Was wir sehen - Texte zur Kultur und Kulturgeschichte der Bilder
2016
Das Bild, das wir zu sehen scheinen, ist in seiner physischen bzw. physikalischen Existenz ein Geflacker von Lichtreflexionen. Zum bedeutsamen Bild wird es erst durch die Interpretation der Lichtpunkte im Kopf. Das eigentliche Bild ist also eine Projektion von Bedeutung auf die Lichtpunkte der Leinwand oder der physischen Natur.
Im modernen Verständnis ist alles, was sich dem Auge bietet, ein „Bild", und erscheint als Abbild, das die Augenlinse auf die Netzhaut projiziert. Das Gehirn muss nach diesem Verständnis nur noch das spiegelverkehrte Abbild auf die Füße stellen und schon ist das Objekt „gesehen“. Diese Vorstellung vom Sehen überträgt Modelle der technischen Optik und gipfelt in der Feststellung, dass das Auge, so Hermann von Helmholtz 1867, „im wesentlichen wie eine Camera obscura“ funktioniere, die ihre Zeichen an das Gehirn weiterleitet. Die moderne Gehirnforschung stellt darauf aufbauend die Frage, wie das Gehirn das Abbild auf der Netzhaut elektrochemisch verarbeitet. Dieses Verständnis ist unzureichend und irreführend. Denn das Kamera-Abziehbild ein fixiertes Bild, eine Momentaufnahme, die ein erstarrtes Blickfeld festhält, einen Ausschnitt von vielleicht einem Sechszigstel einer Sekunde, mehr nicht. Solche erstarrten Bilder können nur verarmte Information liefern über die bedeutungsvolle menschliche Umwelt, die immer in Bewegung ist. Kein Tier könnte überleben, kein Mensch sich in seiner Umwelt orientieren, wenn das Gehirn seine überlebenswichtigen Informationen nur aus solchen erstarrten Abbildern ziehen könnte.
Sehen ist ein Ergebnis von Aktivität des Gehirns
Im natürlichen Normal-Fall bewegen sich die Augen im Kopf und es bewegt sich der Kopf auf dem Leib und es bewegt sich der Leib. Was vor den Augen erscheint sind also andauernd und chaotisch bewegte visuelle Umwelt-Anblicke. Mit einer Drehung des Kopfes können wir den gesamten Horizont an unseren Augen vorbeirasen lassen. Jedes sich freie bewegende Lebewesen muss permanent seine Umwelt mit dem Blick abscannen, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Diese Bilderflut „erscheint“ nicht passiv, sondern sie wird durch die Aktivität des aufmerksamen Gehirns, das die Augen und den Körper steuert, gesucht und „erfasst". Die antike Vorstellung von den Sehstrahlen, nach der der Mensch mit seinen Blick etwas auf das Objekt wirft, hat diese Aktivität plausibel empfunden.
Aus diesem Reizfluss muss das Gehirn Informationen identifizieren, Konstanten fixieren, die für das Lebewesen Bedeutung haben und zur Voraussetzung von Handeln werden können. Die von der Netzhaut aufgenommenen Lichtsignale werden nicht einfach in Nervenzellsignale umwandelt, sondern bereits „vorsortiert“: Unterschiedliche Ganglienzellen reagieren auf die Eigenschaften der gesehenen Bilder, Informationen über Kontrast, Farbe, Bewegungsrichtung, die Lage von Kanten und ihrer Orientierung werden über getrennte Kanäle ans Gehirn weitergeleitet. Bei Mäusen konnten Tübinger Neurowissenschaftler bis zu 40 verschiedene Typen von Ganglienzellen in der Netzhaut unterscheiden. Aus dem grünen Rascheln im grünen Laub könnte die fixierte Information „Schlange“ entnommen werden und zum Signal für Fluchtreflexe werden. Es gehört zu der natürlichen Arbeit der visuellen Zentren im Gehirn, aus der Menge der „huschenden, zuckenden, zappelnden“ visuellen Informationen der bewegten Umwelt halbwegs bedeutsame und handlungsrelevante Informationen zu generieren.
Eine schnelle Kopfdrehung ist für ein rein optisches Verständnis des Auges kein Problem, aber für das visuelle System des Gehirns eine große Herausforderung. Kinder experimentieren mit den begrenzten Möglichkeiten des Gehirns, aus den vorbeihuschenden visuellen Reizen halbwegs klare Bilder zu konstruieren – das Karussell gehört zu den beliebten Spielzeugen dafür. Die Welt dreht sich scheinbar weiter, wenn das Karussell abrupt angehalten wird – einen Moment jedenfalls, bis das Gehirn sich daran gewöhnt hat, dass es nicht mehr versuchen muss, die Drehverwischungen herauszurechnen aus den visuellen Reizen der (optischen) Augenlinse. Auch die Wahrnehmung „Bahnsteig fährt ab" beruht auf dieser Illusion: Das Gehirn nimmt die beginnende Bewegung des Zuges nicht wahr, da der Körper ruht, und interpretiert das sich vorbeiziehende Außenbild des Bahnsteigs alle eigentliche Bewegung. Nach Bruchteilen einer Sekunde korrigiert das Gehirn diese Täuschung und errechnet selbstverständlich aus der Schnelligkeit der Verschiebungen des Augenbildes die eigene, am Leib kaum spürbare Geschwindigkeit.
Was den „natürlichen“ Film, der sich aufgrund der Körperbewegungen dem Gehirn als unendlich schnelle Bildfolge bietet, von dem Kino-Film mit seinen 24 Bildern pro Sekunde unterscheidet, ist vor allem die Bewegung des Körpers und des Kopfes, in dem das Auge sitzt: Im Kino ist der Körper still gestellt, durch die Abdunkelung wird der Blick fixiert auf die Leinwand, man erblickt nur das, was der Regisseur zeigen will. Bei natürlicher Körperbewegung muss der menschliche visuelle Apparat alles erfassen, was aufgrund der Drehungen und Wendungen des Kopfes vor die Augenlinsen kommt. Im Film dagegen gibt es eine Vorauswahl der Objekte, auf die der Blick sich fixieren soll, und Bewegungen haben kalkulierte Geschwindigkeiten, Blickwechsel sind vom Drehbuch ausgesucht und unterliegen nicht den spontanen Bewegungen des Körpers.
Bilder im Kopf, Bilder auf dem Bildschirm - was sind Bilder? Woher nehmen sie ihre faszinierende, magische Wirkung?
Giordano Bruno, der von der katholischen Kirche als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannte große Gelehrte des 16. Jahrhunderts, hat über die für ihn unerklärliche Wirk-Macht der Bilder nachgedacht. Die „Vorstellungskraft oder Imagination“ sei für die Wirkung entscheidend, notierte er in seinen Manuskripten: „Es ist, als ob sich ein Fenster öffnet, das vorher verschlossen war, um die Sonne hereinzulassen.“ Die Phantasie gründe sich „nicht auf Wirkliches als vielmehr den Anschein von Wirklichkeit“: Entscheidend ist, „dass geglaubt wird, es sei wirklich.“ Ein Beleg ist für Bruno das Beispiel der Hölle. Die Vorstellungskraft mache die Hölle „auf eine ihr eigene phantastische Art wirklich“ und fessele die Menschen geradezu.
Das, was wir fühlen, riechen, schmecken, was wir an natürlichen, ungeformten Lauten hören können, erreicht unseren Leib direkt. Wir spüren es, reagieren spontan, bevor unser Gehirn die Sinnesreize verarbeitet und mit Erfahrungsmustern abgleicht. Und wenn wir sagen wollen, was wir wahr-genommen haben, muss das Gehirn die aufgenommenen Reize nach den Möglichkeiten der Sprach-Kultur analysieren. Manchmal sind wir auch sprachlos. Was wir sehen, erreicht unseren Leib auch manchmal direkt, etwa wenn ein Gegenstand auf uns zufliegt und wir spontan ausweichen, bevor wir wahrgenommen haben, was das eigentlich ist. Aber in der Regel reagieren wir auf visuelle Wahrnehmungen erst, wenn unser Gehirn sie analysiert hat. Zu „sehen“, was das ist, bedeutet: Unser Gehirn ordnet die visuellen Reize ein und versieht sie mit Bedeutung.
Wort-Laute und Schriftzeichen sind symbolische Zeichen, das etwas anderes meinen, als sie sind. Um den Schriftbildern und Wort-Lauten eine Bedeutung entnehmen zu können, muss das Gehirn die Symbole zurückbeziehen auf das, was sie symbolisieren. Sie sind Mittel (Medien) einer indirekten Wahrnehmung. Bilder simulieren direkte Wahrnehmung, und diese Illusion, zu sehen, „was ist“, überträgt sich auf die technischen Hilfsmittel des Sehens, auf das Mikroskop, das Teleskop, die Fotografie und den Film. Aber wie wir das sehen, was wir sehen, ist das Ergebnis eines kulturellen Lernprozesses. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen haben sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet. Es gibt eine Geschichte des Sehens. Das Geheimnis des Seh-Sinns liegt darin, wie die visuellen Reize des Bildträgers mit Sinn ausgestattet werden.
Schon für die Baum-Affen war es überlebenswichtig, das sich zweidimensional auf der Netzhaut abbildende Geflacker als einen in Wahrheit dreidimensionalen Handlungs-Raum zu behandeln. Das, was wir für wahr nehmen, ist aufs engste mit unserem Handeln verknüpft. Dass eine langer gerader Ast als Speer zu benutzen ist und dass eine fliegende schwarze Linie mit Spitze ein gefährlicher Speer sein könnte, war für die menschliche Wahr-nehmung überlebenswichtig. Schnitz-Bilder und Statuen wurden als materielle Träger übersinnlicher Kräfte wahr-genommen und angebetet, das ist der Hintergrund des Streits um das religiöse Bildnisverbot. Auch für die Christen war das Bild eines Teufels noch im Mittelalter eine Erscheinung des wahrhaftigen Teufels. Menschen des 18. Jahrhunderts hätten in dem Bild einer modernen Straßen-Kreuzung niemals eine Kreuzung wahrgenommen, weil es in ihrem Kopf so etwas nicht gab. Im Übergang zu Kunstbildern und zu einer fotografischen, filmischen und schließlich computergenerierten Bild-Realität entstehen neue Techniken für „virtuelle“ Realitäten, die sich vom direkten Blick auf die Umwelt insbesondere dadurch unterscheiden, dass die eigenen Körperaktivität von der visuellen Wahrnehmung entkoppelt ist. Wenn im Sommer 2016 Gruppen mit starrem Blick auf ihre Smartphones durch Städte und Parks streiften auf der Jagd nach Pokémons, dann waren sie getrieben von der Faszination an einer virtuellen Realität und gleichzeitig von einem archaischen Jagd-Instinkt – als Mammutjäger vor ihrem kleinen Bildschirm. Das neue Spiel kombiniert auf eine weltweit erfolgreiche Weise alte Instinkte mit neuen Techniken der virtuell erweiterten Realität. Für wenige gab es die faszinierende „augmented reality“ auch früher. Ärzte, die die Bilder des Röntgen- oder Ultraschall-Gerätes vom Körper lesen können, sehen auch Dinge, die man mit unbewaffnetem Auge sonst nicht sehen kann, schließen aus besonderen Mustern auf der Folie ihrer medizinischen Kenntnisse auf außergewöhnliche körperliche Zustände. Für solche Erweiterungen der Realität braucht man auch nicht unbedingt Instrumente, wie das Beispiel der Hölle schon für Giordano Bruno zeigte. Jede religiös motivierte Kindergärtnerin, die in einem schwerbehinderten Kind ein Geschöpf Gottes sieht und es entsprechend behandelt, hat eine „erweiterte Realität“ vor Augen.
Bilder waren gewissermaßen immer Trugbilder. Bilder sind Medien der Generierung und Übertragung von Bedeutungen. Die Zuweisung von Bedeutung ist ein Teil der Kultur – und unterliegt damit der Kulturgeschichte. In der Kulturgeschichte des Sehens geht es um die Frage, wie Bilder fesseln.
Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte:
Wunder des Sehens - Grundlegendes zur Biologie des Gesichtssinns M-G-Link Wir Augentiere: Sehen und Denken - zu den visuellen Grundlagen der diskursiven Vernunft M-G-Link http://www.medien-gesellschaft.de/html/sehen_und_denken.html
Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze M-G-Link Mediale Fiktion - Bausteine der menschlichen Kultur M-G-Link
Das Gehirn spinnt Sinn - Gehirngespinste M-G-Link
Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares M-G-Link Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung M-G-Link Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden M-G-Link Bild gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder M-G-Link
Kultgeschichte des Geschnitzten, Geritzten und Gemalten M-G-Link Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes M-G-Link Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur M-G-Link
Bewegende Bilder – Geschichte des Films im 19. Jahrhundert M-G-Link Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie M-G-Link Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource M-G-Link
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