich füllt die Kultur der Los-Orakel den verwaisten Platz der göttlichen Stimmen. Aus der Praxis, den präsent gedachten Göttern Nahrungs-Opfer darzureichen, wurden die mehr und mehr symbolische Opfer-Rituale für abwesende Götter.
In den Ritualen des Gottes-Dienstes kommt ein unter den Menschen bekanntes Tausch-Verhältnis zur Anwendung: Die Menschen ehren die Gottheiten, opfern ihnen Speise und Trank, dafür erwarten sie, dass die Götter „gutes Wetter“ machen in jeder Hinsicht, d.h. den Lauf der Sterne aufrechterhalten, Naturgewalten zähmen, die Menschen mit „täglichem Brot“ versorgen und bei Krankheiten helfen.
... und die Anfänge des Selbst-Bewusstseins
Gleichzeitig zeigt sich in den Quellen ein subjektives Selbst-Bewusstsein der Herrscher. Jaynes zeigt dies mit einem Vergleich zwischen assyrischen und altbabylonischen Briefen. „Die Briefe Hammurabis sind tatsachenorientiert, konkret, behavioristisch, formelhaft, befehlshaberisch und grußlos.“ Die Schrift der Tontafeln wurde „gehört“ von ihren Adressaten, es sind Befehle des Herrschers. Zum Beispiel so: „Zu Sinidinnam sprich: so spricht Hammurabi. Ich schrieb dir und hieß dich, den Enubi-Marduk zu mir zu schicken. Warum hast du ihn also nicht geschickt? Wenn du diese Tafel siehst, schicke den Enubi-Marduk vor mich. Sorge dafür, daß er Tag und Nacht unterwegs ist, damit er eilends eintrifft.“ Oder folgender Brief: „Zu Sinidinnam sprich: so spricht Hammurabi. Ich schicke nun den Amtmann Zikirilisu und den Dugab-Amtmann Hammurabibani, die Göttinnen von Emutbalum zu holen. Laß die Göttinnen in einer Prozessionsbarke wie in einem Heiligtum nach Babylon reisen. Und das Tempelweib soll ihnen folgen. Zur Ernährung der Göttinnen wirst du Schafe bereitstellen (...). Sorge dafür, daß sie ohne Aufenthalt eilends in Babylon eintreffen.“ Der Brief unterstellt als selbstverständlich, dass die Götter auf ihrer Reise etwas zu sich nehmen wollen.
In den assyrischen Staatsbriefen des siebten Jahrhunderts, also rund 1.000 Jahre später, erscheint eine Welt von Empfindlichkeiten, Ängsten, Habgier, Widerborstigkeit und Bewusstheit. Natürlich ist das eine Kultur des selbst-Bewusstseins der Eliten. In dem Brief eines assyrischen Herrschers an seine ungebärdigen babylonisierten Statthalter im eroberten Babylonien aus der Zeit um 670 zeigt sich sogar Sarkasmus: „Botschaft des Königs an die Pseudo-Babylonier. Ich bin wohlauf. (...) Ihr habt euch also – der Himmel helfe euch – in Babylonier verwandelt! Und fort und fort erhebt ihr gegen meine Diener Anschuldigungen – falsche Anschuldigungen –, die ihr euch zusammen mit eurem Meister ausgekocht habt. (...) Das Dokument, das ihr mir geschickt habt (nichts als zudringliches hohles Geschwätz!), sende ich euch neueingesiegelt wieder zurück. Jetzt werdet ihr natürlich sagen: ‘Was sendet er uns da zurück?’ Von den Babyloniern schreiben mir meine Diener und Freunde: Wenn ich das Siegel erbreche und lese, o welche Wohlgeratenheit der Heiligtümer, Sündenvögel ...“ Diese Briefe zeigen beispielhaft eine neue Subjektivität, eine Veränderung der Mentalität kündigt sich darin bei einzelnen literarisch Gebildeten an.
Archäologie des Bewusstseins im Alten Testament
Im mittleren Osten existierten gegen Ende des zweiten Jahrtausends in der Zeit, in der die später im Alten Testament gesammelten Erzählungen entstanden, halbnomadische Stämme, Nichtsesshafte ohne Weideland (dira). Natürlich kämpften sie um gutes Weideland und um Wasserlöcher und verunsicherten die Gegend für die Händler. Für die Bewohner fester Siedlungen waren sie Räuber und Vagabunden. In schlechten Zeiten begaben sie sich freiwillig in Leibeigenschaft, ein Beispiel dafür wird in 1. Mose 47, 18-26 berichtet. Alle waren auf der Suche nach einem „gelobten Land“. In der Sprache Babyloniens nannte man diese Wüstenflüchtlinge auf den Keilschrifttafeln habiru, daraus wurden die Hebräer. Immer wieder begegnet man in den Schriften des Alten Testaments Fragmenten älterer Erzählungen und einzelnen Motiven vom Zerfall der alten Identität mit präsenten Göttern und den überlegenen Anhängern des verborgenen Gottes Jahwe. Die redaktionelle Zusammenstellung der Schriften führte bekanntlich zu einigen Unstimmigkeiten, zum Beispiel der doppelten Schöpfungsgeschichte. Die Geschichte von der Sintflut ist eine monotheistische Überarbeitung alter sumerischer Inschriften. In der Zeit, in der die Textfassungen zustande kamen, haben die Priester der Hebräer den Tempel von Resten der alten Kulte gereinigt – und deren Anhänger bekämpft, auch davon erzählen ihre Schriften. Dies zeigt sich bei einer Analyse der verschiedenen Schichten vieler Texte des alttestamentarischen Kanons.
Die elohim und der Sündenfall
Im Text von Genesis 1, dem 1. Kapitel im 1. Buch Mose, geht es um „elohim“. Elohim ist eine Pluralform, leitet sich von „mächtig sein“ her und wäre übertragbar als „die Majestäten“. Das scheint die traditionelle Bezeichnung der nomadisierenden Habiru für ihre Götter gewesen zu sein. Diese Stimmen schufen also also Mann und Frau, Himmel und Erde. Jahwe, „der Seiende“, ist einer von ihnen, ein anderer Baal oder ba’l, was soviel wie „Eigentümer“ bedeutet. Jede Ansiedlung Kanaans hatte ihren Baal, ihren Siedlungs-Heiligen.
In der Sündenfallgeschichte wird das Thema der Entstehung des menschlichen Selbstbewusstseins direkt angesprochen: Die Schlange verspricht: Ihr „werdet sein wie die elohim und wissen, was gut und böse ist“ (1. Mose 3, 5). Das war bis dahin Sache der göttlichen Stimmen, den Menschen einzugeben, was gut und böse ist. Die Herausbildung des menschlichen Selbstbewusstseins beschreibt die Sündenfall-Geschichte mit einer weiteren Metapher: Als die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, „da wurden ihrer beider Augen aufgetan“. Die in der Übersetzung „Propheten“ genannten Figuren, hebräisch „nebi’im“, sind solche, in denen die Worte und Visionen sprudelten. An anderer Stelle wird berichtet, dass der Mann, der die Stimmen hörte, für einen Spinner gehalten wurde, psychisch krank: „Denn das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag nur Spott und Hohn.“ (Jeremia 20, 7-10). Die Gottesvisionen setzen wie Anfälle ein. „Da flog der Seraphim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt. Und ich hörte die Stimme des Jahwe …“ heißt es bei Jesaja (6,6-8). Die Erzählungen der Priester-Religion integrieren so die alten Visionen des anwesenden Gottes, der zu den Menschen spricht, in der Form wundersamer Eingebungen. Noch die Jesus-Geschichte bekommt ihre Legitimität durch diverse Anleihen aus diesen alten Berichten von direkten oder indirekten Gottes-Begegnungen.
Das Bedürfnis nach einem visuellen Gottes-Erleben
Visuelle Hilfsmittel der Kommunikation mit den Göttern sind die Idole. Wie ein Kind mit seinem Teddy spricht und ihn tröstet, wenn es Angst hat, so kommunizieren religiös versunkene Menschen mit ihrem Idol. Kommunikation auf Augenhöhe erfordert Blickkontakt. Der Blickkontakt ist schon unter den Primaten von überaus wichtiger Bedeutung. Die Idole, die das Gespräch mit der Gottheit konkret machen sollten, haben oft überdimensioniert große und ausgemalte Augen. Die hervorstehenden Augen sind ein Merkmal der Tempelplastiken der frühen Götterkulturen.
Im Norden des heutigen Syrien ist dieses Augen-Idol gefunden worden, das auf die Uruk-Zeit - um 2.800 v.u.Z. - geschätzt wird.
Während Gott am Anfang im Garten wandelt und sich mit Adam unterhält, auch eigenhändig die Tür der Arche Noah verschließt, mit Jakob eine ganze Nacht lang streitet, erscheint er Mose nur ein einziges Mal „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2. Mose 33, 11). Mit der Übergabe der 10 Gebote verabschiedet sich Gott in Naturgewalten mit Blitz und Donnerwetter, von nun an wird sein Wille aus den Schriftrollen ausgelegt: „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“. Mose darf ihn nur von hinten sehen. Sogar eine prophetenlose Zeit droht: „Und es stand hinfort kein nabi in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht“ (5. Mose 34, 10).
Verzweifelt suchen die Menschen nach dem Angesicht Gottes: „Gleich wie der Hirsch lechzt nach den Wasserquellen, Also lechzt meine Seele nach euch, ihr Götter! Meine Seele dürstet nach Göttern, nach starken lebendigen Göttern! Wann werd’ ich dahinkommen, dass ich der Götter Angesicht schaue?“ (Psalm 42)
Ganz ohne visuell-körperliche Komponente kommen die Menschen nicht aus. Wo die Visionen der Gottesworte und die visuellen Vorstellungen sprechender Götter verblassen, wo dieses Verblassen in die Geschichte vom göttlichen Bildnis-Verbot eingekleidet wird, da spießen die Phantasien der Wahrsagerei und der Fetische – Losewerfen, Omen-Interpretation werden auf geheime Gottesworte abgesucht. Denn Zufall kann es in einer Welt, die von Gott regiert wird, nicht geben. Sieht der Prediger Jeremia einen siedenden Topf im blasenden Wind von Norden her, dann droht von Norden Unglück (Jeremia 1, 13-15). Metaphern, Analogien und Wortspiele sollen dabei helfen, der verborgenen göttlichen Vorsehung auf die Spur zu kommen.
Auch die Geschichten der Bücher Samuel berichten von der Auseinandersetzung der Propheten mit den Geistern der Götter. „Und Saul fragte Gott: Soll ich hinabziehen den Philistern nach?“ Es ging darum, sie auszurauben. Aber Gott „antwortete ihm zu der Zeit nicht.“ (1. Samuel 14,37) Warum spricht der Gott nicht zu ihm? Saul will durch einen Loswurf ermitteln, wer schuld ist. Das Orakel trifft seinen Sohn Jonathan, und der gesteht: „Ich habe ein wenig Honig gekostet mit dem Stabe, den ich in meiner Hand hatte; und siehe, ich muss darum sterben“. Aber das Volk stellt sich hinter Jonathan – und setzt sich durch gegen das Orakel-Wort. Schließlich sucht Saul Rat bei einer Hexe. Mit ihrer Nähe zu den Göttern legitimieren die Propheten ihren Machtanspruch gegenüber den einfachen Menschen.
Vom erbitterten Kampf des Jahwe gegen die Stimmen der elohim berichtet auch das Buch Sacharja (Zacharias): „Wenn jemand weiter weissagt, sollen sein Vater und seine Mutter, die ihn gezeugt haben, zu ihm sagen: Du sollst nicht leben, denn du redest Falsches im Namen Jahwes; und also werden Vater und Mutter, die ihn gezeugt haben, ihn zerstechen“ (13,3). Saul vertreibt alle, die einen Hausgeist („ob“) haben (1. Samuel 28, 3). Noch im Jahre 64 v.u.Z. musste König Josia den Befehl geben, die Götterstatuen zu zerstören (2. Chronik 34, 3-7), mit denen die Menschen von Angesicht zu Angesicht Zwiesprache gehalten hatten, um die Stimmen der Götter zu hören – der stumme Gott ist einer, dessen Wort von den Priestern und ihrem König verwaltet wird.
Amos spricht mit Gott, Salomon über Gott
Eines der alten Schriften ist das Buch Amos, es wird auf das 8. Jahrhundert datiert. Da berichtet ein einfacher Wüstenhirte, was ihm sein Gott in der Halluzination gesagt hat. „Ich bin kein Prophet noch ein Prophetenjünger, sondern ich bin ein Rinderhirt, der Maulbeerfeigen ritzt“, sagt Amos. „Aber Jahwe nahm mich von der Herde und sprach zu mir: Geh hin und weissage meinem Volk Israel!“ (Amos 7,14f). Formelhaft heißt es dann immer wieder: „So spricht der HERR“. Amos ist „ein Hirt, der Maulbeeren abliest“ (Amos 7, 14), er reflektiert nicht, er berichtet, was der Gott ihm gesagt hat. Gott lässt sich auch auf banale Dialoge ein, Gott fragt: „Was siehst du, Amos? Ich aber antwortete: Einen Korb mit reifem Obst. “
Die als „Prediger Salomo“ kanonisierte Schrift stammt dagegen aus dem 2. Jahrhundert. Sie enthält keinen Gedanken mehr daran, dass der gebildete Autor eine Stimme (Gottes) vernehmen würde, sie handelt von einem sich verdunkelnden Gott in einer Sprache, die Amos nicht kannte: Seele, Glauben, Verstehen. Vergeblich sucht der Mensch nach Weisheit, aber er weiß, dass alle irdischen Genüsse zur Leere, während Salomo die Nähe zu dem fernen Gott sucht. Das sein ist nichtig wie ein „Hauch“, vergänglich und vergeblich. In der Schrift finden sich die oft zitierten Sätze: „Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne; und siehe, da waren die Tränen derer, so Unrecht litten und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten.“ (Salomo 4,1) Der Prediger Salomo reflektiert das Handeln der Menschen, formuliert moralische Ansprüche in einer Sprache voller Metaphern – er redet über Gott, nicht mit Gott.
Liebes-Metaphern aus einem bäuerlichem Körper-Erleben - ohne Seele
Unter dem Titel „Lied der Lieder“ Schelomons sind alte hebräische Hochzeitslieder aus dem Jahrtausend v.u.Z in den Kanon des Talmud aufgenommenen worden (Link). In den Texten sind Einflüsse altägyptischer Liebeslyrik erkennbar, Martin Luther hat sie das „Hohelied Salomons“ genannt. Deutlich wird in dem Versuch, mit gewöhnlichen Metaphern aus dem bäuerlichen Leben ein ganz ungewöhnliches Gefühl zu umschreiben, dass das offensichtlich deutlich empfundene Selbst der Erotik kein bewusstes Selbst ist, für das es eine eigene angemessene Sprache gäbe. „Eine Hennablüte ist mein Geliebter mir / aus den Weinbergen von En-Gedi“, heißt es da, oder: „Zwei Tauben sind deine Augen.“ Geradezu befremdlich für unsere Metaphern-Welt: „Mit der Stute an Pharaos Wagen / vergleiche ich dich, meine Freundin.“ Sexuelle Anziehung kommt ohne Verbalisierung aus, romantische Liebe setzt eine komplexe Sprache voraus. In diesen frühen bäuerlichen Metaphern wird deutlich, dass die Autoren die Zuneigung nur mit den ihnen zur Verfügung stehenden Bildern zu umschreiben versuchten, ihnen fehlte die Sprache und damit das mentale Bewusstsein für das, was später „seelische“ Vorgänge genannt werden sollte. Natürlich ist die „Seele“ auch nur ein Produkt des Metaphern-Bewusstseins und der neuen Metaphern-Sprache der Verinnerlichung, wie sie in dem bald ein Jahrtausend später formulierten Text, den Paulus in seinem Brief an die Korinther als „Hohenlied der Liebe“ formuliert hat, zum Ausdruck kommt: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“
Die griechische Erfindung der Seele
In den griechischen Schriften taucht erst um die Wende zum fünften Jahrhundert das subjektive Ich-Bewusstsein auf. In der Sprache der Ilias-Überlieferung gab es dafür keine Anzeichen. Die Worte und Begriffe, die in der klassischen Übersetzung für Bewusstsein und einzelne Aspekte des Mentalen stehen, haben in der Ilias eine andere Bedeutung, sie beziehen sich auf Aspekte der leiblichen Dingwelt. „Psyche“ steht für Lebenssubstanzen wie Blut und den Atem. Thymos bedeutet Bewegung. ‚Der thymos verlässt die Glieder’ bedeutet, der Mensch bewegt sich nicht mehr. Ein thymos hat auch die tobende See. Soma, was später Körper bedeutet und einen Kontrapunkt zur Seele bildet, steht bei Homer im Plural für die toten Gliedmaßen, den Leichnam. Die Helden der Ilias kennen keinen „Willen“, sie entscheiden nicht willensfrei – sie hören auf die Stimmen der Götter. Wo wir subjektive Empfindungen unterstellen würden, wirken in der Ilias die Götter. Noos, das Wort, das später (als nous) „Geist“ bedeutet, steht in der Ilias für „wahrnehmen“, „wiedererkennen“.
„Eine Göttin flößt mit ihrem Geflüster das süße Verlangen nach der alten Heimat ins Herz der Helena…, stets ist es ein Gott, der die Heere in die Schlacht führt“, bemerkt Jaynes: „Die Götter spielen die Rolle des Bewusstseins.“ Der große Achill erklärt gegen Ende des trojanischen Krieges: „Nicht ich habe die Handlung verursacht, sondern Zeus … Es tut ja alles die Göttin ...“ Sogar die Dichtung ist Gesang der Göttin, den der Rezitator vernommen hat.
Um die Wende zum fünften Jahrhundert werden in den Schriften der Griechen die Menschen anders gedacht - mit Selbst und mit Seele (psyche), die sich zum Gegenbegriff zum stofflichen Körper entwickelt. Die Anstrengung der platonischen Philosophie ist auf die gedankliche „Befreiung und Absonderung der Seele von dem Leib (soma)“ gerichtet. Platon will die Unsterblichkeit der Seele mit Argumenten belegen. Die Idee der Seele fasziniert die Menschen: „Kulte um diese staunenerregende Geschiedenheit von psyche und soma schießen wie Pilze aus dem Boden.“ (Jaynes) Die „Orphiker“ verbreiten die Ansicht, dass die – unsterblich gedachte – Seele nach dem Tod des Körpers auf Wanderung geht. Verwundert wird ihr Ort im Körper gesucht, im Herzen, wie Aristoleles meinte – oder wohnt sie außerhalb? Besteht sie aus Wasser oder Atem? Oder ist ihre Realität eine Idee, wie Platon spekuliert? Und was ist mit dem Leib, der wie ein Kerker der Psyche erscheint? Schon für den Lyriker Anakreon war die Psyche der Ort, an dem er die erotischen Empfindungen suchte.
Der Begriff der Seele - eine Metapher, die durch den Realismus des Wortes Realität zu werden scheint - machte in der abendländischen Geistesgeschichte große Karriere. Es füllt es eine Lücke in der mentalen Selbst-Beobachtung des Menschen, es scheint unverzichtbar für Konstruktion der „Ich-Illusion”. In der platonischen Philosophie gibt es eine ewige Weltseele, das Wir, das Ganze. Der Mensch hat durch seine persönliche Seele Teil an dieser Weltseele, sie ist wie ausgeliehen, kehrt nach dem Tod des Körpers zurück, die Seele des Einzelnen ist selbst unsterblich, weil die Teil der unsterblichen Weltseele ist.
Sinn-Bedürfnis und Religion
Solange die Menschen noch ganz in ihrer Sippe integriert waren und diese Gemeinschaft ihre ganze Welt bildete, stellt sich die Frage nach Sinn nur für die Sippe und die Sippe ist unsterblich. Erst ein Mensch mit seinem persönlichen, rationalen Selbstbewusstsein, der sich neben seiner Gemeinschafts-Zugehörigkeit auch als Einzelner versteht, fragt nach dem Sinn seines Einzelschicksals – und nach dem Sinn seines persönlichen Leidens. Erst der Mensch, der sich als Einzelwesen begreift, kann seinen persönlichen Tod als etwas Bedrohliches begreifen. In den alten Mythen stellte sich die Frage nach dem Schicksal des Einzelnen nicht, erst in den mesopotamischen Schöpfungsmythen wird sie aufgeworfen. In Ägypten taucht um 2400 v.u.Z. die Frage nach dem menschlichen Heil auf, das auch das Leben nach dem Tod umschließt.
Die alten Religionen bieten einen Sinn, der die gesamte Gesellschaft durchdringt und für das kollektive Leben mit seinen Institutionen, Gesetzen, Sitten und Gebräuchen Regeln sakralisiert und rechtfertigt. Die religiösen Erzählungen handeln selten vom Glück und oft vom Unglück, sie müssen im Unglück einen Sinn erklären. (zum Glück vgl. MG-Link)
Die Fortsetzung der Geschichte des Individuums verbindet sich mit dem Buchdruck - siehe den Text Das Ich hat auch eine Mediengeschichte: Schrift, Buchdruck-Kultur und die Gesellschaft der Individuen MG-Link
siehe auch meine Texte Das gespürte Ich MG-Link Das oral-visuelle Selbst MG-Link Selbst im Netz MG-Link Gehirngespinste - wie das Gehirn Wirklichkeitsbewusstsein konstruiert MG-Link Wie kommt der Mensch zu Bewusst-Sein? MG-Link Bewusstsein des Selbst MG-Link Die göttliche Vernunft MG-Link Altägyptische Kultur des Erkennens - die Aspektive MG-Link Was ist virtuelle Realität MG-Link Aufmerksamkeit - Über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource MG-Link und Wolf Singers Text „Vom Gehirn zum Bewusstsein”, Auszüge hier Link
Anmerkungen:
1) Die buddhistische Meditations-Kultur erscheint inspiriert von einem nostalgischen Zurück-Sehnen nach solchen Formen des archaischen Bewusstseins, angereichert von einer Leibfeindlichkeit, die das archaische Bewusstsein natürlich nicht kannte. 2) vgl. dazu Gerhard Roth, Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes (2010) und Tobias Starzak, Kognition bei Menschen und Tieren: Eine vergleichende philosophische Perspektive (2014). Starzak übernimmt den Begriff der „kumulativen kulturellen Evolution“ von Michael Tomasello und betont, dass es nicht nur darum gehe, wie dank des Ratsche- oder Wagenheber-Effektes einzelne Menschen von Generation zu Generation dazulernen können. Das Bewusstsein, das sich in dieser kulturellen Evolution entwickelt, ist zunächst Kollektiv-Bewusstsein. Lange bevor der einzelne Mensch sich als einzigartig wahrnehmen konnte, waren „die Menschen“ einzigartig. 3) Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtsein durch den Zusammenbruch der Bicameralen Psyche (1976, dt. 1988) Auch wenn manche seiner Hypothesen von anderen wissenschaftlichen Untersuchungen überholt sind - den Kern seiner Überlegungen über den Zusammenhang von Evolution, Sprachentwicklung und kulturelle Ausformung des uns so vertrauten menschlichen Bewusstseins betrifft dies nicht.
Literaturhinweise: Robin Dunbar, Klatsch und Tratsch. Wie der Mensch zur Sprache fand (1998). Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Das totemistische System in Australien (frz. 1912) Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, 1. Teil: Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung (1949) Rudolf Hernegger, Der Mensch auf der Suche nach Identität (1978) Julian Jaynes, The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind (1976) Andrew Newberg, Eugene D'Aquili, Vince Rause, Harald Stadler: Der gedachte Gott (2003, engl. 2001) Gerhard Roth, Wie einzigartig ist der Mensch? Die lange Evolution der Gehirne und des Geistes (2010) Carel van Schaik, Kai Michel, Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern (2020) Tobias Starzak, Kognition bei Menschen und Tieren: Eine vergleichende philosophische Perspektive (2014)
|