Klaus Wolschner             Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Texte zum Themenbereich
 
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Geschichte


II Politik
und Medien


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Theorie



Texte zur
Religion

 

In Buchform erschienen:

Wir-Ich Titel kl3

Neue Medien, neue Techniken des Selbst:
Unser digitales Wir-Ich    ISBN: 978-3-754968-81-9

POP Titel Farbe jpg

Über traditionelle Herrschaftskommunikation und neue Formen der  Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel online kommt  
ISBN: 978-3-752948-72-1

GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft der
    großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle Geschichte machen  
ISBN: 978-3-746756-36-3

AS Titel

Kulturgeschichte des Sehens, Mediengeschichte der Bilder: Wie wir wahrnehmen, was wir sehen:
Augenlust und Bildmagie   
 
ISBN 978-3-7418-5475-0

VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die menschliche 
    Wirklichkeits-Konstruktion im Jahrhundert des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift
  
ISBN 978-3-7375-8922-2

 

 

 

Was
machen
Medien
mit
Menschen
?

Topmodel

2021

Eine digitale Medienrevolution (1) verändert die Welt. Kein gesellschaftlicher Bereich, in dem die neuen Kommunikations-Techniken nicht eine sprunghaft wachsende Rolle spielen würden – in der Liebe wie in der Politik, im privaten Alltagsleben wie in politischen Machtkämpfen. Und das global: in Hongkong, Kairo, Paris, in Bagdad und in Washington.
Und das schon wenige Jahrzehnte, nachdem die Elektronik-Tüftler ihre ersten technischen Innovationen erfunden haben.

Aus ihren Erfindungen sind in einer kurzen Zeit mächtige Weltkonzerne geworden, deren Produkte Strukturen umwälzen. Ray Kurzweil, der „Director of Engineering“ bei Google, prophezeit, dass die Techniken der Computerspiele in zehn Jahren „full-immersion virtual realities“ ermöglichen werden, ein vollständiges Eintauchen in virtuelle Realitäten: „Du kannst zum Beispiel dich mit einer Freundin treffen, die hunderte von Kilometern entfernt ist, du kannst mit ihr an der Mittelmeerküste spazieren gehen, ihre Hand halten und die warme feuchte Luft im Gesicht spüren.“
Ziel der Silicon-Valley-Firmen ist aber nicht die Medienrevolution, sondern schlicht, „tools" zur Verfügung zu stellen - und Geld zu verdienen. Sie wissen nicht, was sie tun  - ebenso wenig wie Johannes Gensfleisch Gutenberg das wusste, dessen Drucktechnik-„tool" in den 500 Jahren zuvor die Welt verändert hat. 
     

Was Medien mit Menschen machen und schon immer gemacht haben, zeigt die Reise in die Mediengeschichte.

Medien-Revolutionen passieren

Johannes Gutenberg (1400-1468) hatte keine Ahnung, dass seine geniale Erfindung einer preiswerteren Drucktechnik die katholische Kirche entmachten und eine Wissens-Revolution auslösen sollte. Wenn er erlebt hätte, wie Bauern frei nach dem Schlachtruf „sola scriptura” den Papst schmähen, Kirchen stürmen und die Heiligenbilder zerstören sollten, hätte er vielleicht aus moralischer Verantwortung seine Erfindung bereut.

Das Fernsehen und das weltweite Computer-Netzwerk revolutionieren seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in ähnlich radikaler Weise die Kommunikation zwischen Menschen und damit die Gesellschaft. In unserem Alltag machen wir etwas mit den Medien - wir kaufen die neuen Geräte und schalten sie ein und leben in dem Glauben, wir würden uns die neuen Geräte und ihre Inhalte aneignen. So passiert der Prozess der Medialisierung hinter dem Rücken der Akteure – unaufhaltsam und weltweit - hilflos erscheint der Versuch, hier und da einmal abzuschalten. Das kommunikationswissenschaftliche Nachdenken über die kulturgeschichtliche Wirkung der Medien stellt sich der Frage: Was machen (neue) Medien mit den Menschen?

Schon Giordano Bruno wusste (De vinculis in genere, 1591), was Hermann von Helmholtz in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen physiologischen Forschungen nachweisen konnte: Unsere visuellen Wahrnehmungen werden auf geradezu magische Weise im Gehirn konstruiert. Neue Medien schaffen daher neue, ganz andere Wirklichkeits-Wahrnehmungen, Medien sind nicht neutral „Mittel”, mit denen sich Bilder der Realität nur anders fixieren und verbreiten lassen. Medien prägen die Art, wie Menschen ihre Wirklichkeit wahrnehmen und wie sie sich kommunikativ aufeinander beziehen. Der Mensch ist nur als kommunizierendes soziales Wesen denkbar, neue Kommunikationsmittel verändern mit seinen Vergemeinschaftungsformen daher den Menschen selbst.

Der elektronische Umbruch dürfte so weitreichend sein wie der, den Johannes Gutenberg mit seiner Erfindung der Buchdruck-Technik im 15. Jahrhundert einleitete. Es dauerte vier Jahrhunderte, da waren die oral übermittelten regionalen Mundarten und kulturprägenden Sprechweisen verdrängt durch National-Sprachen, die durch Schrift ihre Normung erhalten - gesprochene Schriftsprachen. Die neuzeitliche  Verbreitung der Schrift ermöglichte eine in der Geschichte beispiellose Entfaltung von Wissenschaft und Vernunft.

Das Buch, vom 17. bis zum 20. Jahrhundert die Grundlage von europäischer Kultur und Bildung, wird nun an den Rand gedrängt von einer multimedialen elektronischen Kommunikation. Die Verdrängung der Kultursprachen, die sich in den letzten Jahrhunderten herausgebildet haben, durch die globale elektronische Kommunikationstechnologie wird nicht Jahrhunderte dauern, sie ist schon erkennbar im Gange. Erkennbar ist auch, dass das globale, von der elektronischen Kommunikation geprägte Amerikanisch-Englisch („globalesisch”) schlichter sein wird - jedenfalls als die Nationalsprachen des gebildeten Bürgertums vergangener Jahrhunderte.

Kommunikationswissenschaften befassen sich also mit Kernfragen der Kulturgeschichte (L) des Menschen. Es gibt kein Wahrnehmen, kein gesellschaftliches Leben außerhalb der medialen Vermittlung von Realität. Mediengeschichte,  Mediensoziologie und Medienphilosophie befassen sich mit der Frage, wie sich der Wandel von Gesellschaft und Kultur in der menschlichen Wahrnehmung, also vermittelt über Medien, darstellt und welche Wirkungen neue Vermittlungstechniken auf den gesellschaftlichen Wandel haben.

Die Kunst der mündlichen Sprache bedeutete eine Medienkultur-Technik - die erste Kommunikationsrevolution des homo sapiens

Wie sprachen und wie dachten die Menschen im 7. oder im 14. Jahrhundert über sich?  Wie unterscheidet sich der Mensch des 7. oder 14. Jahrhunderts von dem Menschen des 21. Jahrhunderts? Wir kommunizierten Menschen anderer, früherer Medien-Kulturen? In welcher Sprache, mit welchen Bildern kommunizierten sie über ihr Leben, welche Bilder machten sie sich von selbst?
Wenn man die mündliche Sprachkultur (L) als das ursprüngliche Kommunikationsmedium des Menschen begreift, dann ist die Entwicklung der Sprachfähigkeit der Primaten ein erstes Beispiel dafür, wie ein neues Kommunikationsmittel die Menschen als soziale Wesen verändert und prägt. Ein Mensch ohne Sprachfähigkeit gilt als behindert.
Unsere heutige Sprache ist seit der Erfindung der Druckerei-Kunst eine Schriftsprache geworden, sie ist kein wirklich „primäres“ Kommunikations-Medium: Die oral übermittelten Mundarten wurden in der Neuzeit als Kommunikationsmittel abgelöst durch (gesprochene) Schriftsprachen.

Als „oral” bezeichnet man eine Gesellschaft, in der die Verwendung von Schrift nicht allgemein gebräuchlich ist, und in der die Sprache nicht durch Schriftkultur geprägt ist, die also durch eine ursprüngliche mündliche Kommunikation geprägt ist.
Um uns ein Bild von der oralen Kommunikation zu machen, müssen wir müssen an die Lautkulturen der Kinder denken oder an die Reste der Dialekte im ländlichen Bereich. Oder Ethnologen auf weite Reisen zu „unberührten” Stammeskulturen schicken. (zur mündlichen Sprache der Pirahã
L) Dass Menschen nicht über diese mündliche Sprachtechnik verfügen, scheint uns unvorstellbar – sie gelten als irgendwie „behindert“.

Die Kultur der Schrift-Sprache verdrängt die mündliche Sprache

Unsere heutige Sprache ist seit der Erfindung der Druckerei-Kunst eine Schrift-Sprache geworden. Die oral übermittelten Mundarten wurden in der Neuzeit als Kommunikationsmittel verdrängt durch (gesprochene) Schriftsprachen – zunächst bei den Gebildeten, dann über die Volksschulen im ganzen Volk. Der Wandel von der nur mündlich gebrauchten Sprache („Mundart”) zu dem Kommunikationsmedium Schrift-Sprache (L) war Teil der Medienrevolution der Neuzeit. Wenn wir heute sprechen, sprechen wir unbewusst Schrift-Sprache: Wir stoßen nicht Lautfolgen aus, ähnlich vielleicht dem melodischen Gebrabbel von Kleinkindern. Unsere Sprache besteht in unserem Verständnis aus einzelnen Worten, die gewöhnlich zu Sätzen aneinandergekettet sind, Satzteile sind durch Kommata getrennt, am Ende steht ein Punkt - solche Satzteile setzen wir mit Pausen ab. Das alles sind Merkmale von Schrift-Sprache. Was wir uns gewöhnlich nicht klar machen: Unsere Sprache ist davon geprägt, dass wir die einzelnen Satz-Elemente als Schriftbild vor Augen haben. Unsere komplexe Grammatik ist ein Kind der Schrift und ein Programm für Schriftsprache. Man kann sie auch „literale" Sprache nennen.

Die Schrift-Sprache führt zur Domestication of the Savage Mind”

Die Schrift ist nicht nur die Grundlage unserer Buchkultur, sondern auch unserer Sprachkultur. Der Übergang vom anschaulichen Denken des Mittelalters zum begrifflichen Denken der Neuzeit bedeutete gleichzeitig das Lernen einer neuen Sprache, deren Kennzeichen die Abstraktion von der Erfahrungswelt, die grammatische Komplexität und die Bilderlosigkeit war: „Der menschliche Geist musste erst durch Jahrhunderte lange Erziehung dazu gebracht werden, möglichst ohne Zuhilfenahme des bildhaft Greifbaren folgerichtig zu denken.“ (Leonardo Olschki, 1919).

Der Ethnologe Jack Goody nannte sein bahnbrechendes Buch über die Erfindung der phonetischen Schrift bezeichnenderweise „The Domestication of the Savage Mind” (1977).  Er untersucht die Auswirkungen der grafischen Speicherung von Sprache in der Form abstrakter Schriftzeichen auf kognitive Prozesse.  Für Eric Havelock ist insbesondere die von den Griechen „erfundene“ Alphabet-Schrift die wesentliche Grundlage für analytisches Denken, er spricht von der Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Schrift". (L)

Die neue Sprache wurde in der europäischen Aufklärung zum Medium der Vernunft für alle Gebildeten: Nur wer in der Schrift-Sprache denkt, ist wirklich Mensch - „cogito ergo sum“. Die Vernunft sollte regieren, wahr ist nur, was klar und einsichtig ist. Gott wird letztlich nicht mehr gebraucht in dieser neuen geistigen Welt. Der Leib dient nur als vergängliche Hülle, auch das Gefühl hat bei der Arbeit des Verstandes nichts mehr zu suchen. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein formuliert für diese Form schriftsprachlicher Rationalität, „dass man nicht außerhalb seiner Sprache denken kann“.

Das Nachdenken über das Verhältnis von Schrift-Sprache und Denken (L) führt zu grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragen:
- Wie beeinflussen Medien die Konstruktion von Realität in der menschlichen Wahrnehmung?
- Wie verändert sich der Mensch, wenn er sich neuer Medien bedient? 

Elektro-chemische Medienrevolution setzt sich von unten” nach oben” durch

In der geschichtlich äußerst kurzen Phase von nur einem Jahrhundert kamen nicht nur fotografische Abbilder (1826), sondern auch Filme (1895), das Radio (1904, 1923), das Fernsehen (1926) und der  Computer (1938, 1974) auf den Medienmarkt. Diese neuen Technologien haben gemeinsam, dass sie zunehmend die Masse Gesellschaft erreichen. Die elektrisch vermittelten neuen Audiovisualitäten bringen in ähnlicher Weise ein neues Denken hervor werden wie der Buchdruck: Neue Kommunikationsmedien führen, wenn der Mensch sie sich aneignet, zu einer „Erweiterung“ der Sinnesorgane, zu „Ausweitungen“ des menschlichen Körpers, „extensions of man", diese These hat der kanadische Medientheoretiker McLuhan Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert.

Diese Ausweitung des Körpers durch das neue Medium ist das Wesentliche, „the Medium is the Message“: Die neue Technik wird zunächst mit den alten Inhalten gefüllt, erst später werden die ihr entsprechenden neuen Kommunikationswelten deutlich. Niemand hat in den 1950er Jahren sich vorstellen können, mit welcher Intensität und welchen Inhalten das Fernsehen 40 Jahre später die Gesellschaft prägen würde. McLuhan hat es geahnt: „Denn die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.“ 

    Exkurs: Kritik der neuen Medien aus dem Geist der alten

    In der Zeit McLuhans in der Mitte des 20. Jahrhundert dominierte eine skeptische Bewertung der neuen Medien: Bedeutete die elektrische Multimedia-Gesellschaft (L) nicht das Ende des Buches und damit der Kultur?
    „Wir amüsieren uns zu Tode” in dieser schönen neuen Fernsehgesellschaft, befürchtete Neil Postman in den 1980er Jahren. Sein kulturkritischer Pessimismus war fundamental: Kindheit „verschwindet”, das Fernsehen scheint die Techniken der Verführbarkeit des Menschen zu vollenden, die durch die moderne Form totalitärer Diktaturen schon deutlich geworden ist. Am Ende eines Zeitalters der Vernunft und der Aufklärung steht für Postman die Barbarei, das organisierte Verbrechen. Von Adorno stammt das Stichwort von der „Dialektik der Aufklärung“. Die Kulturindustrie füllt das menschliche Vakuum. Der Philosoph Günther Anders hat 1980 ein Buch geschrieben mit dem bezeichnenden Titel „Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution". Diese Kritiker hatten die kleine Elite der aufgeklärten Menschen früherer Jahrhunderte vor Augen und nicht die Mehrheit der Bevölkerung, die sie abfällig als „Masse“ bezeichneten. Die Techniken des Lesens und Schreibens zu beherrschen bedeutete für eine gebildete Elite Einfluss und Macht. Kultur und Gesellschaft waren davon geprägt. „Literalität” bestimmte den Alltag der „Gebildeten”. 
    Die Medienkritik ist ein Teilbereich der Technikkritik. Sigmund Freud hat die Skepsis über den technischen Fortschritt der Menschen mit dem schönen Bild festgehalten: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen." (Das Unbehagen in der Kultur, 1930).
    Mit dem technischen Fortschritt macht sich der Mensch frei von den alten Gottes-Vorstellungen, denkt sich gottgleich, sagt Freud, aber der technische Fortschritt macht den Menschen deshalb nicht glücklicher. Prothesen sind für Freud dabei etwas dem Menschen Äußerliches, „nicht mit ihm verwachsen“.
    Es ist heute noch kaum absehbar, was die neuen Medien aus dem Menschen machen werden. Selten haben die Zeitzeugen von Medienrevolutionen schon begriffen, was sich da entwickelte. Der Philosoph Platon, dessen Schriften wir die Kenntnis der klassischen griechischen Philosophie verdanken, kritisierte erstaunlicherweise die Schrift mit dem Argument, dass sie nur „Buchstabengärtchen“ schaffe, in denen „Schein-Weise“ unbeseeltes Wissen fänden. Er kritisiert die Schrift vom Standpunkt der oralen Gedächtnis-Kultur. Ähnlich sind viele moderne Medientheoretiker den Idealen der Buchkultur verpflichtet, wenn sie die zukünftige multimediale Computergesellschaft zu analysieren suchen.
    McLuhan, der spinnerte Prophet eines neuen Zeitalters, sah das 20. Jahrhundert als eine Übergangsphase, in der die Buch-Kultur (Gutenberg-Galaxis) abgelöst wird. Wo alte Wahrnehmungsschemata noch vorherrschen, herrsche ein erklärte McLuhan: Die Kritiker versuchten,
      „die Aufgaben von heute mit den Werkzeugen von gestern und den Vorstellungen von gestern zu lösen".

Das Fernsehen schleift die Hierarchien der Schrift-Kultur

Für McLuhan verwächst der Mensch mit seinen jeweiligen Medientechniken - in einer ähnlichen Weise wie er mit der körperlichen „Medientechnik” der Sprache in ihrer oralen und ihrer typografischen Ausprägung verwachsen ist. Weil Kommunikation symbolische Interaktion ist, also zwischenmenschliches Handeln, bieten neue Kommunikations-Medien auch immer neue Interaktions-Dimensionen an, in denen das Selbstbild der Menschen und ihr Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit geformt werden.

Ein Beispiel: Ohne das elektrische Medium Fernsehen wäre die Frauenemanzipation in den 1960er Jahren nicht denkbar, sagt Joshua Meyrowitz.  Alle Familienmitglieder, so betont Meyrowitz, hatten mit dem Fernsehen denselben Zugang zu den Informationen über die Politik und sahen dieselben Filme über Liebe und die ritualisierten Streitigkeiten unter Männern (Krimis). Zuvor war die Welt Jahrhunderte lang vor allem durch erzählte Geschichten und Geschichten auf bedrucktem Papier erfahrbar gemacht worden. Kinder hörten andere Texte als Erwachsene, Frauen lasen andere als Männer. 

Die neuen elektrischen Medien, also Film, Radio und Telefon, entwickelten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts als neue Kommunikationsmittel für alle, nicht nur für die alten bürgerlichen Eliten. Das Fernsehen schließlich revolutionierte mit der Medien-Landschaft auch die Familienkommunikation und initiierte einen gesellschaftlichen Umbruch, der sich sozial differenziert von unten nach oben durchsetzte - nur wenige Jahre hielt die bildungsbürgerliche Abwehrhaltung gegenüber dem neuen Medium. Das Fernsehen der 1950er Jahre eröffnete den Blick in bisher unbekannte fremde Welten. Zum ersten Mal in der Geschichte bekommen Herren und Knechte allabendlich dieselben Informationen.

In einer zweiten Phase seiner Entwicklung hat das Fernsehen sich zu einer Sozialisations-Institution entwickelt, die Vorbilder für den Alltag liefert und damit klassische gesellschaftliche Normungsprozesse ablöst. Das neue Medium begann die Individuen zu prägen. Wie frau kocht und wie das mit der Liebe ist, erfahren Teenager heute aus dem Fernsehen von Star-Köchen und „Sex in the City”, die beschränkte Welt der Eltern muss dagegen langweilig wirken. Allabendlich saß die moderne Familie, arm und ungebildet wie reich und gebildet, seit den 1960er Jahren im Halbkreis um die Kathodenstrahl-Röhre, aus der die Themen der Unterhaltung vorgegeben werden. Am Lagerfeuer oder am Tisch mussten die Menschen vorher das Objekt ihrer gemeinsamen Aufmerksamkeit selbst konstruieren.
Diese Fernseh-orientierte Form der Gestaltung der (zunehmenden) Freizeit war offensichtlich deutlich attraktiver als die tradierte, die in kaum zwei Jahrzehnten verdrängt wurde.

Politik in der Fernsehgesellschaft wird zur Medien-Show

Auch was die Politik angeht, ist das Fernsehen über die Phase „Fenster zur Welt” längst hinausgewachsen. Neben der Politik als Verwaltungshandeln hat sich ein ZweigPolitik als Medien-Show” entwickelt, Talkshows  mit ihren Eigengesetzlichkeiten sind für die öffentliche Meinungsbildung wichtiger als Parlamentsdebatten. Wenn Parteien ganz modern sein wollen, dann richten sie ihre Debattenformen nach den Formaten des Fernsehens.
Während konservative Beobachter die „Politiker in den Fesseln der Mediengesellschaft“ sehen, beschrieb der Soziologe Joshua Meyrowitz, wie erst das Fernsehen eine weitreichende Teilhabe des Wahlvolkes an Details der Politik ermöglicht. Demokratie ist am Ende des 20. Jahrhunderts mehr als die Wahl der Führer durch das Volk. Gleichzeitig verschmolz der politische Prozess durch die Macht der Medien zur „Mediokratie” (Thomas Meyer,
L ), aber mit dem Begriff beschrieb Meyer die eine Phase elitärer Medien: Für die Zeitungen und das Fernsehen ist kennzeichnend, dass wenige – ausgebildete – professionelle Journalisten im Konzert mit wenigen politischen Akteuren die Meinung machen. In der Phase von „social media“ ist diese Konstellation infrage gestellt und die alte „Mediokratie“ zutiefst verunsichert.

Das Smartphone wird von den Menschen wie eine Körpererweiterung angeeignet

Die Tage des Fernsehens in seiner Rolle als Motor und Taktgeber gesellschaftlichen Wandels sind gezählt. Heute ist die Welt im Computer  (L): Der Computer ist in der Schule, am Arbeitsplatz, er ist universelles Lexikon, Spiel-Konsole und Kontaktbörse. Mit dem Handy-Kleincomputer kann jeder inzwischen dieses Instrument am Körper mit sich tragen. Es bindet den Menschen in eine universelle kommunikative Struktur ein, in der jeder Einzelne seine Identität erlebt - unabhängig von seinem jeweiligen physischen „Ort”. Inzwischen kommunizieren Menschen mit ihren Smartphones, während der Fernseher im Hintergrund läuft.

Der Computer und das Internet (das McLuhan nicht mehr kennen gelernt hat) vereinen inzwischen die elektrischen Medientechniken des 20. Jahrhunderts mit den Speicher- und Verbreitungsformen der alten Schriftsprache. Zunächst integrierte der Computer nur die Schriftbuchstaben mit Ton und Bild – nichts daran ist Medienrevolution. Erst mit dem Smartphone erleben die Entstehung der neuen elektronischen Medien, die die für die überkommenen elitären Massenmedien des 19. und 20. Jahrhunderts typische hierarchische Trennung von „Sendern“ und „Empfängern“ vollends aufheben. Auf diesen Endgeräten vereint sich die elitäre schriftliche Information mit der banalen Alltagskommunikation.

Die Technologien der bewegten Bilder in Verbindung mit der Übertragung von Lautsprache machen Gefühle wieder unmittelbar kommunizierbar. Die Komplexität der Welt muss reduziert werden, wenn sie dem rational-logischen Schrift-Denken unterworfen werden soll. Die Schrift eignet sich schlecht, Gefühle oder gar Unbewusstes zu kommunizieren. Die digitale Kommunikationstechnik erlaubt es den „Empfängern“, mit ihren Bildern und ihrer Sprache zu reagieren – nur die unmittelbaren Körpersinne, das Riechen und das Berühren, sind (bisher) noch ausgeklammert. Wie wichtig der ganze Körper für die Kommunikation von Gefühlen ist, zeigt sich insbesondere in der körperlichen Liebe.

Wer sagt, dass sich für die neue Generation von Computer-Menschen nicht die vor dem Bildschirm erlebten Erfahrungen und Gefühlsregungen tiefer in die Seele einschreiben als das Wenige, das sie - nach einer überholten Terminologie - als „real" erleben dürfen?

Hier ich AufmerksamkeitUnser leiblich erlebbarer Alltag wird eintönig und grau vor dem globalen, ja galaktischen Medienzauber oder besser: Der Medienzauber bestimmt den leiblich erlebbaren Alltag. Zu dem mehrstündigen täglichen Fernseh-Konsum kommt die permanente Beschäftigung mit dem Handy hinzu. In der virtuellen Welt kann ich endlich direkt mit meinen Stars leiden, kämpfen und gewinnen, und zwar täglich - wo ich gehe und stehe. Ich kann in Wirklichkeit klein, hässlich und ein Versager sein – das schränkt mich in meinem zweiten, virtuellen Leben und meinen „parasozialen“ Beziehungen nicht ein. 

In einer ersten Phase von „social media“ kommunizieren die Menschen, was sie körperlich erleben. In einer zweiten Phase vermitteln die sozialen Medien die Muster, mit denen Menschen das begreifen, was sie spüren. Das neue Medium wird zur Message”. Gegenüber der großen Freiheit des virtuellen Second Life müssen sich die Menschen in der realen Welt hässlich und ungenügend vorkommen.  In einer ersten Phase sind reale Figuren die Objekte für parasoziale Beziehungen. In einer zweiten Phase werden virtuelle parasoziale Figuren die Vorbilder für die Selbstbilder der Menschen. Digitale Erlebnisse werden wichtiger, einprägsamer als körperliche Erlebnisse. Die parasoziale Computer-Identität ist so unwiderstehlich attraktiv wie das schicke Kleiden und Schminken.

Die Techniken der alle Distanzen überwindenden Telegrafie, die Sigmund Freud noch als „Prothese“ empfand, sind nach 100 Jahren schon vollkommen selbstverständlich für unser Welt-Erleben geworden. Die Besitzergreifung des globalen Raumes ist durch das Handy abgeschlossen – dass mein Partner gerade in München oder Rom ist, hindert mich nicht daran, ganz normal mit ihm oder ihr so über die Banalitäten meines Alltags zu kommunizieren, wie ich das früher über den Gartenzaun tat. Wenn ich von meinem Nachbarn etwas will, gehe ich ja auch nicht mehr rüber, sondern rufe an bzw. schicke eine SMS.

Der „alphabetisierte Mensch“ könne sich historisch als „Episode" (McLuhan) erweisen, meinte McLuhan. Die Gehirnforscher (L) sagen uns, dass das menschliche Gehirn keineswegs auf sprachliche Codes „geeicht“ ist. Der universelle Computer hat mit der Erfindung der grafischen Oberfläche (Maus) schon begonnen, die Schriftkenntnisse zu entwerten. Musste man vorher in wochenlangen Kursen die Schrift-Codes der „Computersprachen“ erlernen, so ist die Bedienung inzwischen kinderleicht im wörtlichen Sinne – und universell:
Weil die Codes visuell sind, beherrschen japanische Kinder sie genauso schnell wie europäische.

In einer ersten Phase von „social media“ kommunizieren die Menschen, was sie erleben. In einer zweiten Phase vermitteln die sozialen Medien die Muster, mit denen Menschen das begreifen, was sie spüren. Gegenüber der großen Freiheit des virtuellen Second Life müssen sich die Menschen in der realen Welt hässlich und ungenügend vorkommen.  In einer ersten Phase sind reale Figuren die Objekte für parasoziale Beziehungen. In einer zweiten Phase werden virtuelle parasoziale Figuren die Vorbilder für die Selbstbilder der Menschen. Digitale Erlebnisse werden wichtiger, einprägsamer als körperliche Erlebnisse. Die parasoziale Computer-Identität ist so unwiderstehlich attraktiv wie das schicke Kleiden und Schminken.

Unter dem Stichwort Brain-Computer-Interface (BCI) arbeiten die Gehirnforscher daran, die elektrischen Signale aus dem Gehirn direkt abzuleiten, im Computer zu „entschlüsseln“ und in Kommunikations-Botschaften umzuwandeln – in einen Code, den Menschen mit ihren Sinnesorganen jedenfalls teilweise erfassen können.

Daraus machen Ärzte Prothesen. Die Kommunikationswissenschaft kann an diesen Forschungen studieren, auf welche Weise akustische, visuelle und taktile Kommunikations-Signale im Gehirn und dann - teilweise - auch im Bewusstsein des Menschen „ankommen“.  Noch ist es Theorie und Film-Fiktion, dass eines Tages die Sinnesorgane umgangen, ersetzt - und erweitert werden können. Noch scheint die Schriftkultur das wesentliche Medium, auch bei der Arbeit an den Technologien der Zukunft.

    Anmerkungen
    (1) Eine kleine Anmerkung zu dem Begriff „Revolution“. Die Entgegensetzung von Revolution und Evolution ist ein typischer Irrtum, der entsteht, wenn man sprachliche Symbole für die „eigentliche“ Wirklichkeit selbst hält. „Revolution“ und „Evolution“ sind Etiketten, die Sichtweisen auf Prozesse herausstreichen. Evolution streicht heraus, dass Prozesse immer lange Verläufe haben, oft über Jahrhunderte. „Revolution“ streicht heraus, dass es in diesen langwierigen Prozesse Momente des Kippens gibt, in denen – zum Beispiel durch neue Medientechniken - eine neue Dynamik entsteht. Den Erfindern der neuen Medientechnik ist normalerweise nicht bewusst, für welche Wirkung ihre „Medienrevolution“ nach einigen Jahrhunderten verantwortlich gemacht wird. Medienrevolutionen „passieren“, solche Kipppunkte passieren meist aus anderen Gründen als Medienhistoriker im Rückblick als die „message“ der Medienrevolution bezeichnen.

 

Nähere Ausführungen zu diesen Fragestellungen
finden sich in den einzelnen Texten dieser Webseite

I  Texte zur Mediengeschichte

II  Texte zum Verhältnis von Medien und Politik

III  Texte zur Medientheorie