Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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POP 55

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und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
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Über die Entstehung von Sprache,
Klatsch und Tratsch

2015

Ist es nicht erstaunlich, wie Menschenkinder sprechen lernen? Die Struktur der frühen Verhaltensformen im Verhältnis von Mutter und Kind ist sinnlich und vorsprachlich. Der Laut „Mama“ symbolisiert als frühes Laut-Zeichen die sinnlich-emotionale Geschlossenheit Kind-Mutter. Der Wort-Laut Mama kann aber auch in Situationen, wo Kind-Mama nicht wirklich ist oder nicht da ist, diese Vorstellung wachrufen. Mit der Sprache wird neben der emotional-körperlichen Wirklichkeit eine zweite, symbolische Wirklichkeit konstruiert. Das Kind lernt mit sprachlichen Lauten zu spielen. Es bindet zunächst die Mutter mit dem Wort „Mama“ – das Wort zaubert die Mutter her, wenn sie weg sein sollte. Die entwickelte Sprache erlaubt es dem Menschen schließlich, Gegenstände und Situationen zu benennen, die nicht wirklich sind.

Die Eltern brauchen weder ihre Zungen- und Kehlkopfstellungen vorführen, um zu zeigen, wie Laute gebildet werden, noch müssen sie die Zunge des Kindes in die richtige Form bringen. Kinderköpfe saugen die Sprach-Vorbilder auf und lernen grammatische Strukturen von Gleichmäßigkeit zu erkennen und nachzuahmen, ohne systematischen Sprach-Unterricht zu bekommen.

Das, was Menschen von Tieren am deutlichsten unterscheidet, ist ihre Sprache. Wobei meist über Belangloses geredet wird, über Dinge, die der Kommunikationspartner ohnehin weiß. Das, was die Leute in den Kaffeehäusern und Kneipen tun, ähnelt dem Kraulen der Affen. Sprache wird nur zu einem geringen Teil zum Informieren über Sachen und Sachverhalte verwendet, die meiste Zeit werden Informationen über den Sprecher, seine Meinungen, seine Bedeutung, seine Beziehung zu den anderen ausgebreitet. Sprache dient der Pflege von Gemeinschaft.

Klatsch und die Pflege der Gemeinschaft

Die Kommunikation von Gerüchten, Klatsch und Intrigen war bei den alten Griechen und Römern ebenso beliebt und umstritten wie im alten China. Sie ist die Kehrseite der Weisheit – Xanthippe ist, bis heute sprichwörtlich das zänkische, klatschsüchtige Weib, war die Frau des Philosophen Sokrates (469-399 v.u.Z.). Sokrates rechtfertigte – nach dem Zeugnis des Zeitgenossen Xenophon - seine Ehe mit Xanthippe damit, dass „diejenigen, welche gute Reiter werden wollen, sich nicht die sanftesten und lenksamsten Pferde, sondern lieber wilde und unbändige anschaffen“.
Geoffrey Chaucer schrieb im späten 14. Jahrhundert in seinen „Canterbury Tales“ den höfischen Klatsch über Liebe, Verrat und Habsucht auf - tratschfreudige Frauen berichten ungehemmt von der der Qualität der Geschlechtswerkzeuge ihrer Ehemänner.
Als Vater des Klatschjournalismus gilt Pietro Aretino (1492-1556), der durch die neu erfundene Druckerkunst in ganz Europa berühmt und gefürchtet war. Er schrieb Satiren und Sonette über das Privatleben von Kardinalen und Adeligen,  prangerte Heuchelei, Bestechung und Vetternwirtschaft an und kassierte im Zweifelsfall Geld für sein Schweigen. Aretinos schrieb ein deftiges Toskanisch, richtete seine Indiskretionen also direkt ans einfache Volk.
Das war die Zeit von Martin Luther, der ähnlich deftig formulierte: „Die Weiber sollen mit dem pleuel und nicht immerdar mit dem maul waschen.“ Das bezog sich auf die verbreitete Meinung, dass der Klatsch seinen Ursprung in der Waschkultur hat: Die Frauen kamen am Brunnen zusammen, um gemeinsam zu waschen – die Männer hörten von ferne das Geräusch des Ausklatschens der Wäsche. Männer durften sich den Waschplätzen nicht nähern, an dem die Frauen unter sich obszöne Gespräche führen konnten und der mit ebenso obszönen Gesten gegen neugierige Männer verteidigt wurde, wie Birgit Althans schreibt. Sie berichtet von dem großen Repertoire an „Rügestrafen“, mit denen die Gemeinschaft den  Klatsch eindämmen wollte – insbesondere wenn er sich gegen die Obrigkeit richtete.
Unter Pseudonym veröffentlichte der französische Aufklärer Denis Diderot 1748 seinen Debut-Roman „Die indiskreten Kleinode“, in es die  Sexualorgane der Damen sind, die – unfreiwillig – über weibliche Phantasien und Ausschweifungen klatschen.
Klatsch gab es in den adeligen Kreisen und als despektierliches Gerede im Volk über die Obrigkeit. Im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts setzte die unter Druck stehende Monarchie sogar Spitzel ein, um zu erfahren, was das Volk so in den Kneipen zu klatschen hatte. Diese vorrevolutionäre Öffentlichkeit untergrub die Autorität des Regimes, auch wenn es scheinbar nur um Äußerlichkeiten wie die „Halsbandaffäre“ der Königin ging.

Klatsch-Kommunikation dreht sich um die Frage, was „normal“ und erlaubt und was anrüchig ist, verhandelt also soziale Normen und vermittelt gleichzeitig auch unbeteiligten Dritten das Gefühl, beobachtet zu werden.

Was Tiere ohne Sprache „sagen” können

Für die Sprachfähigkeit des Homo sapiens werden gewöhnlich zwei Voraussetzungen genannt, die große Nachteile mit sich gebracht haben: Die tiefe Lage des Kehlkopfes führt dazu, dass Menschen nicht mehr gleichzeitig schlucken und atmen können. Das kann lebensgefährlich sein. Die Vergrößerung des Gehirnvolumens und des Kopfes erschwert den Geburtsvorgang – Menschenkinder sind systematische Frühgeburten, weitgehend lebensunfähig. Sie „durchzubringen“ erfordert deutlich mehr Sorge und Pflege als bei ihren Primaten-Vorfahren. Beides sind erhebliche biologische Nachteile, die durch evolutionäre Vorteile ausgeglichen worden sein müssen.

So fragt sich, wofür eine verbale Kommunikation, die differenzierter war als die Laut-Kommunikation verschiedener Tierarten oder der Singsang der Neandertaler, nützlich gewesen sein könnte. Die kulturelle Revolution, die zur Entwicklung der Sprache geführt hat, wird in der späten Altsteinzeit, also vor mindestens 50.000 Jahren, angesetzt.

Da das Sprachzentrum im Gehirn in derselben Region lokalisiert ist, in der die Fertigkeiten der Hände koordiniert werden, glaubte man lange Zeit, Sprache sei entstanden zum Zwecke der Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen. Friedrich Engels hat darüber im 19. Jahrhundert spekuliert. Die sprachliche Beschreibung von handwerklichen Handgriffen und von Jagd-Techniken setzt aber ein weit entwickeltes Sprachsystem voraus. Diese Fähigkeiten stehen nicht am Anfang. Man kann sich das vorstellen, wenn man die Sprachentwicklung von Kindern beobachtet.

Andere Überlegungen gingen davon aus, dass die Sprache im Zusammenhang mit der kooperativen Jagd entstanden sein müsse. Aber auch Tiere jagen andere Tiere kooperativ - meist mit einfacher Laut-Verständigung. Löwen oder Wölfe sind ohne differenziertere Laut-Kommunikation zu kooperativen Jagdleistungen fähig. Beim Menschen muss es um mehr gegangen sein.

Auch Tiere können untereinander und mit Angehörigen anderer Arten kommunizieren. Hunde, die bellen, kommunizieren, sie können sogar lügen - nichts anderes ist es, wenn kleine Kleffer laut bellt, um größere Tiere zu erschrecken. Katzen sind als menschliche Wohngenossen so  beliebt, weil sie ihre Empfindungen und Bedürfnisse durch Lautäußerungen (Miauen, Knurren, Schnurren) oder durch Körpersprache (mit dem Schwanz wedeln, an der Tür kratzen) artikulieren können. Bienen dagegen bedienen sich eines Kommunikationssystems, das für Menschen als Tanz-Sprache erscheint – im Einzelnen sinnlich kaum nachvollziebar. Der Werbegesang der Vögel erscheint den menschlichen Ohren wie Musik. Die Warnrufe bei einigen Affenarten weisen je nach Klangbild auf unterschiedliche Feinde hin. Affen kommunizieren auch mit symbolischen Gesten: Bei „Schlange" erheben sie sich auf ihren Hinterbeinen und blicken demonstrativ umher, bei „Adler" ducken sie sich und bei „Leopard" fluchten sie auf einen Baum. 

Es gibt eine Vielzahl sozialer Signale unter Tieren: Drohungen, Dominanz- und Demutsgebärden, Begrüßungs-, Beschwichtigungs- und Aufmunterungsgebärden, Spielsignale, Ausdrücke von Gemütsbewegungen wie Wut, Freude, Schmerz, ferner  das ganze Repertoire der Balzhandlungen. Es gibt auch aus ihrem ursprünglichen biologischen Kontext herausgelöste Signale, etwa wenn das Harnlassen als „Markierung“ des Territoriums dient.

Aber Kommunikation bei Tieren ist an die Situation gebunden, ist spontane und instinktive Reaktion auf den Kontext. Tiersprache ist Lockruf oder Warnruf. Tierische Kommunikation ist stark formalisiert und kann nur eine begrenzte Zahl von Tatsachen über ein äußerst eingeschränktes Themenspektrum mitteilen. Kein Affe kann Sätze bilden, die mehr als zwei oder drei Wörter haben.

Das Laut-Signal „Leopard" hat für Menschen dagegen alleine noch keine festgelegte Bedeutung. Es kann ein Warnruf sein, ein Hinweis, ein Wort einer Aufzahlung von gefährlichen Tieren, eine Antwort auf eine Frage, was für ein Muster ein Kleid hat. Lautäußerungen bei sozialen Tieren zeigen - meist verbunden mit Mimik - den emotionalen Zustand des Lautgebers an.

Über die Ursprünge der Sprache als höhere Form des Kraulens

Wie kam es dazu, dass eine besondere Primatenart eine unvergleichbare Sprachfähigkeit entwickelt hat? Der Psychologe Robin Dunbar hat eine Hypothese entwickelt, nach der Sprachlaute in den größer werdenden Affenhorden dieselbe Funktion hatten wie das Kraulen in kleineren Horden: Gemeinsame Laute festigen Gemeinschaft. Wenn Fußball-Fans in Gruppen durch eine Stadt ziehen, sieht man, dass das heute noch funktioniert.

GroomingZwei Affen kraulen sich, wenn es zum Beispiel Streit zwischen zwei Tieren innerhalb der Gruppe gibt. Es kommt vor, dass eines der am Streit beteiligten Tiere ein drittes krault, um  gewissermaßen um Unterstützung zu werben, oder ein drittes Tier krault  einen der involvierten Affen, um ihm seine Unterstützung anzubieten. Das Kraulen kann auch eine Geste sein, um Versöhnung anzubieten. Situationsbedingt hat das Kraulen ein differenziertes soziales Kommunikationspotenzial – aber nur unter Tieren, die sich gut kennen. Affen verbringen rund 20 Prozent ihrer wachen Zeit damit.
Solche Kommunikationsmittel reichen für große Gruppen nicht. Dunbar verweist darauf, dass die Sprachentwicklung von Evolutionsbiologen für den Zeitraum angesetzt wird, in dem überlebensfähige Homo-sapiens-Gruppen auf rund 150 Individuen anwuchsen. Nur solche Großverbände konnten aus Afrika auswandern. Solche Großverbände muss man sich als Dachverband von Familien vorstellen, wie sie der Evolutionsbiologe Jared Diamond beschreibt: Bei den Fayu, einem indigenen Volk Westguineas zum Beispiel, lebten kleinere Familienverbände „weit verstreut in den Sümpfen und trafen sich nur ein- oder zweimal jährlich in größerem Kreis zum Brauttausch. (…) Für die Fayu ist das ein seltenes, Furcht erregendes Ereignis. Mörder stehen plötzlich den Verwandten ihrer Opfer gegenüber. So erkannte ein männlicher Fayu den Mann, der seinen Vater umgebracht hatte. (...) Andere Männer tauschten hier und da wütende Beschimpfungen aus und hämmerten mit ihren Äxten auf den Boden. Während der gesamten mehrtägigen Versammlung blieb die Atmosphäre spannungsgeladen …“
Die gestischen und stimmlichen Kommunikationsmittel kleinerer Gruppen reichen nicht aus, um solche Situationen zu bestehen. Emotionen, die sonst als unmittelbar wirkende Handlungsantriebe wirken, müssen kommunikativ eingefangen und gebändigt werden. Das gelingt nur durch Gruppenrituale und dadurch, dass Emotionen als Elemente einer hypothetischen Situation angesprochen und kommunikativ kontrolliert werden.

Ein ziemlich unauffälliges Tier

Die Erfolgsgeschichte des homo sapiens begann vor rund 70.000 Jahren. „Ein ziemlich unauffälliges Tier“ muss das noch gewesen sein, konstatiert der Historiker Yuval Noah Harari: „Diese Menschen liebten, stritten, zogen ihren Nachwuchs auf und erfanden Werkzeuge - genau wie die Schimpansen.“ Was die Arten der Gattung „homo“ von anderen unterschied, war vor allem das vergleichsweise große Gehirn – ein außerordentlich energieintensives Körperteil. Drei Prozent des Körpergewichts macht es aus und verbraucht 25 Prozent der Körperenergie. Wofür hat die Evolution sich das geleistet? Wo lag der Nutzen? Wie konnte dieses Gehirn zum Erfolgsgeheimnis dieser Gattung der Menschenaffen werden?

Der homo sapiens kannte und beherrschte das Feuer, er hatte gelernt, dauerhaft aufrecht zu gehen. Vor allem aber auf seine Kommunikationsfähigkeit gründeten sich die Besonderheiten, die es ihm erlaubten, die kulturellen Mittel zur Beherrschung der Welt zu entwickeln.

Wobei die Anfänge der Sprache vermutlich dem heutigen Kulturmenschen als ein grober Singsang erscheinen würden. Schon die Neandertaler haben offenbar so kommuniziert, so jedenfalls Steven Mithen – und alle Theorien, dass die Vorteile der Sprache sich zunächst bei der Beherrschung der Werkzeuge oder bei der Orientierung bei der Jagd bewiesen hätten, werden dadurch infrage gestellt. Zeigegesten waren bin in die europäische Neuzeit hinein noch weitaus präziser als die Möglichkeiten der Sprache, noch Handwerker-Lehrjungen bekommen gezeigt, wie es geht. Und Tiere jagen mühelos gemeinsam mit einem begrenzten Vorrat an Lauten.

Eine ausgebildete Sprachfähigkeit wird für den Menschen erst für die Zeit seit etwa 35.000 Jahren angenommen, die Anfänge liegen eher im „Grunzen“. Nach einer verbreiteten Annahme hat das Grunzen und Singen der frühen Menschen vor allem den gruppendynamischen Kitt für größere Horden gebildet. Noch heute stärken Gruppen über das gemeinsame Singen ihr Gruppengefühl – insbesondere auch in Situationen der Gefahr. Noch heute nutzt der Mensch seine Sprachfähigkeit weitaus mehr für Klatsch und Tratsch als für den Austausch sachlicher Informationen. Komplexe konditionale und zeitliche Strukturen nach der Art: Gestern sind unten am Fluss Löwen vorbeigezogen, die könnten heute Mittag wieder kommen“ konnten die Menschen vor 30.000 Jahren nicht sprachlich ausdrücken – dazu fehlte ihnen die griechisch-lateinische Logik und Grammatik.

Der homo sapiens war ein körperlich schwaches Tier, sein Erfolg beruhte auf der Fähigkeit, in Gruppen flexibel zusammenzuarbeiten. Und Gruppenstrukturen sind komplexe soziale Gebilde. Da ist es wichtig zu wissen, „wer in der Gruppe wen nicht leiden kann, wer mit wem schläft, wer ehrlich ist und wer andere beklaut“ (Harari). Auch Affen haben großes Interesse an sozialen Gruppen-Informationen, zur Gruppenpflege setzen sie vor allem das Kraulen ein, das aber nur kleinere Gemeinschaften zusammenhalten kann. Nach dem englischen Psychologen Robin I. M. Dunbar dürften die Ursprünge der Sprache eine Art „Wortkraulen“ gewesen sein.

Gemeinsame Musik kann ein Gruppengefühl herstellen, aber nur Sprache ermöglicht den Austausch komplexer, sozial bedeutsamer Informationen in großen Verbänden. Solche Großverbände müssen sich ihrer sozialen Normen versichern. Vor allem Verstöße gegen Normen sind ein beliebtes Thema für kommunikativen Austausch – die unverbindlichste Form des Austausches darüber nennen wir „Klatsch und Tratsch“. Sprache ermöglicht den Informationsaustausch über einen anderen Menschen – nicht jeder muss sein Verhalten von neuem selbst erkunden. (Affen können das nur durch eigene unmittelbare eigene Beobachtung.) Der kommunikative Austausch von Verhaltensinformationen ermöglicht es, dass alle Mitglieder der Gruppe an den Beobachtungen jedes Einzelnen teilhaben können und zwingt jeden Einzelnen, die gemeinsamen Normen zu respektieren und die Verhaltensnormen so zu sehen, wie alle sie sehen. Sprache vereinheitlicht die Überzeugungen einer Gemeinschaft. Dazu gehört ein Empfinden für das Funktionieren fremder Gemüter („Theory of mind“), das nicht unbedingt die Möglichkeit differenzierter sprachlicher Beschreibung einschließt. Je größer Kopf (und Gehirn) werden, desto früher müssen Kinder geboren werden -  und umso größer muss der Anteil an kulturell erworbenen Überlebens-Techniken werden im Verhältnis zu dem angeborenen, instinktiven Verhaltensrepertoire. Schon der aufrechte Gang muss gelernt werden.

Komplexe Sprache für komplexe Sachbezüge

Die Erfordernisse einer personenbezogenen Gruppen-Kommunikation allein können nicht erklären, warum die ursprüngliche „Proto-Sprache“ sich weiterentwickeln musste zu einem komplexen Werkzeug zur Realitätsbewältigung. Eine entwickelte Sprache ermöglicht es, Emotionen und Informationen zu kommunizieren und zwar unabhängig von aktuellen Handlungssituationen - Situationen, zu denen keine sinnliche Verbindung besteht und die nicht mehr zugänglich für Zeigehandlungen sindDie akustischen Sprachzeichen ermöglichen es, die Bindung an das Hier und Jetzt aufzuheben und über Nichtanwesendes zu kommunizieren, über Entferntes, Vergangenes, Zukünftiges, schließlich auch über Phantasien und über Abstraktionen. Die entwickelte Sprache ist die Grundlage für die Konstruktion bedingt wahrer Aussagen von der Art: „X glaubt, dass ...“. Das, was X glaubt, kann also wahr sein  - oder auch nicht. Solche hypothetischen Realitätskonstruktionen treten neben die unmittelbaren Realitätswahrnehmungen und verlangen eine komplexe kognitiven Verarbeitung. So ist die Entwicklung der Sprachzeichen die Voraussetzung für die Konstruktion einer „stabilen zweiten Wirklichkeit der Vorstellungen“, die wir Kultur nennen.

Insbesondere wurden die Möglichkeiten der Sprache, eine zweite Wirklichkeit zu schaffen, auch für die Produktion gruppendynamisch relevanter Mythen gebraucht - kein Herrscher über größere Gruppen kam aus ohne einen Fundus großer Phantasie-Geschichten.

Eine entwickelte Sprache ist dadurch gekennzeichnet, dass sie es ermöglicht, Emotionen und Informationen zu kommunizieren und zwar unabhängig von aktuellen Handlungssituationen. Solche Situationen, zu denen keine sinnliche Verbindung besteht, sind nicht mehr zugänglich für ZeigehandlungenDie Sprachzeichen ermöglichen es, die Bindung an das Hier und Jetzt aufzuheben und über Nichtanwesendes zu kommunizieren, über Entferntes, Vergangenes, Zukünftiges, schließlich auch über Phantasien und über Abstraktionen. Die Sprache ist die Grundlage für die Konstruktion bedingt wahrer Aussagen von der Art: „X glaubt, dass ...“. Das, was X glaubt, kann also wahr sein  - oder auch nicht. Solche hypothetischen Realitätskonstruktionen treten neben die unmittelbaren Realitätswahrnehmungen und verlangen eine komplexe kognitiven Verarbeitung. So ist die Entwicklung der Sprachzeichen die Voraussetzung für die Konstruktion einer „stabilen zweiten Wirklichkeit der Vorstellungen“, die wir Kultur nennen.

Die Mittel der Sprache, um komplexere Sachbezüge symbolisch zu verwalten und Wissen zu vergegenständlichen, werden umso nützlicher, je komplexer die sozialen Organisationsformen und die Arbeitsabläufe sind, die koordiniert, geplant und verwaltet werden müssen.
Mit dem Entstehen von Landwirtschaft vor etwa 10.000 Jahren mussten die Menschen nicht nur in Dörfern auf engem Raum zusammenleben lernen, sondern auch landwirtschaftliche Planungsprozesse mit einer neuen Zukunfts-Dimension organisieren. Wer den Acker für die zukünftige Ernte bestellen und Saatgut beiseite legen will, muss komplexe Situationen geistig beherrschen.
Der Bau großer Tempelanlagen wie die in Göbekli Tepe (rund 10.000 v.u.Z.) erfordert  wie der spätere Pyramidenbau die koordinierte Kooperation von tausenden von Menschen über Jahre, und er erfordert die Nutzung von größeren Werkzeugen und Kraftanstrengungen, für die man Tiere domestizieren muss. Solche Planungsprozesse müssen vergegenständlicht gedacht und in Großgruppen abgestimmt werden. Kulturelles Wissen muss weitergegeben werden, damit sich über Generationen ein Erfahrungs-Schatz aufbauen kann. Diese Akkumulation von Erfahrung setzt differenzierte sprachliche Kommunikation voraus. Insbesondere wurden die Möglichkeiten der Sprache, eine zweite Wirklichkeit zu schaffen, aber für die Produktion gruppendynamisch relevanter Mythen gebraucht - kein Herrscher über größere Gruppen kam aus ohne einen Fundus großer kultureller Erzählungen.  (siehe „Mythen denken” - M-G-Link)

Mythen als elaborierte Form von Klatsch und Tratsch

Die archaischen Mythen sind die elaborierte Form von Klatsch und Tratsch. Insbesondere wurden die Möglichkeiten der Sprache, eine zweite Wirklichkeit zu schaffen, auch für die Produktion gruppendynamisch relevanter Mythen gebraucht - kein Herrscher über größere Gruppen kam aus ohne einen Fundus großer Phantasie-Geschichten.

„Ameisen und Bienen arbeiten zwar auch in großen Gruppen zusammen, doch sie spulen starre Programme ab und kooperieren nur mit ihren Geschwistern. Schimpansen sind flexibler als Ameisen, doch auch sie arbeiten nur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen, die sie gut kennen.“ (Hariri) Anders als die „Sprache“ der Bienen oder Ameisen ist die menschliche Laut-Sprache dabei nicht biologisch fixiert, sondern höchst flexibel einsetzbar. Und dies ist nach der Hypothese von Harari die Voraussetzung für die kommunikative Formung von Gruppen, die mehr als 150 Individuen umfassen.

Für den Warnruf „Achtung Löwe!“ reichen das, was Schimpansen können, aber die frühen Figuren etwa des Löwenmenschen geben einen Hinweis darauf, dass diese Menschen sich Löwen als Schutzgeister vorstellen konnten. Wo auch immer hunderte von Menschen zusammenlebten, hinterließen sie den Archäologen monumentale Bauwerke, mit denen ihre mythischen Götter versinnbildlicht wurden. Der Glaube an die Mythen schweißt die Gemeinschaft zusammen, für ihre Götter bringen große Gemeinschaften große Opfer. Niemand kann einen Affen dazu bringen, eine Banane abzugeben, wenn man ihm dafür einen Affenhimmel ausmalen und grenzenlose Bananenschätze nach dem Tod versprechen würde. Für den denkenden Menschen ist ein solches Verhalten eine Selbstverständlichkeit in allen frühen Kulturen.

Die kognitiven Fähigkeiten, die die Sprache ermöglichte, verwendeten die archaischen Menschen darauf, über fiktive Sinneshorizonte zu spekulieren. Sprache wird zum Kommunikationsmittel für das, was man nicht zeigen kann, für gedankliche Fiktionen, die größer sind als das empirische Vorstellungsvermögen und die daher in Kunstgebilden vorstellbar gemacht werden. Große Gruppen sind Gemeinschaften wildfremder Menschen. Gruppen haben ihre jeweiligen eigenen Stammesgötter, die sie zusammenschweißen, und zwei Gruppen wirklich vereinen will, muss ihre Götterwelt vereinen. Der Sturz der Götterdenkmäler war von Moses bis Mohammed das Zeichen für vereinende Herrschaftsansprüche. Nur mit Mythen lassen sich beliebig große Gemeinschaften zusammenschweißen. Die sprachlich kommunizierten Mythen der Menschen können die Grundlage dafür schaffen, dass Zehntausende sich als Mitglieder eines großen „Reiches“ empfinden. Die großen Mythen funktionieren noch heute als große Herrschafts-Erzählungen - abweichende Mythen, volkstümliche oder konkurrierende, werden als „häretisch” abgestempelt, Häretiker werden verfemt, verfolgt und notfalls verbrannt mit ihren Büchern. 

Die Erfindung dieser Fähigkeit, mit ihrer Sprache Mythen zu denken und als Gemeinschafts-Idee zu kommunizieren, nennt Harari die „kognitive Revolution“ des homo sapiens. Die Größe der bewegten Steinmassen sollte schon vor tausenden von Jahren neben der Macht des Herrschers auch die Größe des Mythos dokumentieren – das war bei den christlichen Kathedralen des Mittelalters noch so und zeigt sich heute in den Hochhaus-Türmen der Banken. Die antike Stadt, die mittelalterlichen Kirche oder der moderne Nationalstaat wurzeln in Geschichten, die nur als kollektive Vorstellungswelt in den Köpfen der Menschen existieren, erklärt Harari: „Zwei Katholiken, die einander nie zuvor begegnet sind, verstehen einander ohne lange Erklärungen, weil beide glauben, dass es einen Gott gibt, der seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, und dass dieser sich kreuzigen ließ, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen.“ Und da solche Geschichten durch körperlich spürbare Rituale glaubwürdiger werden, kommen Priester mit heiligen Gewändern und geweihten Gerätschaften, um im richtigen Moment des eingeführten Rituals die Oblate zu reichen und dazu die Formel  „Hoc est corpus meum!“ zu sprechen, dies ist mein Körper. Nach der katholischen Lehre wird dadurch das Brot zu Fleisch, „Hokuspokus“ spotten Ungläubige. Und solange viele daran glauben, hat die sprachlich erfundene Wirklichkeit reale Macht. Wer die Wirklichkeit der Gemeinschaft verändern will, muss die alten Sprach-Geschichten durch eine neue ersetzen.

 

    vgl. zum Thema
    Über die Ursprünge von Sprache und Musik 
    M-G-Link
    Was ist Sprache?    M-G-Link
    Sprache Denken    M-G-Link

    Zum Thema der „zweiten Wirklichkeit“ siehe auch meine zusammenfassenden Texte
    „Bigger than life“ - Mammutjäger vor der Glotze      M-G-Link
    Kommunikation konstruiert Wirklichkeitsbewusstsein      M-G-Link

    Literatur u.a.:
    Birgit Althans,  Der Klatsch, die Frauen und das Sprechen bei der Arbeit (2000)
    Robin Dunbar, Klatsch und Tratsch. Wie der Mensch zur Sprache fand  (1998)
    Jan Dönges, Mensch, du alte Plaudertasche!    http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/963209
    Karl Eibl, Animal Poeta. Bausteine einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie (2004)
    Yuval Noah Harari, Kurze Geschichte der Menschheit (dt. 2013)
    Steven Mithen, The Singing Neanderthals: The Origins of Music, Language, Mind and Body  (2012)
    Clemens Schwender, Medien und Emotionen. Evolutionspsychologische Bausteine einer Medientheorie (20062)