Mediale Fiktionen sind Bausteine der menschlichen Kultur
Der Ort, an dem akustische und visuelle Realitäten für wahr genommen werden, sei es der alten oder der neuen elektrischen Art , ist das Gehirn.
2-2016
Rene Magritte Der Verrat der Bilder (1928/9)
Menschen haben Theater immer schon geliebt. Mit ihren kultischen Tänzen konnten die Schamanen archaischer Kulturen, diese personifizierten Mittler zwischen dem Realen und dem Heiligen, auf die virtuelle Realität der Geister Einfluss ausüben. Menschen haben immer Phantasiegeschichten erzählt und gern geglaubt – von wundersamen Kräften, von besonderen Menschen und von Göttern. Geschichten über Maria, von der die Autoren der biblischen Schriften noch kaum etwas zu berichten wussten, füllten dann im Mittelalter kleine Bibliotheken. Die Menschen liebten ihr Bild der Maria, wie sie Innana, Aphrodite, Isis und Artemis geliebt hatten. Die Jungfrauengeburt ist nicht nur in archaischen Kulturen wie dem Zoroastrismus, sondern auch für moderne Christen „Realität” wie der Weihnachtsmann (seit dem 19. Jahrhundert) - und wenn jemand kommt, der Zweifel sät, dann reagiert schon der kleine Mensch verärgert. Erwachsene lieben es, Kinder bei dem Glauben an den Weihnachtsmann zu beobachten.
Heute sind die Phantasiegeschichten früherer Epochen in Romane und elektronische „Medien” ausgelagert. Durch die computergenerierten Bilder wird das menschliche Gehirn optisch getäuscht wie es einst durch wortgewaltige Predigten verführt wurde. Dabei hat das Eintauchen in Phantasiewelten immer physische Anreger gebraucht: Weihrauch-Düfte, Klänge, Bilder, auch Massen-Suggestionen. In der Geschichte war das Virtuelle vor allem das Heilige. Fern-sprechen und Fern-sehen kannte man vor den neuen elektrischen Technologien, die sie zu Routinen des Alltags gemacht haben - es waren Praktiken im Kontext der religiösen Rituale. Das Gefühl der „Fernanwesenheit“ (Manfred Faßler), das heute über das Handy vermittelt wird, kannte man klassisch als Realpräsenz und Wirkung eines Geistes oder eines Gottes im alltäglichen Leben. Unverfügbares wie die Naturgewalten oder auch das Jagd-Glück, die Zeit, Liebe oder die Frage nach dem Tod wurden in eine Erzählung der Transzendenz eingesponnen und damit wenigstens gedanklich verfügbar gemacht. Die als transzendent gedachten Mächte wurden für wahr genommen als personalisierte Machthaber, mit denen man handeln kann, die man beschwören und durch Gaben wohlgesonnen machen kann. Das unverfügbare Transzendente wurde symbolisiert in Worten und Statuen, in Bildnissen und in Schriftworten, die den Status von Bildnissen erlangten. In monotheistischen Religionen wie dem Jahwe-Allein-Kult oder dem Islam trat die Heilige Schrift an die Stelle der traditionell mitgetragenen Götter-Statuen.
Wir bezahlen heute sieben Euro, um im Kino durch ferne Galaxien zu rasen, blutige Schlachten und große Helden zu erleben und um das das Wechselspiel von Glück und Unglück einer Liebesgeschichte zu sehen und darüber weinen zu können. Warum?
Das mentale Spiel mit Fiktionen macht offenbar Spaß
Bereits kleine Kinder benutzen in ihrem Spiel Gegenstände nicht nur als das, „was sie sind“. Eine Banane wird zum Telefon. Das Spiel mit Fiktionen kennen alle Kulturen. Menschen wissen meist, dass sie mit Fiktionen spielen, tun aber so, als sähen sie keinen Unterschied zwischen phantastischen Fiktionen und solchen Konstruktionen des Wirklichkeitsbewusstseins, mit denen unser Gehirn ein Abbild der materiellen Realität erzeugen will.
Die Verarbeitung der Sinneseindrücke von medialen Fiktion wie denen der materiellen Realität findet im Gehirn statt. Im visuellen Kortex kommen die Signale der Sinneseindrücke zusammen, die von den medialen Fiktionen wie die von der materiellen Umwelt, und mischen sich mit den Erinnerungen, Vorstellungen und Traum-Bildern. Beim Aufrufen von Vorstellungsbildern aus der Erinnerung werden die gleichen Hirnareale stimuliert wie beim Sehen oder Hören. Beim Sehen werden nur zusätzlich noch Bereiche aktiv, die die Tätigkeit der Netzhaut koordinieren. Innere Vorstellungsbilder können auch durch akustische oder schrift-sprachliche Symbole (Artefakte, Attrappen) ausgelöst werden. Das Limbische System ist für die emotionale Deutung einer Geschichte zuständig. In ihm werden Eindrücke bewertet.
„Was man glaubt, wahrzunehmen, ist nicht immer wirklich. Sinnestäuschungen, Halluzinationen oder intensive Vorstellungen sind nicht in allen Fällen von akustischen und visuellen Sinneseindrücken zu unterscheiden. Träume können als erschreckend real empfunden werden. Schizophrene kennen keinen Unterschied zwischen von außen aufgenommenen und intern produzierten Bildern und Tönen. Dabei kennen die meisten Menschen in aller Regel den Unterschied zwischen Realität und Gedachtem.
Für das Gehirn ist die Unterscheidung ganz und gar nicht trivial“, denn „der Verarbeitungsprozess von Wahrgenommenem wird in der Imagination wiederholt.“ (Clemens Schwender) Das limbische System reagiert auf bestimmte optische und akustische Auslöser schnell und unmittelbar – ohne andere Kontrollabteilungen einzuschalten. Das nennt man emotionale Reflexe. Wenn ein Löwe brüllt, tritt Adrenalin aus, der Körper bereitet sich auf Flucht vor – bevor der Neokortex, der für die Wahrnehmung der Außenwelt zuständig ist, die Chance hat, die Information hinzuzufügen, dass man eben sieben Euro Eintritt bezahlt hat.
„Visuelle und auditive Reize lösen Emotionen aus. Menschen sind betroffen und sie sind gerührt, sie lachen und weinen über fiktionale Personen und Ereignisse. Ceci n'est pas une pipe, müsste man den Medien entgegenhalten.” (Schwender) Und obwohl das Wirklichkeitsbewusstsein den Unterschied zwischen realem Erleben und medial vermittelter Wahrnehmung kennt, reagieren Betrachter unmittelbar emotional und akzeptieren fiktive Vorstellungen wie singende Mäuse oder fluchende Enten. Medien sind keine Fenster zur Welt, sondern ergänzen das Wirklichkeitsbewusstsein mit ihren jeweiligen technischen Möglichkeiten. Schon das Theater simulierte etwas, was materiell nicht da ist. Telefon und Brief simulieren Nähe auf ihre Weise. Die Handschrift erzeugt ein Gefühl von Nähe, wenn der Leser Phantasie aufzubringen bereit ist, vor allem also die Handschrift des Liebesbriefes. Die technisch reproduzierte Stimme am Ohr ersetzt die Phantasie, die der Leser noch aufbringen musste, durch akustische Simulation. Das Wirklichkeits-Bewusstsein arbeitet in jedem Fall mit unvollständigen und mehrdeutigen Informationen und formt daraus ein vollständiges Bild der Wahrnehmung.
Evolutionäre Ursprünge der kulturellen Zwischenwelt
Der Mensch nutzt einen „psychischen Apparat, der vor 10.000 und mehr Jahren als Anpassung an damalige Umwelten entstanden ist“. Die Werkzeuge dieser Anpassung liegen im Bereich der Kultur, die Karl Eibl daher als „Zwischenwelt“ bezeichnet. Zwischen die leiblich-physische Welt und ihre Wahrnehmung schiebt sich eine kulturelle Zwischenwelt. Die Fähigkeit des Abbildens ermöglicht es dem menschlichen Gehirn, Vorstellungs-Bilder als relativ autonome Fiktionen zum Gegenstand der Kommunikation zu machen. Der Mensch erfindet böse Geister zur Erklärung von Naturgewalten und stellt sie als heilige Statuen vor sich auf. Er hüpft auf einem Bein, wenn er meint, dass die Geister das gern sehen. Und wenn er andere sieht, die auf einem Bein hüpfen, kann er ihr Verhalten verstehen und entscheiden, ob er daran glaubt oder nicht. „Es scheint eine Spezialität des Menschen zu sein, dass er ... auch Nichtanwesendes in den Dingstatus setzen kann: Vergangenes, Zukünftiges, Abstraktionen, sogar pure Erfindungen. Das ist eine immense Ausweitung der kognitiven Domäne, denn es ermöglicht die Konstruktion wechselnder, doch jeweils relativ stabiler, vom Augenblickskontext unabhängiger Zwischenwelten.“ (Eibl)
Medien-Fiktion aus der Steinzeit:
Der „Löwenmensch“ vom Hohlenstein-Stadel im Lonetal ist eine altsteinzeitliche Skulptur aus Mammut-Elfenbein, die einen aufrecht gehenden menschlichen Körper mit dem Kopf und den Gliedmaßen eines Höhlenlöwen darstellt. Die 31,1 Zentimeter große, etwa 35 000 Jahre alte Skulptur gehört zu den ältesten Kleinkunstwerken der Menschheit – und ist ein Dokument der Phantasie des homo sapiens: Der Künstler hatte eine Vorstellung von einem Wesen, das es nicht gibt. Vermutlich wurde sie als Gottheit imaginiert.
Die bösen Geister aus alten Erzählungen wie die neuen auf der Leinwand helfen, Emotionen der Bedrohung aufzurufen und zu verarbeiten. Der Medienpsychologe Clemens Schwender beschreibt diese Wirkung der Medien als „Attrappen“-Wirkung. Die Emotionen der Zuschauer auch im Kino sind aber keine Phantome, sondern real körperliche Emotionen. „Wenn auf der Leinwand der Löwe aus dem Busch bricht, dann erschrecken wir ‚wirklich’, und wenn auf Bildschirm oder Leinwand ein Kind durch böse Drogenhändler gefährdet wird, dann geraten wir ‚wirklich’ in Sorge um das arme Wesen. Nichtwirklich sind nur der Löwe und das Kind, aber nicht unsere Gefühle.“ Sie werden durch die Attrappen ausgelöst – „wie die Raubvogel-Attrappe Schrecken bei den Hühnern auslöst.“ Aber wir laufen nicht vor dem Löwen im Kino weg, wir kommen einem Kind nicht zu Hilfe. In einem zweiten, komplizierten Schritt analysiert unser aufgeklärtes Gehirn offenbar, ob es sich um medial vermittelte optische oder akustische Zeichen handelt, um innere Traum-, Erinnerungs- oder Vorstellungs-Bilder oder um bedrohliche Signale der äußeren Umwelt. Der Mensch kontrolliert seine eigene spontane Emotion wie ein Lügendetektor und schlussfolgert: „Das ist ja nur eine Attrappe. Wir werden dann zwar den angenehmen Schauder des Horrorsfilmes genießen oder uns von einem Liebesfilm zu Tränen rühren lassen, aber ansonsten allenfalls unsere Erdnüsse etwa gieriger essen.“ (Eibl) Zur mentalen Zwischenwelt, die der Mensch entwickelt hat, gehört die Fähigkeit des Entkoppelns. „Im Tierreich wirken Informationen im Regelfall unmittelbar als Auslöser bestimmter Handlungen. Beim Menschen macht die geschilderte Art der Informationsverwaltung einen Zwischenschritt nötig, der eine Bewertung der Information und ihres Zusammenhangs mit Handlungsoptionen ermöglicht. Dieser Zwischenschritt ist von entscheidender Bedeutung für den menschlichen Emotionshaushalt.“ (Eibl)
Auch medial vermittelte optische oder akustische Zeichen sind Signale der äußeren Realität - die Unterscheidung von gegenständlichen Elementen der äußeren Realität und von symbolischen, medialen ist deutlich schwieriger. Dieser Test kann schief gehen - Menschen können zum Beispiel ihre eigene Hand mit einer künstlichen verwechseln, wenn man sie nur ein bisschen täuscht. Der Fähigkeit zu medialen Metainformation verdankt der homo sapiens seinen Aufstieg zum „Erfolgsmodell der Evolution“. Nur der Mensch kann Abbilder und auch Realitäts-Bilder unterscheiden und hat gelernt, „Überzeugungen anderer rekonstruieren und ihr Handeln dadurch (zu) verstehen“.
Was ist das Spezifische der menschlichen Kultur? Vor allem in der „Sprache als Medium von Vergegenständlichungen“, sagt Eibl: „Die Sprache – in einem weiten Sinn – schafft Zwischenwelten (der Plural ist wichtig), die unser Erleben und Handeln mitprägen.“ Sprache ist „Möglichkeitsbedingung von Sinnbildung“. Beim Menschen geht es um mehr als die körperliche Ertüchtigung: „Der ganze kognitiv-emotionale Apparat muss erst ontogenetisch fertiggestellt werden (Musterbeispiel: Erlernen der Muttersprache), um funktionstüchtig zu sein, und allem Anschein nach muss er speziell im Falle des Menschen noch im höheren Alter mit fortwährenden Justierungs- und Instandhaltungsarbeiten in Schuss gehalten werden, mit Spielen unter altersentsprechend geringer Körperbeteiligung wie Skat oder Fernsehen oder Sinfoniekonzerten. Diese Aktivitäten werden nicht durch äußere Erfolge, sondern intrinsisch belohnt durch ‚ästhetischen’ Genuss.“ (Eibl)
Pleistozäne Grundausstattung, moderne Medien
Der Literaturwissenschaftler Eibl ist davon überzeugt: „Die kulturelle Evolution kann sich gar nicht von den biologischen Voraussetzungen ablösen.“ Die Geschichte der Anpassung an neue zivilisatorische Apparate und mediale Innovationen ist aber eine mühsame, eine qualvolle, die Konflikte kennt und Zeit braucht. Bei jedem Entwicklungsschritt gibt es Reibungs- und Unsicherheits-Phasen. Eibl erklärt damit die Wirkung von Goethes Werther: „Bis in die 70er Jahre des 18. Jahrhunderts waren sympathische Romanfiguren zugleich als Vorbilder konzipiert. Als dann in Goethes Werther eine sympathische Figur Selbstmord beging, wurde der Roman von vielen Zeitgenossen als Empfehlung der Selbstmords aufgefasst und verurteilt, mit einer Folgediskussion, die bis in die Gegenwart reicht.“
Fiktionale oder scherzhafte Texte werden verwendet, um reale Informationen weiterzugeben – das Verstehen solcher Informationen muss gelernt werden wie das Verstehen von Witzen. Nicht angepasste (entsprechend kultivierte) Menschen stehen immer in der Gefahr, dass ihnen die Unterscheidung von ‚Realität’ und ‚Fiktion’, nicht gelingt oder aus dem Ruder läuft. „Schon auf dem Bolzplatz kann aus der spielerischen Konkurrenz zweier Mannschaften schnell eine ernsthafte Prügelei entstehen, und auch von Stammeskulturen, die keinerlei Berührung mit modernen Medien haben, wird das Ausarten von Wettspielen in blutige Auseinandersetzungen berichtet.“ (Eibl)
Menschen reagieren nicht (nur) trieb- oder reflexgesteuert. Das ist die evolutionäre Grundlage der Freiheit. Zwischen Aufnahme der Reize (Informationen) und Reaktion tritt ein kognitiver und / oder emotionaler Verarbeitungsprozess. Emotionen sind Muster von Reiz-Verarbeitung und erleichtern die Entscheidung, wie Reize zu bewerten sind und wie zu reagieren wäre. Die Verarbeitung der Reize ist aufwändig, die Freiheit macht Angst und birgt das Risiko, falsch zu reagieren. Während im Tierreich das Spiel ein typisches verhalten von Jungtieren ist, die Verhaltensmuster erlernen müssen, ist bei Menschen die Beschäftigung mit fiktiven Situationen (Theater) ein lebenslanges Lern-Spiel.
Die Fähigkeit zur Imagination verbesserte schon die Überlebenschancen unserer Vorfahren in der Jäger- und-Sammler-Vorzeit. Menschen können alle Abenteuer der Welt virtuell erleben und emotional erfahren, ohne dafür die Strapazen und Risiken aufnehmen zu müssen, die normalerweise damit einhergehen. Die Beschäftigung mit audio-visuellen Medien-Artefakten ist meist gefahrloser und definitiv mit weniger Aufwand verbunden. Das mentale System belohnt diese Beschäftigung mit positiven Gefühlen, die dann immer wieder gerne gesucht werden.
Emotionen haben evolutionären Sinn. Freude erlebt man bei Dingen, die die Fitness erhöhen. Zucker hat einen angenehmen Geschmack, weil er den Körper mit notwendigen Kohlehydraten versorgt und den Serotonin-Haushalt beeinflusst. Menschen haben auch Spaß am Erkennen von kausalen Zusammenhängen, die wiederum beim Lösen von Problemen helfen. So fiktional die fiktive Geschichte oder das Setting auch sein mögen, es geht doch immer um Figuren mit geläufigen Emotionen.
Zur Beschreibung von Emotionen werden narrative Muster benutzt. Moralische Sätze gelten generell - in der fiktionalen Welt wie in der echten. Ohne Emotionen gibt es keine Wertmaßstäbe. Die erzählten Geschichten stellen Interpretation zur Verfügung, mit denen Umstände, Handlungsmotive und Rahmenbedingungen bewertet werden können. (Framing)
Heilige Schrift-Phantasien
Das menschliche Bedürfnis nach höllischen Phantasiegeschichten und „virtueller Realität“ ist älter als die schriftliche Fixierung solcher Geschichten. Mit Blitz und Donner und einer dicken Wolke kündigt der Gott des Alten Testamentes sein Gesetzgebungswerk an. „Der ganze Berg Sinai aber rauchte, weil Jahwe auf den Berg herabfuhr mit Feuer; und sein Rauch ging auf wie ein Rauch vom Ofen, dass der ganze Berg sehr bebte“ und das Volk in Todesangst versetzte. Das klingt wie die Beschreibung des Bühnenbildes für ein Star-wars-Theater oder das Drehbuch zu einem Fantasy-Film. Das Bild wurde vor mehr als 2000 Jahren den Menschen stimmgewaltig vorgetragen von den Priestern. Sie wollten den Zuhörern die Macht Gottes vor Augen führen. Wer über die transzendente Erzählung verfügt, verfügt über Macht.
Diese erzählte Geschichte ist nicht verhallt, sondern hat eine Tradition des immer und immer wieder Erzählens begründet mit machtvollen Institutionen und kulturprägender Wirkung über Jahrtausende – in Schrift niedergelegt ist sie ikonisiert, Heilige Schrift. Schrift war in anderer Weise als heute ein Instrument der Macht der Schrift-Gelehrten. Was aufgeschrieben war, flößte den normalen, also schriftunkundigen Menschen Respekt ein. Die Gebote, deren Übertretung als „Sünde“ definiert ist, sind dem oralen israelitischen Volk als Schrifttafeln von Gott selbst herabgereicht worden. Nach dem Koran verblieb die biblische Urschrift im Besitz Gottes, sie wurde dem Propheten, dem die Offenbarung zuteil wurde, verlesen.
Das Jüngstes Gericht, gemalt in der Sankt Cäcilia-Kathedrale im südfranzösischen Albi um 1500: Zug der Verdammten (Ausschnitt)
Bildnisse und Statuen mussten, damit sie ihre machtvolle Wirkung entfalten konnten, erklärt werden. Im späten Mittelalter war es üblich geworden, Schrift mit ihrer erklärenden Funktion direkt ins Bild auszustellen. Die um 1500 entstandenen Gemälde des Jüngstens Gerichts in der Sankt Cäcilia-Kathedrale im südfranzösischen Albi sind dafür ein Beispiel. Die Nacktheit der Figuren ist eine Metapher für ihre Wehrlosigkeit, die Bücher, die an der Brust zu kleben scheinen, sind die Bücher des Lebens, Verzeichnisse der Sünden.
Auch der Teufel hat übrigens ein solches Buch der Sünden, wie wir von dem Kirchenvater Augustinus wissen. Offenbar gab es selbst in oralen Kulturen eine Ahnung, dass Wahrheiten, die ewig gelten sollen, schriftlich fixiert werden müssen. Gerichtsverhandlungen wurden schon früh protokolliert. Auch das Jüngste Gericht scheint ohne Schriftkultur nicht auszukommen – das Gedächtnis reicht nicht für die Dokumentation der Sünden, sie müssen verzeichnet werden. Die Verbindung des Irdischen zum Virtuellen stellten sich die Menschen zuweilen recht handfest vor. Für die Verbindung von Himmel und Erde gibt es schon in der alten jüdischen Phantasie die „Himmelsleiter“, sie entstammt der ägyptischen Mythologie und ist in den Stufenpyramiden symbolisiert. Auch nach der islamischen Tradition führt der Engel Gabriel den Propheten über eine Himmelsleiter hoch hinauf. Die aufregende Idee bewegte die Phantasie über Jahrhunderte. Hieronymus Bosch hat solche Phantasien gemalt – etwa das Tafelbild „Aufstieg ins Paradies“ (siehe Titelbild, um das Jahr 1500): In dem dunklen Nachthimmel öffnet sich ein kreisrunder Lichtkegel, mit perspektivischer Tiefenwirkung ausgestaltet. Das Licht am Ende des virtuellen Tunnelrohres ist das Paradies. Von seiner Helligkeit geblendete, nackte Menschenseelen werden von Flügelwesen zu diesem Licht geflogen. Die Literatur der Neuzeit ist voller fiktiver Himmels-Erkundigungen. Der Traum vom Fliegen ist seit der Sage, die Ovid aufgeschrieben hat, legendär. Profane Heimatliebe trieb Ikarus in die Lüfte. Leonardo da Vinci versuchte den Traum aus dem Reich der Phantasien in pragmatischen Konstruktions-Zeichnungen zu bannen. Die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne erschien 1864, als Buch. Die imaginären Reisen, auf die heute die Filme der „Star Wars“-Tradition verführen, erscheinen uns neu und aufregend – aber genauso neu und aufregend erschienen den jeweiligen Zeitgenossen ihre „Reise“-Berichte.
Was bedeutet das für die Rolle der Medien?
Die kulturelle Zwischenwelt ist heute stark von den elektronischen Medien bestimmt. Im Prinzip lösen Filme die „Geschichtenerzähler“ oraler Gesellschaften oder die Romane früherer Epochen ab. Die bewegten Bilder wirken aber intensiver, sie bedürfen keiner mentalen Übersetzung, sind „implizites Anschauungswissen“. Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen Text und Film: Der Satz „Sein Büro sah aus wie ein Saustall“ verlangt vom Leser die Decodierung der Schriftzeichen und eine Leistung seiner visuellen Phantasie. Die Sequenz des Spielfilms, die einen unaufgeräumtes Zimmer zeigt, erfordert eine andere Form der Phantasie: Der Zuschauer muss das ästhetisch-moralische Urteil selbst finden, das so im reinen Bild nicht zwingend angelegt ist. Die Interpretation „Saustall“ ist im Werte-Kanon des Zuschauers abgespeichert.
Wie unterscheidet das Gehirn, ob ankommende Reize von sekundären Medien kommen oder „direkt“ aus der äußeren Realität? Ton vom Menschen, Ton vom Tonband – macht das einen Unterschied? In der Konstruktion des Wirklichkeitsbewusstseins erst einmal nicht. Gähnen ist nicht nur bei Menschen ansteckend, sondern auch bei Schimpansen, und dieser Effekt tritt auch auf, wenn einem isolierten Schimpansen-Individuum Videosequenzen von gähnenden Tieren vorgeführt werden. Niemand sieht, wenn er im Kino sitzt, was wirklich an der Wand ist: ein großes, weißes, flaches Objekt (die Leinwand), das an verschiedenen Stellen mit flackerndem Licht von verschiedener Farbe beleuchtet wird. Kinobesucher sehen Objekte, Landschaften, Menschen – eben Magrittes „Pfeifen“. Kinobesucher sind zudem Gesichts-Gucker – Gesichter ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Die intensive Betrachtung und Analyse der Gesichter lernt das Kleinkind in den ersten Wochen, der Erwachsene überträgt diese Fähigkeiten auf die Interpretation von Medien-Darstellungen - unbewusst. Dennoch gibt es einen Unterschied. Wenn im Kino ein Löwe auf der Leinwand erscheint und brüllt, läuft (fast) allen ein Schauer über den Rücken, aber kaum jemand springt auf und rennt raus. Offenbar gibt es, nach der Verarbeitung der Sinnes-Signale und den ersten spontanen Reaktionen, eine Interpretation auf Handlungsrelevanz und Kontext, die sagt: Du hast eben zehn Euro bezahlt, es ist Kino. Wer das erste Mal einen Löwen auf einer Großbild-Leinwand sieht, wird überwältigt von der optischen Illusion. Um die Wende zum 20. Jahrhundert erzählte man gern, dass Variete-Besucher vor der einfahrenden Lokomotive in dem Streifen der Brüder Lumière richtig Angst hatten. Die – vermutlich erfundene - Geschichte demonstrierte zumindest, dass man eine angemessene Verarbeitung dieser medialen Fiktion gelernt hatte.
Ein Kleinkind lernt von multimedialen Maschinen, die zu ihm sprechen, wenig. Es braucht die emotional mobilisierende Wirkung einer liebevollen und vertrauenswürdigen Person, damit sein Gehirn nachhaltig aktiv wird. Auch Erwachsene reagieren nicht mit „Mitleid“, wenn ein Roboterkopf in einem Action-Film brutal zerquetscht wird, sondern eher mit Lachen. Sensorischen Eindrücke werden für das Bewusstsein aufbereitet. Im Kino stellt der Unterschied zwischen Fiktion und Realität für die Konstruktion des Wirklichkeits-Bewusstseins im menschlichen Gehirn meist kein Problem dar. Menschen können mit Fiktionen im Sinne von „emotionalem Probehandeln” spielen. Sie können die Fähigkeit erlernen, über Filme, Romane oder Computerspiele in fiktive Welten einzutauchen und dennoch dabei den Bezug zur Realität nicht zu verlieren. Menschen benutzen ihre Gehirngespinste aber auch unbewusst, um Eindrücke der Realität zu sortieren. Die Vorstellung, dass es ein „ewiges Leben“ wirklich gibt, kann nur dann helfen, um ohne vor dem Tod zu leben, wenn sie nicht als Gehirngespinst bewusst ist.
Es gehört zur kulturellen Entwicklung, dass der Umgang mit neuen Fiktions-Ebenen und neuen Medien „gelernt“ werden muss. Wiederholte Auseinandersetzung hilft den Sinn für die Grenze von Attrappe und Realität zu schärfen. Immer schon haben sich Menschen mit der Wirkkraft von Bildern auseinandergesetzt. Bilder wurden verehrt oder verboten wegen der ihnen innewohnenden Kräfte. Als „Beweis“ für die Realität eines Sinneneindruckes galt die Kombination von Hören und Sehen. Fundamental neu ist im Zeitalter elektronischer Medien die kulturelle Erfahrung von beweglichen audio-visuellen Attrappen. Diese elektrischen Attrappen führen in eindrücklicher Weise Wirklichkeitsbilder vor, die aus unendlich entfernten Gegenden der Welt stammen können und daher in keiner Weise handlungsrelevant sein müssen.
Der Unterschied zwischen Information und Unterhaltung ist ein kulturelles Konstrukt. „Dieser Widerspruch, der seit der Aufklärung als Grundlage von Zivilisation und Kultur gilt, lässt sich evolutionspsychologisch nicht aufrecht halten.“ (Schwender) Die Bildnachrichten von einem Mord in Singapur erregen auf dieselbe Weise wie ein Mord im Krimi. Liebe und Leid auf der Leinwand lassen uns nicht kalt. Wenn Menschen eine Information über einen Sturm sehen (oder hören), stellen sie sich unwillkürlich sich selbst in einer solchen Situation vor. Das ist der Sinn derartiger Nachrichten. Menschen können aus den Erfahrungen anderer lernen. Die emotionalen Botschaften bleiben daher aus gutem Grund sehr viel stärker in der Erinnerung haften als die so genannten harten Fakten der materiellen Realität.
Medienwissen und Erfahrungen werden zu einem jeweils eigenen Handlungswissen gemischt, zu dem Nachrichten genauso beitragen wie Klatsch und Tratsch. Die Attraktivität von noch so trivialem „Reality-TV“ deutet darauf hin, dass es einen „Reality-Kick“ gibt, also ein „besonderes Erleben am Wissen, dass die dargestellten Personen mit den Namen angesprochen werden, die auch auf ihren Ausweispapieren stehen.“ (Schwender) Immer größer müssen die Bildschirme werden, damit Menschen und Szenen die visuelle Illusion der Realpräsenz unterstützen. Das zeigt das Bedürfnis, die medialen Fiktionen auf das wirkliche Leben zu beziehen. Klatsch und Unterhaltung in Zeitungen hat immer schon den Vorteil dieses „Reality-Kicks”. Jedes Individuum entscheidet darüber, welche Quellen ihm glaubwürdig erscheinen – als Mitglied von Gruppen, deren Normen und Werten es sich nicht entziehen kann. Medien können größere Deutungs-Gemeinschaften stiften als schlichte „Anwesenheitskommunikation“ es vermag. Aber es scheint dabei ein Bedürfnis nach leiblicher Bodenhaftung zu geben: In einer „Community“ werden Menschen („Freunde“) gesammelt, die die gleichen virtuellen Vorlieben teilen und sich gern in denselben virtuellen Welten bewegen.
Gedruckte Literatur, ausgestrahlte Radio- und TV-Programme und Filmvorführen sind das „Kraulen“ von Millionen. Gemeinschaft bildet sich als Anwesenheits-Gemeinschaft durch räumliche Nähe und Verbundenheit. Sie kann gestiftet werden durch Herrscher-Figuren oder eine Religion. Schon zu Beginn der Neuzeit wurde Gemeinschaft als Sprachgemeinschaft gestiftet, immer bedeutender werden heute die medial geformten Gemeinschaften. Die mediale Gemeinschaft ersetzt das „Dorf”. Sie erfüllt mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Behausung, Sicherheit. Ich erfahre, welches Verhalten in einer bestimmten sozialen Situation „normal” oder angemessen ist, und wenn ich vor der Sportschau sitze, weiß ich mich in der Gemeinschaft tausender von Fans. Das Prinzip der Personalisierung medialer Unterhaltung ermöglicht parasoziale, emotionale Nähe. Der Ort, an dem die Worte und Bilder als Kommunikations-Macht wirken, ist der Kopf. Der Ort, an dem visuelle Realitäten der alten und der neuen elektrischen Art wahr-genommen werden, ist das Gehirn. Virtuelle Welten sind Phantasiewelten, die aus dem Realen aufsteigen.
siehe auch u.a. die Texte:
Gehirngespinste - wie das Gehirn Wirklichkeitsbewusstsein konstruiert M-G-Link Neue Bilder in der neuen Medienkultur M-G-Link Der Siegeszug der neuen Medien gegenüber der Schrift ist nicht überraschend - M-G-Link Wolf Singer: Vom Gehirn zum Bewusstsein (Auszüge) Link Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung M-G-Link
Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte:
Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze M-G-Link Über die Realität der medialen Fiktion M-G-Link
Das Gehirn spinnt Sinn - Gehirngespinste M-G-Link Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares M-G-Link Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung M-G-Link Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden M-G-Link Bild gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder M-G-Link
Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes M-G-Link Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur M-G-Link
Bewegende Bilder – Geschichte des Films im 19. Jahrhundert M-G-Link Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie M-G-Link Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource M-G-Link
Literaturhinweise
Schwender, Clemens: Medien und Emotionen. Evolutionspsychologische Bausteine einer Medientheorie (2006) Eibl, Karl: Kultur als Zwischenwelt: Eine evolutionsbiologische Perspektive (2009) Eibl, Karl: Zwischenwelten. Zur Evolutionspsychologie der Medien. Zeitschrift für Medienpsychologie 19 (2007)
Über die Bedeutung von Fiktionen in den identitätsstiftenden Erzählungen der Kulturen siehe Koschorke, Albrecht: Spiel mit der Zukunft, SZ 2008 und auch sein Buch Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie (2012)
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