Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

Cover POP1

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

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Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Altägyptische Kultur des Erkennens

Wie haben die alten Ägypter gedacht und die Welt wahrgenommen?
„Aspektive” hat die Ägyptologin Emma Brunner-Traut diese Art der Wahrnehmung genannt -
in Abgrenzung zur „perspektivischen” Wahrnehmung.
Sie findet dieses vorgriechische Wahrnehmen in der Kunst, in der Mathematik, in der Sprache und dem mythischen Denken der Hochkultur Ägyptens.
Diese „para-taktische” Struktur findet sich in der Erzählweise von Kindern wie auch in den Ratschlägen für eine gute Rhetorik - offenbar entspricht sie der Arbeitsweise des Verstandes

2016

Wie haben Menschen in der „vorgriechischen“ Zeit ihre Wirklichkeit wahrgenommen? Die Ägyptologin Emma Brunner-Traut hat die besondere Form des Erkennens bei vorgriechischen Hochkulturen unter dem Begriff der „Aspektive“ zusammengefasst. Aspektive bezeichnet die para-taktische Sicht auf die Dinge, die durch ein schrittweises Erfassen gekennzeichnet ist. Das Objekt der Wahrnehmung wird nicht als ein Ganzes einheitlich-überschauend visuell wahrgenommen und erkennend bezeichnet, sondern in einem Nacheinander der Einzelteile be-griffen. Erst das klassische griechische Denken kennt komplexe multilaterale Beschreibungen. Alle Bereiche der altägyptischen Kultur sind gekennzeichnet von dem schrittweise-additiven Erkennen, das die Beziehungen der Elemente bilateral begreift.

Die „aspektivische“ Sprache bevorzugt para-taktische Satzbildungen, sie reiht aneinander und konditioniert nicht. Die Nominalsätze schaffen ein schwebendes zeitliches Verhältnis zwischen Sprecher und Aussage, die temporalen Differenzierungsmöglichkeiten sind sprachlich schwach entwickelt.
So hatte die altgriechische Sprache ursprünglich kein Wort für „Landschaft“, mit dem das, was dem Betrachter vor Augen steht, als Einheit bezeichnet worden wäre. Man sah „Bäume und Felsen“, also die greifbaren Gegenstände. Dem Wort „Landschaft“ entspricht eine perspektivische Sichtweise. 
Es gab im alten Ägypten keinen übergeordneten Begriff „Tier“. Im Unterschied zu den unbeweglichen Gegenständen gab es gab Tiere der Luft, der Erde und des Wassers, also das, was von selbst kreucht, fleucht oder schwimmt: „Wie es die Sinne erfahren, so bündelt es der Geist.“ (Brunner-Traut)

Die alten Ägypter hatten verschiedene Kalender für verschiedene Zwecke, sie funktionierten nebeneinander wie die verschiedenen Einheiten für Maße und Gewichte je nach Kontext oder Zunft.

Die additive Form des Denkens zeigt sich in den Versuchen, die Gegenstände in eine gedankliche Ordnung zu bringen – die Ägypter kannten Listen, mit denen sie einzelne Gegenstände erfassten und nach praktischen Gesichtspunkten sortierten. Lebewesen wurden so nach Kleinvieh, Großvieh, Vögeln, Fischen und Gewürm gelistet. Steuer wurden bezahlt nach Getreide, Rinder, Kupfer, Silber und Gold; Handwerker wurden entlohnt mit Brot und Bier. Für Feigen gab es ein anderes Hohlmaß als für Datteln. Hohlmaße gab es als „Sack", für Längen gab es die „Elle“, für Handwerker war es der „Stiel" einer Hacke – rund 65 Zentimeter. Die Maßstäbe waren praktisch und brauchbar. Sie waren nicht einheitlich, nicht logisch vergleichbar, daran störte sich niemand. 

Die Mathematik war von der einfachen Addition bestimmt, selbst der Inhalt des Pyramidenstumpfes wurde schrittweise-addierend berechnet.

Geschichte ist in ägyptischen Erzählungen nicht Entwicklung, nicht Fortschritt. Einzelereignisse stehen als selbständige Größen nebeneinander und werden anekdotisch aneinandergereiht, Gliederungsprinzip sind die Regierungszeiten der Herrscher.  Wie Tag und Nacht oder die Jahreszeiten fügten sich die Ereignisse, sie wurden nicht unter einem großen Bogen wahrgenommen. Das kennzeichnet erst später zum Beispiel die Erzählung der israelitischen Heilsgeschichte.

Auch im Mythos erscheinen die Motive und Bilder nebeneinander, die Götter haben je nach funktionalem und rituellem Kontext unterschiedliche Namen, unterschiedliche Erscheinungsform und Funktionen. Der Heilzauber sollte vor Krankheit, bösen Geistern und gefährlichen Tieren beschützen, dazu wurden gefährliche Tiere wie Schlangen, Skorpione oder Löwen als Gegenzauber benutzt, und die magischen Texte bestehen aus aneinander gereihten magischen Formeln. Es gab offenbar kein Bedürfnis der logischen Vereinheitlichung, das Nebeneinander entsprach dem gewohnten Denken, in den Mythen artikulierten sich Empfindungen der Angst und Ohnmacht und Bedürfnisse und Phantasien der Geborgenheit. Es gibt nicht einen abstrakten „ganz anderen“ Gott, sondern viele Götter, denen sich Menschen nahe fühlen und mit denen sie gedanklich spielen. Neue Götter neuer Völker sind neue Mitspieler, sie konnten angefügt werden, sie mussten sich nicht einem logischen „Gesamtbild“ des Mythos unterwerfen. Der mythische Mensch sieht keine Widersprüche.

Die in flachbildlichen Plastiken dargestellten Objekte haben eine konstante Form, wenn man sie greift, und so werden sie begriffen. In der ägyptischen Kunst erscheint der Körper nicht als organische Einheit, sondern als Nebeneinander seiner einzelnen Teile. 

Der Übergang zur neuen griechische Wahrnehmung

Die späteren griechischen Plastiken, die hintere Elemente kleiner darstellen als vordere, folgen dem Augen-Blick, schaffen eine Sehbild-Wirklichkeit und sie geben eine falsche Auskunft, wenn man sie mit der Hand be-greifen will. Denn die einzelnen Teile sind verzerrt oder verkürzt, nur das visuell wahrgenommene Ganze entspricht als Bildganzes unserer optischen Wahrnehmung. In Platons Philosophie konnten diese optischen Wahrnehmungs-Gestalten daher als falscher Schein interpretiert werden und demonstrierten die Subjektivität der sinnlichen Wahrnehmung. Denn Perspektive ist eine Darstellungsform, die die Illusion einer dreidimensionalen Raumtiefe schaffen soll. Perspektive trügt, Bilder sind Trug-Bilder, so folgerte Platon.

Hieroglyphen am Amun-Tempel

Hieroglyphen
am Amun-Tempel
in Karnak - Luxor
 

Die Erfindung der Schrift ist eine der großen geistigen Leistungen der alten Ägypter. Schrift setzte voraus, dass das kontinuierliche Band der Sprach-Laute in Bildelementen visualisiert wurde. Das griechische Wort hieroglypica bedeutet „heiliges Schnitzwerk“. Die Ägypter betrachteten die Schriftzeichen im religiösen Kontext als „Wörter Gottes“, sie verehrten den Gott Toth als „Gott der Schrift".

Die „Alten Ägypter und ihre Geistesverwandten“, so fasst Brunner-Traut zusammen, dachten „logisch im Sinne von einlinig richtig in Bezug auf nachbarliche Daten“.

Erst bei der Übertragung auf die Fremde griechischen Sprachlaute ging der Zusammenhang von Bildelementen und Bildworten verloren. Die Alphabetschrift benutzt die Zeichen für reine Lautwerte.

Aristoteles beschrieb dann auch ein logisches Denken, das unabhängig vom realen Gegenstand für alle Operationen rationale Argumente fordert und Verknüpfungen und einen gemeinsamen Ausgangs- und Bezugspunkt schafft. Da war das Verhältnis zum Mythos „gebrochen", wie Paul Tillich in „Mythus und Mythologie“ (1930) formuliert. Das Denken der Aspektive hatte den kleinen pragmatischen Realitätszugang eines mythischen Bewusstseins organisiert, dem die magisch-göttlichen Kräfte als real in Raum und Zeit erschienen und in dem damit die großen Fragen der Existenz hinreichend verortet waren.
Das rational-logische Denken und seine Sprache lernen Kinder nicht bei-„läufig” im Haushalt, sondern in der Schule - durch Unterweisung. Paidagogía war im klassischen Griechenland die Kunst, einen Knaben zu unterweisen und zu einem Freund der Weisheit zu heranbilden - philos sophia. In der mythischen Zeit war sophia der Name der Göttin der Lebensklugheit gewesen, im klassischen Griechenland wurde daraus die Kunst, profane Antworten auf neu gestellte Sinnfragen zu finden.

    siehe zu dem Themenkomplex auch meine Texte

    Schrift-Denken: Phonetische Schrift und die Ursprünge des griechischen Denkens   M-G-Link
    Die Erfindung der Hieroglyphen oder: Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten  M-G-Link
    Das mythisch tickende, phantastische Gehirn    M-G-Link

    Kultgeschichte des Geschnitzten, Geritzten und Gemalten  MG-Link
    Das oral-visuelle Selbst  MG-Link
    Orale Kulturen - Sprache und kulturelles Gedächtnis vor der Schrift  MG-Link

    Lit.:
    Emma Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens - am Beispiel Altägyptens (1990)