Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


Links zu den Abschnitten

III
Medien-
Theorie

Aufmerksamkeit

Über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource

2014

Soziales Leben war immer schon ein „Tanz um Aufmerksamkeit“ (Georg Franck). Aber seit der Entwicklung der großen städtischen Agglomerationen und der kulturellen Angeboten der modernen Medien-Gesellschaft hat die Masse der  Geräusche, Bilder und sozialen Situationen, die nach unserer Aufmerksamkeit schreien, in atemberaubender Weise zugenommen. Das stresst die begrenzte neuro-psychologische Kapazität für Aufmerksamkeit, über die ein menschliches Gehirn verfügt. Und es verändert die Verteilung der begrenzten Kapazität sozialer Aufmerksamkeit, über die eine Person verfügt. 

Aufmerksamkeit im Gehirn

Die Aufmerksamkeit eines Menschen ist eine knappe Ressource, sie ist in ihrer Kapazität beschränkt. Sie wird gern mit einem „geistigen Scheinwerfer" verglichen, der für einen Organismus wichtige Szenen beleuchtet. Aufmerksamkeit trennt momentan Wichtiges vom Unwichtigem. Nervenzellen, die eine bestimmte Eigenschaft signalisieren, werden verstärkt aktiv, wenn diese Eigenschaft gerade besonders wichtig ist. 
Die Zuwendung zu neuen Sachverhalten oder Gegenständen geht in der Regel mit einer Abwendung von anderen einher. Der jeweils stärkste Reiz gewinnt auf Kosten aller anderen. In der Regel ist nur ein Gegenstandsbereich im Fokus der Aufmerksamkeit, andere können höchstens beiläufig wahrgenommen werden.
hier_aufmerksamkeit_ichDieser geistige Scheinwerfer kann unbewusst arbeiten, aber auch bewusst gerichtet werden. Aufmerksamkeit kann von außen durch Sinnesreize, von innen durch Emotionen oder andere Empfindungen erregt werden. Aufmerksamkeit kann auch bewusst gesteuert und auf etwas Bestimmtes gerichtet werden. Laute überraschende Außenreize können in diesem Sinne starke Reize sein. Der innere Erwartungszustand spielt aber durchaus eine Rolle. Wer hungrig ist, wird Essens-Duftreize sehr aufmerksam wahrnehmen.
Aufmerksamkeit managt also die Informationsverarbeitung. Im  Wettstreit liegen dabei nicht nur die Reize, die in das Gehirn einströmen, sondern auch die Areale, die sie verarbeiten. Aufmerksamkeit ist neurophysiologisch nicht strikt lokalisierbar, sondern die Eigenschaft eines weiträumigen neuronalen Netzwerks. Dies zeigt sich bei lokalen Hirnläsionen, die mit spezifischen Störungen der Aufmerksamkeit einhergehen.

Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Im Alltagsleben scheinen Aufmerksamkeit und Bewusstsein zusammenzugehören: Wer seine Aufmerksamkeit auf die Schere richtet, wird sich ihrer Eigenschaften, etwa ihres roten Griffes, bewusst. Umgekehrt kann der rote Griff auch die Aufmerksamkeit auf die Schere lenken. Aber nicht alles, was wahrgenommen wird, ist handlungsrelevant. Aufmerksamkeit selektiert, was bedeutsam ist.
Wiederum zeigen Hirnläsionen, dass die Funktionen der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins im Gehirn durchaus nicht identisch sind. So sind z.B. die Zentren für visuelle Aufmerksamkeit im Gehirn nicht auf die neuronale Verarbeitung des visuellen Bewusstseins angewiesen. Visuelles Bewusstsein ist ohne Aufmerksamkeit möglich, Aufmerksamkeit ohne Bewusstheit. 

Aufmerksamkeit im Alltag

Franck beschreibt in seiner „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ das alltägliche Leben als fortlaufenden Tausch von Aufmerksamkeit. Sogar „was wir vom eigenen Selbst halten dürfen“, ist abhängig von der Beachtung, die wir durch andere erfahren. Daher ist Aufmerksamkeit anderer Menschen „die unwiderstehlichste aller Drogen“.

In der Kultur einer Gesellschaft haben sich Traditionen herausgebildet und fixiert, die die Aufmerksamkeit entlasten sollen. Das Gewaltmonopol des „Du sollst nicht töten“ ist ein entlastender moralischer Grundsatz – unsere Aufmerksamkeit wäre in der fremden Umgebung einer anonymen Gesellschaft sonst vollkommen überfordert. Verstöße gegen die kulturellen Normen mobilisieren die volle Aufmerksamkeit einer Gesellschaft – über die Skandalisierung wird der Konsens  über die Norm wiederhergestellt oder ggf. leicht fortentwickelt. 
Geringere, aber positive Aufmerksamkeit erfährt der Mensch, der im Sinne der Moral seiner Gemeinschaft handelt. „Bildung ist die Investition von Aufmerksamkeit in sich selbst“ (Franck). Sie soll sich auszahlen - Bildung verspricht die Aufmerksamkeit anderer.
Geistige Arbeit unterscheidet sich von körperlicher darin, dass ihr Zweck die Beachtung durch andere Menschen ist. Je höher der Bildungsgrad, umso mehr entscheidet die Erwartung des immateriellen Einkommens” über die Beliebtheit eines Berufs.

Das Gedächtnis – das individuelle und wie das kulturelle - ist nicht nur ein Wegweiser für das alltägliche Leben, es ist auch ein Puffer gegen eine Überforderung der Aufmerksamkeit. Erinnerung wird in einem Netz von Neuronen gespeichert. Die Erinnerung ist umso besser, die Speicherung ist umso intensiver, je häufiger die gleichen Informationen aufgenommen und aktualisiert wurden. Dabei müssen Erinnerungen nicht unbedingt sprachlich berichtbare Inhalte betreffen, aus Gewohnheit können wir auch automatisierte Handbewegungen vollführen. Bei Pianisten liegen diese Erinnerungen quasi in den Fingern: Ohne mühsam eingeübte, unbewusste Finger-Reflexe könnten sie kein Konzert „spielen“.

In der Erinnerung liegt die biografische Stabilität einer Persönlichkeit begründet:  Altbekanntes schreckt nicht mehr, man weiß, damit umzugehen. Auf dieser Vertrauensbasis kann eine in sich ruhende Persönlichkeit offen für Neues sein. In der Fähigkeit des Gehirns, sich ständig auf neue Reize einzustellen, besteht normalerweise seine Intelligenz und Kreativität. Neues wird im Kontext des Bekannten wahrgenommen und interpretiert.
Für das Gehirn gibt es einen optimalen Arbeitszustand. Zuviel Neues, zuviel Aufregung überfordert, reduziert die Konzentrationsfähigkeit wie zuviel Kaffee. Wer etwas Schreckliches erlebt, ist nicht mehr in der Lage, seine Aufmerksamkeit selektiv zu steuern - er nimmt kleine, unwichtige Details wahr und seine Aufmerksamkeit fokussiert nicht mehr auf die handlungsrelevanten Elemente.

Kritik der „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“

Um die „Aufmerksamkeit“ konkurrieren (nicht nur) die Medien. Sensationen in der oralen Gemeinschaft sind seltene Ausnahme-Ereignisse. In der modernen medialisierten Welt werden Wahrnehmung und Alltag von der Dynamik der Sensationen geprägt. „Es ist wie in einem Bierzelt. Wenn alle schon laut reden, muss man auch selber brüllen, um noch gehört zu werden.“ (Franck)
Was bedeutet die Potenzierung der Informationen, die unsere Aufmerksamkeit oft geradezu marktschreierisch auf sich ziehen, für unsere begrenzte Kapazität, sie zu verarbeiten? „Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück und ist völlig erschöpft von einem Wirrwarr von Erlebnissen – unterhaltenden oder langweiligen, ungewöhnlichen oder gewöhnlichen, furchtbaren oder erfreulichen –, ohne dass  auch nur eines davon zu Erfahrung geworden wäre“, erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Informationen, die „diskursiv“ über die Wort- und Schriftsprache kommuniziert werden, erschließen das menschliche Gehirn nacheinander, sequentiell, linear. Die Informationen der Bild-Kommunikation sind nur einer ganzheitlichen Perzeptions- und Verstehensweise zugänglich: Bildhaftes stürmt „auf einen Blick“ auf unser Gehirn ein.

Wenn Filme mit schnellen Schnitten arbeiten, zu immer neuen Szenen springen und stärkere Reize bieten, um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, kann das Stress für das allgemeine Aktivierungsniveau des Gehirns bedeuten. Für das Management der Aufmerksamkeit kann es sogar schädlich sein: Der Zuschauer bleibt gefesselt durch die schnellen Schnitte - darunter leidet die Fähigkeit, sich auf bestimmte Inhalte zu konzentrieren. Er kann nicht mehr fokussieren.

So befürchtet Christoph Türcke den Untergang der elementaren Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, wenn die begrenzte Aufnahmefähigkeit ihres Publikums mit Bildern geflutet wird. „Bei einer Klientel, für die Lesen außer im Decodieren von Film- und Computerbildern vornehmlich im Durchblättern von illustrierten Zeitschriften besteht, ist Lesestoff offenbar nur noch, was das Auge festhält, also daran hindert, weiterzugleiten“, also etwas Störendes: „Die neue Lesbarkeit wird mit Mitteln hergestellt, die jeden längeren Text unlesbar machen.“ Power Point als didaktischer Dauerbeglücker führe dazu, so Türcke, dass die Fähigkeit zum Denken ohne ständige Bild-Ablenkung verloren gehe.
In seinem Buch „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ stellt er fest, dass die gesamte Gesellschaft an wachsender Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit leide, was sich bei Kindern am stärksten äußere, da deren Aufmerksamkeitsfähigkeiten erst geschult werden sollte. Für eine „mentale Stabilität“ sei es unerlässlich, dass das Gehirn stabile Muster ausbilden kann, das müsse aber unter den Bedingungen einer „Reizflut“ misslingen. Wenn die elektronischen „Prothesen“ aus dem Denkapparat des Menschen einen „Flipperautomaten“ machen, reagiert das Gehirn mit Streik - es verweigert Aufmerksamkeit. Türcke spricht von „Kulturstörung“ – in der Tradition der kritischen Medienphilosophie des 20. Jahrhunderts, die mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und dem Begriff der „Kulturindustrie“ die Entrüstung der literarischen bildungsbürgerlichen Elite über das Vordringen der (elektronischen) Massenvergnügungen formulierte.

Aufmerksamkeit im globalen Dorf

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat schon in den 1960er Jahren darauf verwiesen, dass neue Technologien, die die Wahrnehmungsweise verändern, immer in der Geschichte aus dem Blickwinkel der alten Medien ängstlich und ablehnend bewertet wurden. Für McLuhan sind neue Medien und technische Innovationen „Ausweitungen des  menschlichen Körpers und der menschlichen Sinne“. Sie revolutionieren unausweichlich auch die Formen, in der eine soziale Kultur ihre „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ organisiert. (1)

StadionIn alten Zeiten fand der Tratsch, diese kleine Münze in der Tausch-Ökonomie der Aufmerksamkeit, beim Bäcker statt und über den Gartenzaun, auch abends im Verein. Das Wohnzimmer wurde in den 1950er Jahren für das Fernsehen umgerüstet, die Sessel im Halbkreis um das „Fenster zur Welt“ aufgestellt. Für direkte Kommunikation blieb die Kommentierung des Fernsehprogramms – oder die Werbepause.
Das Fernsehen machte den Zuschauer weitgehend zum reinen Empfänger, dennoch war es offensichtlich attraktiver als die alte Kommunikation.
Die rasante Verbreitung der elektronischen Social Media-Kommunikation und die breite Nutzung der Kommentar-Funktionen von interaktiven Webseiten zeigen, dass das Tratsch-Bedürfnis nicht geringer geworden ist. Internet-Seiten, die nur anspruchsvolles Feedback zulassen, haben deutlich geringere Klick-Zahlen.
Über Facebook tauscht man sich während der Fernsehsendung oder eines Filmes aus – über Facebook kann man auch zu den Freunden Kontakt halten, die nicht gerade „dabei“ sind im Eiscafe.
Gerade die niedrigschwelligen Like-Angebote der Facebook-Kommunikation sind das Klimpergeld der Aufmerksamkeits-Ökonomie: Ich zeige, dass ich gesehen habe und hoffe, gesehen zu werden. Mehr wird nicht erwartet. Die niedrigschwelligen Aufmerksamkeits-Formen dokumentieren, dass ich bemerkt werde und ermöglichen mir, mich bemerkbar zu machen.
„Public Viewing“ in der „Tatort-Kneipe“ kombiniert das Wohnzimmer-Erlebnis mit der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die ich – wie den alten Verein – normalerweise nicht ins Wohnzimmer einladen würde.
„Public Viewing“ von Fußball-Events auf dem Marktplatz vervielfältigt die klassische Massenversammlung, die Kopie des Ereignisses kommt in mein Dorf. Dass die Kommunikation einseitig ist – die Reaktion des Viewing-Publikums kommt bei den Spielern auf der wirklichen Bühne nicht an, stört wenig. Entscheidend ist für die die Versammelten, dass sie sich emotional (akustisch und visuell) darin bestätigen können, „dabei zu sein“ bzw. „dabei gewesen“ zu sein.

Das Format JOIZ zeigt, wie sich das Leitmedium Internet das Fernsehen einverleibt. Es kombiniert klassische Filmsender-Formate (TV) mit den Feedback-Möglichkeiten und Erwartungen der Social Media-Kommunikation: Ich kann das Programm für meine Community kommentieren. Im Hintergrund können solche Kommentare auch auf der Medien-Bühne eingeblendet werden. Ich bemerke, wie andere die Situation erleben. In Talk-Situationen können sogar die Moderatoren der Kommunikation auf der Bühne reagieren auf einen Kommentar und mir damit zeigen, dass sie das Publikum wahrnehmen und – ggf. auch mir - Aufmerksamkeit schenken. Während das alte Fernsehen sich mit fertigen Sendungen und einem fertigen Sendeschema  über seine Zuschauer ergoss und diese nur als „Einschaltquote“ wahrnahm, erlauben moderne Formen elektronischer Unterhaltung, sie in meine eigene soziale Kommunikation und damit in meine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ einzubinden.   

 

    Anmerkung
    1) Man kann und sollte sicherlich darüber spekulieren, was die elektronische Kommunikationsrevolution für Auswirkungen hat auf die gesellschaftlichen Beziehungen und die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Die Menschen im Jahre 1500 haben auch darüber nachzudenken versucht, welche Auswirkungen die damals gerade 50 Jahre zurückliegende Erfindung des Buchdrucks haben könnte. Im Rückblick wissen wir, wie unzureichend solche Spekulationen bleiben müssen.

    Lit.:
    Georg
    Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit (1998)

Vgl. auch die Texte zu

    Reizschutz, Reizflut, Inhibition - zur Kulturgeschichte der Reizüberflutung M-G-Link
    Kultur des Schreckens, Kult des Opfers: Geschichte der Sensation (nach Ch. Türcke) Link 
    Schöne neue Medienwelt? Der typografische Blick auf die elektrischen Medien M-G-Link
    Sigmund Freud, Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908) Auszüge Link
    Medien-Fiktionen als Bausteine der menschlichen Kultur M-G-Link 

Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte:

    Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze M-G-Link
    Über die Realität der medialen Fiktion 
    M-G-Link

    Das Gehirn spinnt Sinn  - Gehirngespinste  
    M-G-Link
    Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares  
    M-G-Link
    Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung  
    M-G-Link 
    Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden   
    M-G-Link
    Bild  gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder   
    M-G-Link

    Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes  
    M-G-Link
    Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur
     M-G-Link

    Bewegende Bilder – Geschichte des Films  im 19. Jahrhundert  M-G-Link
    Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie   
    M-G-Link
    Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource 
    M-G-Link