Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

Cover POP1

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Das Ich hat auch eine Mediengeschichte:
Schrift, Buchdruck-Kultur
 und die Gesellschaft der Individuen

2016/2023

Menschen haben ein Empfinden für ihren Leib. Schmerz und Hunger ordnen sie ihrem leiblichen Selbst-Empfinden zu. Aber schon das Nachdenken über das leibliche Selbst-Empfinden findet in einem kulturellen Kontext statt. Die Metaphern, mit denen leibliches Empfinden zur Sprache und damit zu Bewusstsein gebracht wird, müssen gelernt werden. Und die sozialen Rahmenbedingungen der Gesellschaft, in denen sich das Bewusstsein eines Ich konstituiert, wandeln sich in der Geschichte.

Auch in traditionellen sozialen Zusammenhängen, die von Anwesenheits-Kommunikation („face-to-face“) bestimmt sind, bildet sich Identität im Netz der sozialen Kontakte. Soziale Netzwerke sind Wahrnehmungsgemeinschaften: Sie strukturieren, wie wir die Umwelt wahrnehmen und uns darin. Schon das Kind lernt, sich selbst so zu sehen, wie seine Mutter es sieht. Sich selbst für etwas anderes zu halten als die Umgebung ist kaum auszuhalten. Der aus seiner Gemeinschaft ausgestoßene vereinzelte Einzelne hatte lange überhaupt keine Überlebenschancen. Frei im Sinne von rechtlos, schutzlos und außerhalb der hoheitlichen Friedensordnung stand der, der als vogelfrei erklärt wurde, er wurde rechtlos gestellt - „den vögeln frei in den lüften und den tieren in dem wald und den vischen in dem waßer“, so definiert es die „Bamberger Peinliche Halsgerichtsordnung“ von 1507.

Die Entfaltung eines Selbstbewusstseins als Individuum innerhalb einer Gemeinschaft ist eine Frage der Kultur und insbesondere der Handlungs- und der Selbstreflexions-Möglichkeiten einer Kultur. Die Kultur liefert die denkbaren Selbstzuschreibungen: Kann ich, bei aller Prägung durch Herkunft und Erziehung, einen „eigenen Lebensweg“ überhaupt denken? Habe ich das Recht, darüber zu entscheiden?  Kann ich nach meinen Vorlieben mir einen Lebenspartner aussuchen oder ist das eine Sache der Familien-Gemeinschaft? Muss ich den Beruf wählen, den mein Vater für mich ausgesucht hat? Gibt es Artikulationen von Empfindungen  oder Verhaltensweisen, die nicht „standesgemäß“ sind, also nicht meinem Platz in der Gesellschaft entsprechen?

Zu dieser Kultur, die den Rahmen des Ich-Bewusstseins prägt, gehören wesentlich die Medien, mit denen menschliche Gemeinschaften ihren Zusammenhalt kommunizieren. Die Verbreitung der Kulturtechnik Schrift hatte wesentliche Umstrukturierungen von Denkweisen und Mentalitäten zur Folge. Schrift-Wissen überschreitet und sprengt den Rahmen des über Generationen mündlich tradierten Sippen-Wissens. Schreib- und Leseprozesse ermöglichen den Zugriff auf räumlich oder zeitlich weit entfernt geäußerte „Worte“. Das Vokabular zur Selbst-Beschreibung und Selbst-Wahrnehmung wird detailreicher, geschriebene Texte können Sachverhalte in einer logischen Komplexität darstellen, die in wörtlicher Rede „oral“ kaum nachvollziehbar wäre.

Orale Gesellschaften haben sich natürlich ihre Gedanken über existentielle Fragen gemacht, insbesondere angesichts des Todes. In den altägyptischen Todestexten gibt es Reflexionen über den vergänglichen Leib. Da die Vorstellung eines schlichten Vergehens unerträglich war, erzählte die ägyptische Mythologie von einem „ka“, einem nicht-vergänglichen, nicht-körperlichen Teil des Menschen - Jan Assmann umschreibt dieses „ka“ als „Sozialseele“, eben nicht ein individuelles Ich, sondern die Rolle des Verstorbenen in der Sozialsphäre, die vom Vater auf den Sohn übergeht. Der einzelne Mensch ist (und blieb über den Ahnenkult) damit ein Element seiner familiären Gemeinschaft: „Der Sohn ist nichts ohne den Vater, der Vater nichts ohne den Sohn.“ (Assmann) Wenn nichts aufgeschrieben wird, gibt es als Erinnerung an einen einzelnen Menschen nur das Gedächtnis seiner Familie.

Das Denken des Selbst

Die griechische Philosophie entwickelte sich über Generationen in Form eines auf der Basis des phonetischen Alphabets verschriftlichten Dialogs. In den Handelsstädten entstanden Denk-Schulen, die sich von den religiösen Autoritätsstrukturen lösten und nach dem Muster der Geometrie rationale Schlussfolgerungen als neue Methode für Wissen entwickelten, die in Konkurrenz standen zur „Logik“ der alten assoziativ-mythischen Erzählungen. Für Platon und Aristoteles waren die freien Männer vernunftbegabte Wesen, die ihre Erfüllung allerdings nur in der Teilhabe am Staat finden konnten.

Vorstellungen eines Individuums waren in der griechischen Kultur kaum entfaltet.  Besondere Einzelne spielten eine Rolle in den Gemeinschaften, als Schamanen, Herrscher, Priester – und dann eben als profane Lehrer. Im 4. und 5. vorchristlichen Jahrhundert haben diese griechischen Philosophen begonnen, ganz allgemein von einer Doppelstruktur des einzelnen Menschen zu reden und eine Unterscheidung zu konstruieren zwischen „σῶμα“, dem vergänglichen Körper oder Leichnam, und einer Innenwelt, die als Seele und eigentlicher Sitz des Subjektes gedacht wurde. In diesem gedanklichen Dualismus drückt sich die Ahnung aus, dass es hinter der Rollenmaske „πρόσωπον“ (prosopon), also dem sozialisierten, vergemeinschafteten, selbstdisziplinierten Rollen-Gesicht, wie es auf der Bühne der Polis erschien, noch etwas ganz anderes gibt.

Die Schriftkultur der griechischen Elite wurde im christlichen Frühmittelalter nicht tradiert, sondern als heidnisch abgelehnt, ihre Zeugnisse wurden in Zentraleuropa weitgehend vergessen und vernichtet
und erst über arabische Überlieferungen wiederentdeckt. Es kam zu einzigartigen Beispielen des individuellen Selbst-Bewusstseins einzelner profaner Gelehrter, etwa bei Abaelard (1079-1142) und Heloise. „Liebe (amor) aber ist das Verlangen, dass es dem Geliebten um seiner selbst willen gut geht, und zwar so, wie er meint, dass es für ihn gut sei”, formulierte Abaelard um 1140. Er war ein Gebildeter in der griechisch-arabischen Tradition. Die Gedanken Abaelards faszinierten offenbar die Zuhörer in seiner Zeit, davon zeugt die Anzahl seiner Schüler, aber sie konnten unterdrückt werden wie die ketzerischen Ansichten des böhmischen Predigers Jan Hus im frühen 15. Jahrhundert.
Für Liebe als persönliche Emotion, so der Historiker Peter Dinzelbacher, finden sich im frühen Mittelalter keine Anzeichen. Bernhard von Clairveaux etwa meditierte wortreich über das „Hohelied der Liebe“ und bezog es dann auf das Verhältnis der Seele des Einzelnen zu Gott. Der für uns naheliegende Schritt, den Abaelard gegangen ist, als er mit seiner Heloise dieses Liebesverhältnis als zwischenmenschliches verstand, überforderte offenbar die Theologie der Zeit.
Eine nachhaltige kulturell-gesellschaftliche Breitenwirkung konnten neue Gedanken erst seit der Erfindung der Drucktechnik entfalten.

    Exkurs zu der Beichte als frühem Zeugnis von individuellem Schuld-Bewusstsein

    Historiker wie Peter Dinzelbacher, Günther Mensching und Michael Mitterauer, die sich mit der Frage, warum sich offenbar in der Renaissance seit dem 12. Jahrhundert ein individuelles Selbstbewusstseins entwickelte („Warum Europa“), erwähnen die klimatischen Veränderungen, die die bäuerliche Landwirtschaft ertragreicher machten, die Bevölkerungszunahme, die beginnende Arbeitsteilung der Stadt mit ihren handwerklichen Künsten – soziale Prozesse, die gleichzeitig mit den ersten Anzeichen eines neu entstehenden Selbstbewusstsein des einzelnen Menschen festzustellen sind. Ihre Aussagen über Ursache-Wirkung-Beziehungen bleiben allerdings sehr allgemein. „Dieser äußeren Freiheit der Stadt entspricht die innere der Bürger“, formuliert etwa Mensching. Entsprechungen sind allerdings keine Erklärungen und auch aus Mitterauers Hafer-Mühlen lassen sich die frühen Zeugnisse des Individualismus kaum herleiten. Die Handwerker-Familien waren ähnliche Zwangs-Gemeinschaften wie die bäuerlichen Familien.

    Ein Prozess der Individualisierung spiegelte sich gleichzeitig in den Praktiken der Gewissensbeichte und wurde sicherlich dadurch auch befördert. Auffallend ist, dass es im Mittelalter zunehmende Macht-Praktiken der persönlichen Beichte gab. Im frühen Mittelalter gab es noch „Tarifbußen“, die Bußbücher listen Bußen für äußerliches Fehlverhalten auf. Wichtig war die Beschämung durch öffentliche Bußen. „Nach der inneren Einstellung wurde nicht gefragt.“ (Dinzelbacher) Wenn ein Mensch gegen Ende seines Lebens ein einziges Mal zur persönlichen Beichte ging, war das ausreichend. Im Zentrum der frühmittelalterlichen Beichte stand die materielle Wiedergutmachung, die sich an die Beichte anschloss.
    Wenn auf dem Konzil von Lyon (1274) das „Fegefeuer“ kanonisiert wurde, dann zeigt sich, dass diese Formen der Wiedergutmachung nicht mehr ausreichend waren, um kleine Sünder in permanenter Angst und Bußfertigkeit zu halten. Natürlich machte die Kirche auch aus der Angst vor dem Fegefeuer ein Geschäft – es wurde nach dem Modell der Tarifbuße verkündet.
    Die massenhafte Einzel-Beichte war in ihren historischen Ursprüngen eine erzwungene Beichte: Im Kampf gegen die Katharer (12. Jahrhundert) wollte die Kirche ihre Macht über die Einzelnen ausbauen. Das muss man nicht unbedingt als Individualisierung verstehen - es ging schlicht um ein neues Rollen-Modell der Menschen, zu dem die Innenschau gehörte. In der persönlichen Beichte sollte der Beichtling nach seinen Motiven der Sünde und nach sündigen Gefühlen suchen, und auch die Inquisition bestrafte nicht mehr die Tat, sondern falsche Gesinnung. Solche Macht-Praktiken haben für die einfachen Menschen erst den Wortschatz bereitgestellt, mit dem sie sich persönlich als schuldig oder unschuldig empfinden konnten. Auch die Priester konnten in den Beicht-Büchern nachlesen, welche Empfindung als Sünde klassifiziert werden sollte. Die Beichte war eine orale Praxis, inszeniert, von oben initiiert und gesteuert konnte sie nur im Rahmen einer verschriftlichten Kirchenkultur werden. 
    Die Beichte wurde zum Geständnis des Einzelnen. Der Beichtende muss wissen, was alles überhaupt in den Bereich des Sündhaften fallen kann, er muss lernen, seine Motive, Gedanken, Empfindungen und Phantasien zu klassifizieren. Das Vierte Laterankonzil (1215) ordnete nicht nur an, dass alle Gläubigen, Männer wie Frauen, wenigstens einmal jährlich „allein seinem eigenen Priester alle Sünden treulich bekennen" sollten, gleichzeitig wurde das Beichtgeheimnis definiert und geschützt - sein Bruch war mit empfindlichen Folgen bis hin zur und Exkommunikation des Priesters  bedroht. Auch der Priester musste das ihm Anvertraute verschwiegen verarbeiten. 1614 wurde der geschlossene Beichtstuhl eingeführt, der sogar das Gesicht des Beichtlings verbarg - es ging nur noch um sein Gewissen. Vorrangiges Ziel der Buße ist nicht mehr der öffentliche Pranger, sondern das Selbst-Bewusstsein des Sünders und seine innere „Zerknirschung". Ein fest-geschriebenes, allgemein verbindliches kirchliches Sünden-Bewusstsein, dass den einzelnen Gläubigen adressierte, begann die Ethik der Sippen zu verdrängen.

    Bis zum 15 Jahrhundert vollzog sich der Übergang von den öffentlichen „Schamkultur“ zu einer individualisierten „Schuldkultur“, zum Bekenntnis der Sünden im vertraulichen Beichtgespräch. Über die Beichten wurde Buch geführt. Schon die zeitgenössische Kritik erkannte darin den Machtanspruch. Heinrich Wittenwiler spottete 1409: „Sie bleuten ihre Herzen so heftig, dass ihnen das Blut aus Mund und Nase trat.“ Der Schreiber des Abtes von Zweifalten formulierte 1507 seine Kritik: „Die Priester und Bischöf haben uns Laien gar unterdrückt und in die höchste Dienstbarkeit geführt. Dann erstlich haben sie erdacht ein Weg, dass wir ihnen müssen bekennen unser Heimlichkeit durch die Beicht. Zum andern sind wir gezwungen, hineinzugehen in die Kirchen und ihnen auch Geld zu opfern“.

    Dinzelbacher sieht die Ursprünge des individuellen Selbstverständnisses in der mittelalterlichen Beichtpraxis, er spricht von einem „erzwungenem Individuum“. Dass den mittelalterlichen Menschen die Vorstellung ihrer Individualität gleichsam von oben hineingezwungen worden sein soll, um sie subtiler beherrschbar zu machen, wäre aber eine befremdliche Vorstellung. Die dahinter stehende These, dass es im Christentum gleichsam ein individualisierendes Potenzial gebe, darf auch mit Vorsicht betrachtet werden. In den ersten 1000 Jahren der Geschichte des Christentums ist so etwas nicht wirksam geworden, die Gesellschaften in christlichen Herrschaftsgebieten wie Äthopien oder Armenien geben auch keinen Hinweis darauf.
    Auf jeden Fall aber hat sich mit der Beichtpraxis eine legitime Form entwickelt, sich als Einzelner zu denken und dies auch zu artikulieren – ohne zwingende Folgen für die soziale Gemeinschaft, ohne die Chance, mit dem tradierten Rollenverhalten zu brechen - aber für Historiker nachvollziehbar dokumentiert. Die Frage nach dem Warum: Warum entwickelte sich Individualität in Europa? bleibt offen.
    Der Anthropologe Joseph Henrich, der das Akronym WEIRD für „western, educated, industrialized, rich and democratic“ prägte, geht auch von der Feststellung aus, dass Verhaltensweisen, die unter dem Begriff des (europäischen) Individualismus zusammengefasst werden, sich historisch in dem Raum ausgebildet haben,  in dem zwischen dem fünften und dem fünfzehnten Jahrhundert der Katholizismus dominant war: Westeuropäer und ihre kulturellen Verwandten in Übersee verhalten sich unabhängiger als Menschen aus anderen Kulturkreisen. Sie denken analytischer und sind sie in geringerem Maße bereit, sich unterzuordnen. Nicht die Beicht-Praxis macht Henrich dafür verantwortlich - die Individual-Beichte wäre eher die Folge - sondern das Ausmaß, in damals die Heirat unter Verwandten üblich war. Der Katholizismus hat – warum, lässt Henrich offen -  seit der Spätantike energisch gegen die „Onkel-Ehe“ polemisiert. Innerfamiliäre Zwangs-Ehen wurden seit dem 12. Jahrhundert von der Kirche abgelehnt, Begründung: Für eine gültige Ehe bedürfe es der Einwilligung der Frau. Verheiratete sollten einen eigenen Hausstand bilden. Das richtete sich gegen die Sozialform des Clans – und  die damit verbundenen Formen der Inzucht.

    Wo die christliche Kirche Einzelpersonen bekehren und durch die Beichtpraxis ihrem Regime unterwerfen wollte, musste sie ein individualisierendes Selbst-Bewusstsein schon voraussetzen. Die inquisitorische Verfolgung der Katharer und Waldenser hat aber nicht Einzelmenschen, sondern Glaubensgruppen dem Machtanspruch der Kirche unterworfen, abweichende persönliche Überzeugungen wurden auch bei den Abweichlern nicht geduldet. Humanismus und Renaissance verbreiteten sich gegen den bitteren Widerstand der Kirche. (dazu vgl.  MG-Link zu Humanismus und Reformation) 

    „Subjekt“ durfte in der religiösen Ordnung nur ein Unterworfenes sein, ein sich selbst unterwerfender Mensch. Die These, dass die Individualisierung des Selbstbildes in der christlichen mittelalterlichen Theologie und dann in der Beicht-Praxis ihre Ursprünge hat (Dinzelbacher u.a.), übersieht daher Wesentliches. Der erste, der es wagte, im spätmittelalterlichen christlichen Europa den Gedanken zu formulieren, dass der Mensch frei sei, sozusagen sein eigener „Bildhauer“, Pico della Mirandola, musste sich sofort mit der päpstlichen Verurteilung seiner Gedanken auseinandersetzen. Pico della Mirandola starb 1494 überraschend – eine Untersuchung ergab 2007 Indizien für eine Arsenvergiftung.

    Es muss schon etwas da gewesen sein, was dann empfunden und verbalisiert - und bekämpft werden konnte. Für die Mentalitätsgeschichte ist entscheidend, dass „vermittels der Beichtpraxis sich der sprachliche Code zur Mitteilung innerer Befindlichkeiten“ (Dinzelbacher) verbreitete. Der Prozess dauerte über Jahrhunderte. Bei der Sündenbeichte wie auch bei der kommunikativen Erotisierung des Geschlechterverhältnisses der Minne-Lyrik handelte es sich lange noch um eine schematische, „fingierte Subjektivität“, so der Literaturwissenschaftler Dieter Kartschoke. Die überlieferten Beschreibungen der Beichte und des Minnesangs liefern keinen individuellen Detailrealismus, sondern Stereotype. Es ging um die Verwirklichung einer vorgegebenen oder neu zu findenden Ordnung, „Selbstverwirklichung des autonomen Ichs liegt hier noch völlig fern“. (Kartschoke) Auch der Brief war im Mittelalter „kein Medium privater Mitteilung und persönlicher Ansprache“. Ausgerechnet die Mystik gab den Rahmen vor für die Suche nach persönlichem Gotteserlebnis - die einsamen Mystikerinnen suchten das „Du” in ihren Phantasien der heiligen Figuren.

Druckwerke als Medien der Selbstreflektion

Erst im späten 16. Jahrhundert, also ein Jahrhundert nach der Erfindung des Buchdrucks, darauf verweist Richard van Dülmen in seiner Geschichte der „Entdeckung des Individuums“, finden sich zahlreiche Dokumente eines individualisierten „Nachdenkens über sich selbst“ in den gebildeten Kreisen: Individuelle Portraits werden in der Malerei selbstverständlich, Autobiografien erscheinen, Tagebücher, Selbstzeugnisse, die Briefwechsel dokumentieren es.

Die Möglichkeit, den eigenen Worten und dem eigenen Werk für immer feste Gestalt zu verleihen, ermöglichte eine neue Vorstellung von Individualität. Im Mittelalter war die Frage nach der individuellen Leistung nahezu bedeutungslos. Auch individuelle, persönliche Autorschaft spielte selten eine Rolle – die Schreiber der Bücher waren die Abschreiber. Die neue Möglichkeit, in einen breiten Wettkampf der Meinungen einzutreten und das Geschrieben zu vervielfältigen, spornte den Stolz der Menschen offenbar an. Die Druckerpresse veränderte auf breiter Basis das Bewusstsein des Menschen von sich selbst. 

Mit der Verbreitung vieler Bücher verbreitete sich eine ganz andere Tradition des Lesens: Isolierte Leser konnten sich mit ihrem privaten Blick in die Schrift versenken und deren Inhalte studieren. Leser zogen sich aus der Sozialsphäre zurück in ihren eigenen Kopf, vom 16. Jahrhundert an verlangten die Leser von den Menschen in ihrer Umgebung vor allem eines - Stille. Individualismus wurde zu einer regulären, akzeptierten psychischen und psychologischen Struktur. Die neue Kommunikationstechnik hat die Struktur der Interessen der Menschen verändert und die Persönlichkeit als unverwechselbares Individuum zu einem Gegenstand des Nachdenkens und Sprechens gemacht (Harald Innis).

Martin Luther (1483-1546) ist ein frühes Beispiel für ein starkes Individuum: Der Vater war Hüttenmeister im Kupferschiefer-Bergbau. Luther durfte studieren, und er studierte nicht das, was der Vater wünschte. Er brach dann ganz persönlich mit der katholischen Kirchenlehre, brach sein Gelübde, heiratete. In der Ablehnung des vom Reichstag von Worms geforderten Widerrufs bezieht sich Luther 1521 auf die Heilige Schrift „und vernünftige Gründe“ und schließt mit dem Hinweis auf sein Gewissen: „Darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist.“ 

Die Verbreitung der Schreibkunst ermöglicht auch außerhalb der religiösen Kommunikation einen starken Bezug auf sich selbst. Der Katholik Erasmus von Rotterdam (1446-1536) ist dafür ein Beispiel. Er versteht sich als freier Schriftsteller und bezieht sich auf die „christliche Vernunft“, nicht auf kirchliche Lehren. „Ich wünsche Weltbürger zu sein, allen zu gehören oder besser noch Nichtbürger bei allen zu sein“, schrieb Erasmus 1522 an Zwingli. 
Van Dülmen verweist besonders auf drei Dokumente des Individualismus im späten 16. Jahrhundert, für die es keine literarischen Vorbilder gab: Girolamo Cardano (1501 – 1576), der italienischen Arzt und Naturforscher, hat eine (unfertige) Lebensbeschreibung hinterlassen, in der er ausführlich, sehr offen und subjektiv seine körperlichen und seelischen Zustände schildert. Michel de Montaigne (1533 – 1592) hat in einem auf Französisch geschriebenen Essay über sich selbst reflektiert: „So bin ich selbst der einzige Inhalt meines Buches.“ Und die spanische Nonne Teresa von Avila (1515 – 1582), eine selbstbewusste religiöse Frau, hat in ihrer Muttersprache den Satz formuliert: „Gott und ich - wir zusammen sind immer die Mehrheit!“


Kultur der Schriftsprache

Wenn die Neurowissenschaftler und Psychologen heute von „Sprache“ sprechen, meinen sie in der Regel die elaborierte Schriftsprache und nicht die Sprachlaute oraler Gemeinschaften. Diese Schriftsprache repräsentiert die Welt so, wie das sprachlich fixierte Weltbild sich seit Generationen ausgeformt hat. Jahrelange Schulbildung ist erforderlich, um dieses sprachlich konstruierte Weltbild an ein neues Menschenkind weiterzugeben. Das sprachlich vermittelte „Verständnis“ fügt die sinnliche Wahrnehmung in ein Weltbild ein, das sich in der Regel auf das Gedächtnis als Vorratskammer für mögliche Interpretationen stützt. Steven Pinker: „Die Flexibilität des Denkens, die sich daraus ergibt, ist undenkbar bei Tieren.“ Erst soziale und kulturelle Lernprozesse haben aus den kognitiven Grundfertigkeiten des archaischen homo sapiens die komplexen kognitiven Fähigkeiten der modernen Menschen wachsen lassen.

Selbst-Bewusstsein und Selbst-Erkennen spielen sich in unseren Köpfen ab. Gefühlsmäßig „zuhause“ ist auch der Mensch nur bei mittleren Entfernungen und Zeiten, kleinen Geschwindigkeiten und Kräfte, bei geringer Komplexität. „Mesokosmos“ nennt der Evolutions-Theoretiker Gerhard Vollmer diese Welt. Nur im Mesokosmos hilft die Intuition, und aus diesem Bereich nimmt die Sprache ihre Metaphern, mit denen sie Brücken in die Welt der kulturellen Konstruktionen baut. (zur Sprache der Metaphern siehe MG-Link) Das aufgeklärte Denken der Schriftkultur und die darauf aufbauende wissenschaftliche Erkenntnis überschreiten die Grenzen des Mesokosmos – der Mensch muss bei solchen gedanklichen Reisen seine Vorstellungskraft und Intuition zurücklassen. Die Schriftsprache ermöglicht es, über Gedanken nachzudenken, ein „Bewusstsein des Bewusstseins“ zu entwickeln. Gedankliche Konstruktionen können auf Begriffsklassen und abstrakten Worten aufgetürmt werden. Die Schriftsprache löst das Nachdenken von der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung. Im Gedächtnis können sprachliche Konstruktionen gespeichert werden. Die Speicher-Funktion von Medien, von Tagebuch-Notizen und Familienbildern, potenziert den möglichen Umfang des autobiografischen Gedächtnisses und bereichert damit die Komplexität des „autobiografischen Selbst“ und eines möglichen Nachdenkens über das Ich. Die Geometrie versucht die Welt mit Ideen zu beschreiben, die frei erfunden sind und nirgends in der Natur „zuhause“, schon die Idee des Kreises und der Geraden sind solche Hirngespinste. Die Naturwissenschaften operieren mit Wellenlängen, bei denen sich Auge oder Ohr nicht mehr zu Hause fühlen, die es für Auge und Ohr schlicht nicht gibt. Die Mathematik führt in ferne Galaxien: Quantentheorie oder Chaostheorie übersteigen den in der Evolution entwickelten praktischen Menschenverstand. (vgl. meinen  Text über die „Nano-Wirklichkeit“ MG-Link  und physikalische Wissens-Ordnung MG-Link)

Mit der Sprachkultur hat sich eine eigene kulturelle Zwischenwelt gebildet. Worte generieren Wirklichkeits-Vorstellungen. „Der Wortrealismus hat grundlegende Bedeutung für die verbale Kommunikation schlechthin. Den größten Teil unserer Bildung - und auch Unbildung - vermittelt verbales Lernen von Dingen, die wir niemals gesehen haben und wohl niemals sehen werden, die aber lebenslänglich in unserem Denken eine Rolle spielen und mit denen wir rechnen müssen.“ (Joseph Church) Die Lernzeit, die ein menschliches Individuum benötigt, um sich den schriftkulturellen Schatz der vergangenen Generationen anzueignen, liegt inzwischen bei einem Viertel seiner Lebenszeit. Schon Immanuel Kant wusste, dass die schriftsprachlich organisierte Vernunft den Menschen auch belästigen kann durch Fragen, „die sie nicht beantworten kann“. Steven Pinker: „Wenn alles klappt, verflechten sich unsere Vernunftinstinkte zu komplizierten Programmen für rationale Analysen, aber das liegt nicht daran, dass wir uns irgendwie mit einem Bereich der Wahrheit und Vernunft beraten würden. Die gleichen Instinkte kann man mit Sophisterei hinters Licht führen oder auf Paradoxa (wie Zenos spitzfindigen Nachweis, dass Bewegung unmöglich ist) stoßen lassen." 

Das, was als „Identität“ über dem leiblich-affektiven Kern aufwächst, ist eine Konstruktion der Schriftkultur. Das erwachsene „Ich“ lebt sich nicht mehr nur unmittelbar leiblich-affektiv aus, sondern ist überformt, gebrochen und „kultiviert“ durch Verhaltens- und Empfindens-Normen. Das individuelle Bewusstsein interpretiert das, was es leiblich und affektiv spürt, mit sozialkulturellen Mustern: Ich bin ein Mensch, ein Mann, Schuster, Afrikaner, ein Ehemann, ich bin verliebt, ich bin krank oder sündig - ich werde eine Person. Mit Selbstzuschreibungen entstehen charakteristische Merkmale der Person, die ihren Platz im Leben einnimmt. „Selbstzuschreibung ist das identifizierende Sichbewussthaben.“ (Hermann Schmitz) 

Auch die Individuen waren als Subjekte Unterworfene

Literalität verlangt die Unterwerfung des Leibes unter den Geist: Still sitzen, sich auf Buchstaben konzentrieren, Schreibrohr, Griffel und Feder ruhig halten, auf einer geraden Linie Schreiben, einen Buchstaben wie den anderen nach Vorlage malen – alles Disziplinierungsakte der „Volksschule“.
Nach der Durchsetzung der allgemeinen Schriftkultur in Folge der Buchdruck-Technik werden Kinder nicht mehr mit sieben Jahren „erwachsen“, wenn sie arbeitsfähig sind, sondern erst dann, wenn sie lesen gelernt und die Welt der Typographie betreten haben.

Im 18. Jahrhundert ermöglichten die weit verbreiteten biografischen und einfühlsamen Romane dann eine allgemeine bildungsbürgerliche Auseinandersetzung mit den neuen Rollenbildern der Individualität. Schriften geben eine kommunikative Form vor für die Thematisierung des Persönlichen und Intimen, formulieren die benennbaren und legitimen Empfindungen - auch in der Selbstwahrnehmung der Lesenden. Die Romane stellen vor, war normal ist und was die Sprache des Normalen ist – sie normieren damit die Gefühlsempfindungen.
Zu dem neuen profanen Rollenbild gehört die Thematisierung des Eigennutzes. Uneigennützige Liebe war die Tugend in der christlichen Tradition, Eigennutz ein Negativ-Wort, der Vorwurf konnte Bestrafung nach sich ziehen. Leonhard Fronsberger aus Ulm schrieb 1564 ein Buch mit dem damals sensationellen Titel „Vom Lob des eigen Nutzen“. Nichts anderes als der Eigennutz motiviere die Menschen, behaupte er. Samuel von Puffendorf lobte 1711 in „Natur und Volksrecht“ die wohltätigen Effekte des Eigennutzes. Bernard Mandeville 1723 formulierte Selbstliebe als Naturgesetz: „So wird man in keinem lebenden Wesen etwas finden, was aufrichtiger gemeint wäre als sein Wille, Wunsch und Bemühen, das eigene Selbst zu erhalten.“ Im 18. Jahrhundert setzte sich der legitime Eigennutz als die andere Seite des Individualismus durch.

Ein anderes Thema, das die Entwicklung neuer Rollenbilder zeigt, ist die Institution der Ehe: Im europäischen Mittelalter war sie kein privater Akt, sondern kontrollierte Form der Lebensgemeinschaft und der einzige legitime Ort für Sexualität. Die Institution der Ehe berücksichtigte persönliche Vorstellungen und Wünsche nur so weit, als sie die Lebensgemeinschaft, den Arbeitsprozess, den Besitz und die Familienstrategie nicht gefährdeten. Oberhaupt der Familie blieb der Mann. Auch wenn die Kirche schon früh Klöster einrichtete, um Frauen die Scheidung zu ermöglichen - erst die Aufklärer verlangten die „Übereinstimmung der Gemütsart, eine gewisse Gleichheit in unseren Meinungen und Neigungen, einen innerlicher Trieb, dem anderen zu gefallen, sein ganzes Herz, seine ganze Hochachtung zu besitzen“ (van Dülmen). Das Scheidungsrecht ist ein Spiegel dafür, wie (wenig) ernst das gemeint war.

    Lit.:
    Richard von Dülmen
    , Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart (2001),  darin insbesondere
      Peter Dinzelbacher, Das erzwungene Individuum. Sündenbewusstsein und Zwangsbeichte
      Dieter Kartschoke, Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur

    Joseph Henrich, Die seltsamsten Menschen der Welt. (2023)
    Benedikt Konrad Vollmann, Die Wiederentdeckung des Subjekts im Hochmittelalter,
       in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, (Hg. R.L. Fetz u.a. (1989)
     

    s.a. meine Blog-Texte
    Wie kommt der Mensch zu Bewusst-Sein?  M-G-Link
    Selbst im Netz - Identitätskonstruktionen in der digitalen Medien-Gesellschaft  M-G-Link
    Zur „Erfindung der Liebe im Hochmittelalter” siehe Liebes-Lyrik
    MG-Link