Klaus Wolschner 

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


II
Politik
und Medien

Augensinn Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder
beim Autor
 
klaus@wolschner.de

 

Schriftmagie Cover

Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

ISBN 978-3-7375-8922-2
im Buchhandel
oder beim Autor 
klaus@wolschner.de

Zur Typologie des Verhältnisses von Medien und Politik:

Vor 1789: „Hören-Sagen”-Öffentlichkeit

in der frühen Neuzeit

2011

„Wir haben einfach alles gesehen, weil das alles aufregend war“, mit solchen Bemerkungen beschreiben Zeitzeugen ihren Fernsehkonsum in den frühen 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts, als die ARD dreieinhalb Stunden lang pro Tag körnige, aber bewegte schwarz-weiße Bilder ausstrahlte. Nicht der spezielle Inhalt war die Botschaft, sondern das neue Medium, das die ganze Welt ins Wohnzimmer zu bringen schien und damit die Illusion des „Dabei-Seins“ ermöglichte.

Die Reaktion der Menschen auf die gedruckten Flugschriften im 15. und 16. Jahrhundert und die gedruckten periodischen „Zijdunge“-Nachrichten im 17. Jahrhundert darf man sich ähnlich vorstellen. „Da reise ich in Gedanken durch die weite Welt”, schrieb Caspar von Stieler 1695, „ich schiffe über Meer, bin bey den See- und Landschlachten gegenwärtig,  schaue zu, wie man die Flügel schwinget, aufeinander feuer giebet, Gefangene hinweg führet, Stücke vernagelt,  Minen sprenget und Beute machet, und dieses alles ohne einzige Gefahr, Mühe und Kosten.”

Schriftlich Fixiertes war wertvoll, Zugang gab es bis dahin eigentlich nur für Autoritätspersonen, Gelehrte und Priester. Gedruckte Bilder waren ein Stück Realität, gedruckter Text war Wahrheit. Gott hat die 10 Gesetze Mose „diktiert“ wie Allah den Koran seinem Propheten Mohammed – das ist ein Sinnbild für den Wahrheitsanspruch und Herrschaftscharakter des Geschriebenen und Gedruckten. (siehe dazu Reformation und Buch)

Und nun kam in der Reformation eine andere Wahrheit auf kleinen Zetteln in jedes Dorf. In der Reformationszeit wurde da der Sturz der Autorität par excellence inszeniert – es gab mehrere Wahrheiten und damit keine mehr. Und die Wahrheiten waren für jedermann verfügbar, der lesen oder zuhören konnte. Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein präsentierten Flugblätter und Flugschriften vor allem heilsgeschichtlich bedeutsame Informationen. 

Dass Nachrichten regelmäßig gedruckt verbreitet werden – seit 1605 als mehrfach wöchentlich erscheinende Zeitung – war eine Medien-Sensation. Die Nachrichten waren selten wirklich relevant für ihre Empfänger. Wichtig für Handelstreibende waren Handelsnachrichten und die wurden - im Falle der Fugger-Briefe - bis zum Ende des 17. jahrhundert handschriftlich und gezielt verbreitet. Meist transportierten die Zeitungs-Nachrichten ein Stück neuen Weltwissens und Kuriosa. Eine „politische Öffentlichkeit“ im modernen Sinne entstand damit nicht.

Die Geschichte der Druck-Medien bezieht sich gewöhnlich auf historische Daten – 1605 erste regelmäßige Zeitung in Straßburg, 1650 die erste täglich erscheinende Zeitung in Leipzig. Die ersten Zeitungen hatten aber nur eine geringe Auflage, ihre gesellschaftliche Bedeutung lag nicht in ihrer Reichweite begründet, sondern eher in der Sensation des neuen Mediums: Indem aus der ganzen damals bekannten Welt berichtet wurde, kündigte eine geistige „Welteroberung durch ein neues Publikum” (Holger Böning) an.

Während die Flugschriften seit der Reformation ein Medium für Meinungsvielfalt und aufrührerische Gedanken war, blieben die Zeitungen noch lange ein Instrument der lesekundigen städtischen Eliten und der Machthaber, die über die Zensurmöglichkeiten verfügte. Die Zeitungen verbreiteten die Nachrichten so, wie sie an den Poststellen ankamen, und verzichteten auf eine Deutung des Berichteten in übergeordneten Sinnhorizonten. Die Öffentlichkeit der breiten Volksmassen war von „Anwesenheitskommunikation“ geprägt, Druckwerke dienten höchstens den Wortführern als Informationsquelle und Gedächtnisstütze. Auf den Märkten und in den Kneipen ging es mehr um die Zirkulation von Gerüchten und Haltungen als um überprüfbar wahre Informationen. In dieser „Hören-Sagen”-Öffentlichkeit wurden politische Vorgänge nach den Mustern von privatem Tratsch und Klatsch in ein Weltbild voller Geister und Gespenster integriert und kolportiert. 

Regelmäßige und einigermaßen aktuelle Informationen aus der Welt des Politischen erreichten nur die wenigen, die in die bestehenden Korrespondenten-Netze einbezogen waren. Bezeichnend ist ein „Ereignis“, das Holger Böning als erste Zeitungsente beschreibt: „In Gutenbergs Türkenkalender für 1455 - Eyn manung der cristenheit widder den durken - wurde über die Eroberung von drei osmanischen Städten durch den Fürsten von Caramanien berichtet und das ungarische Konyar mit dem anatolischen Konya verwechselt, dessen Fürst zum Zeitpunkt der Nachricht bereits Frieden mit dem türkischen Sultan geschlossen hatte.“ Als Quelle war angegeben: „N.T.“, also: non testatum, nicht bestätigt. Die Meldung hatte den Zweck, für den Kampf gegen die Türken zu rekrutieren. Ihr Wahrheitsgehalt trat demgegenüber zurück, sie wurde natürlich nicht dementiert. Der – jährlich erscheinende – Kalender war kein Medium der Aktualität. Gerüchte konnten noch 100 Jahre später eine besondere Durchschlagskraft bekommen, wenn sie sich auf schriftliche Neuigkeiten bezogen: Schon 1623 gab es in Nürnberg, einem wichtigen deutschen Handels- und Nachrichtenplatz, einen Ratsbeschluss, der die Verbreitung handschriftlicher Zeitungsmeldungen als Gefahr beschreibt:

„Und weil man täglich erfährt", so mahnen die Ratsherren, „dass die kaufleute am markt fast täglich allerlei seltsame discours bei ablesung der Zeitungen treiben, dadurch gemeiner Stadt leichtlich grosse gefahr könnte zugezogen werden, ist befohlen, die kaufleut durch die marktvorgeher warnen zu lassen, sich des Zeitungsschreibens und discourierens am markt zu enthalten, weil es an leuten nicht mangelt, die solche reden aufklauben; gleichmässige Warnung soll man auch den Zeitungsschreibern tun und sein die herren, so über diese frag am Stadtgericht sitzen, ersucht worden, die assessores und schöpfen am Stadtgericht deswegen auch zu warnen." (zit. nach Böning)

Mitte des 17. Jahrhunderts werden weltpolitische Ereignisse von größter Tragweite - die Englische Revolution ist ein Beispiel – intensiv diskutiert. Auf dem Reichstag von 1653/54 haben die deutschen Fürsten verabredet, wohlwollende Darstellungen der englischen Ereignisse zu verhindern. Dies sei nötig, so heißt es in einem Votum, weil „solche Scripta divulgirt vnd in des gemeinen Manns vnd davon händ gebracht, so sich zu demagogis gebrauchen lass'". Es sei „höchste gefahr", dass „die Sache nicht auffeine vitiosam Democratiam oder gar Anarchiam hinaußlauffe". (zit. nach Böning)

Zeitungsberichterstattung spannte einen gedanklichen Horizont auf, an dem das Politische im modernen, aufgeklärten Sinne erschien – auch wenn sie lange keine Bühne für kritische Debatten waren. Auch die Machthaber ihrerseits nutzten Schriften, um parallel zu diplomatische Bemühungen und Geheimverhandlungen ihre territorialen und juristischpolitischen Ansprüche öffentlich zu untermauern. Zeitungen wurden als Orientierungs-Medien auch an den Höfen und in den Regierungen unentbehrlich.

Die neue Beobachtbarkeit des Politischen stand so am Anfang eines Mentalitätswandels. Zur Erklärung von Staats- und Kriegshandeln werden neue Interpretationsmuster angeboten, die ein Jahrhundert früher schon der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469 -1527) aufgeschrieben hatte. Die Welt erschließt sich über die mediale Berichterstattung als geographischer Raum. Spektakuläre Reisen wie die des Christoph Kolumbus 1492 trugen sicherlich auch dazu bei - sie wurden authentisch in Reiseberichten dokumentiert und verbreitet. 

Das neue Interesse am politischen Zeitgeschehen führte zu ersten Publikationen, in denen die politischen Ereignisse im Zusammenhang dargestellt und kommentiert wurden. Mit dem Nürnberger „Verkleideten Götter-Both Mercurius" erschien 1674 die erste politische Zeitschrift. Im 17. Jahrhundert gingen Zeitungschriften dazu über, nicht nur Fakten im diplomatischen Jargon zu kolportieren, sondern allgemeinverständlich zu erklären. Das weist auf die Ausweitung des Publikums hin. Sprachstandardisierung und die Entwicklung der deutschen Volkssprache war durch diese Kommunikation nicht nur gefordert, sondern auch gefördert. Wer in einem städtischen Zentrum wie Hamburg regelmäßig Zeitungen las, war schon während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in allen Einzelheiten über den Fortgang der politischen und militärischen Ereignisse des 30-jährigen Krieges (1618-1648) informiert. Die überwiegende Mehrzahl der Meldungen bezog sich darauf. Die Bedeutung des neuen Mediums lag aber nicht in den jeweils konkreten Inhalten. Sensationell war vielmehr, dass es überhaupt eine dichte öffentliche Beobachtung der politischen Ereignisse gab – und die kriegerischen Ereignisse waren leichter beobachtbar als die Hintergedanken der politischen Akteure. Am Ende des 17. Jahrhunderts zählte jeder fünfte Hamburger zu den regelmäßigen Zeitungslesern. Ausgehend von den städtischen Informations-Knotenpunkten verbreitete sich die neue Ordnung des Wissens über die Welt des Politischen.

Insbesondere im zentralistischen Frankreich hatten noch im Vorfeld der französischen Revolution die Flugschriften und illegalen Raubdrucke eine größere Bedeutung für die entstehende revolutionäre Stimmung als die von der Zensur erlaubten periodischen Druckerzeugnisse. Seit den 1770-er Jahren wurde die Frivolität, Sittenlosigkeit und Korruptheit des Adels und der Königsfamilie in einer Unzahl von „Cahiers Scandaleuses“ und Flugschriften angeprangert. (analysiert von den Historikern Arlette Farge, Robert Dranton)

Die erste Phase der Französischen Revolution 1788-1793 selbst wird vielfach als Durchbruch der politischen Presse interpretiert. Es waren aber vor allem die politischen Akteure, die ihre Zeitungen als Propaganda-Instrumente gründeten. Sowie sich ein Machthaber durchsetzen konnte, war es mit der Zeitungsvielfalt für die anderen auch wieder vorbei.

Heimat der Pressefreiheit ist England. Dort wurde die Pressefreiheit erstmals 1689 nach der „Glorious Revolution“ mit der „Bill of Rights“ verkündet – als „freedom of speech and debates“. Die regierungsamtliche Vorzensur wurde abgeschafft. Hundert Jahre später wurde über Pressefreiheit in den Vereinigten Staaten von Amerika heftig und erfolgreich gestritten – unter aufmerksamer Beobachtung aus Frankreich.

Die Mehrzahl der Menschen der Neuzeit waren Bauern und lebten auf dem Lande, sie begriffen die Welt traditioneller Weise in Bildern der Natur, des Werdens und Vergehens. Die Angst vor Hunger, Krankheiten und Naturkatastrophen wie Blitz, Donner, Gewitter und Erdbeben prägte ihre Religiosität. Mythen waren auf dem Lande bis in die Neuzeit selbstverständliche Denkgewohnheiten, die einen Rahmen abgaben, in dem die Widrigkeiten des Lebens verarbeitet und als sinnvoll dargestellt werden konnten. Teufels-  und Hexenglaube halfen dabei. Dass es reiche Herrschaften gab und andere, die für sie hart arbeiten mussten, war für die Bauern nur natürlich.

Die „Volksaufklärer“ des 18. Jahrhunderts hatten es sich zum Ziel gesetzt, dieses überkommene bäuerliche Weltbild zu zerstören und zu ersetzen durch das Wissen der städtischen Eliten. So formulierte der Pfarrer F. W. Otte im Jahre 1796: „Soll denn der Bauer immerfort auf seine mühvolle und harte Arbeit eingeschränkt bleiben, damit wir allein das Vorrecht behalten, über die wichtigsten Angelegenheiten des Lebens unsre Begriffe zu erweitern und zu berichtigen? Soll denn der Bauer, und der große Volkshaufen überhaupt, beständig in der Dummheit erhalten werden, damit er immer geduldig still halte, wenn wir ihm Zaum und Gebiß anlegen wollen, um ihn nach Herzens Lust zu reiten?" Ihn erinnert diese „unglükliche Duldsamkeit“ des Landvolkes an Zustände einer „asiatischen Despotie“.  Die Schrift-Medien, die zur Volksaufklärung der Landbevölkerung produziert wurden, nutzten Elemente der oralen Öffentlichkeit (Lieder, Klagen, Predigten) und Bilder (oft Karikaturen) zur Verdeutlichung ihrer Anliegen. Tradierte Deutungsmuster wie Schicksal, Zufall oder Unglück, göttliche Strafen, göttliche Fügung sollten eine durch aufgeklärte gedankliche Bezugspunkte für die Katastrophen- oder Risikokommunikation ersetzt werden.

Fortsetzung:

 Das 19. Jahrhundert - Neuordnung des Hintergrundwissens
durch Volksaufklärung und Massenpresse

Das 20. Jahrhundert - Politik und Medien in der Fernsehgesellschaft

Das 21. Jahrhundert - Politik in der digitalen Gesellschaft

Die Idee einer ”liquid democracy” als Erbe repräsentativer Demokratie