Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

aus: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt (2009)
  Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Seiten 80 ff


Globales Nachrichtenwesen, Telegrafie

Zu den Merkmalen der Presse im 19. Jahrhundert gehört die Globalität ihrer führenden Organe. Die großen Zeitungen fühlten sich für Nachrichten „aus aller Welt“ zuständig, ja umgekehrt: Man gehörte erst dann zum Kreis der Großen, wenn man solche Nachrichten anzubieten vermochte.
Ein neuer Typus des Journalisten war der Auslandskorrespondent. Er war anfangs vom Kriegsberichterstatter kaum zu trennen. Der erste Reporter, der von Schauplatz zu Schauplatz eilte, um dem heimischen Leser von Aufständen, Belagerungen und Feldschlachten zu berichten, war William Howard Russell, der Kriegsberichterstatter der Londoner Times. Er vermittelte dem Publikum Eindrücke aus Indien, Südafrika und Ägypten, aus dem Krimkrieg, dem Amerikanischen Bürgerkrieg und vom Deutschfranzösischen Krieg 1871. Russell, ganz und gar kein Militarist und keineswegs ein Freund imperialistischer Aktionen, führte das Genre des Kriegsberichts sogleich auf eine literarische Höhe, die selten wieder erreicht wurde. Der von ihm geschaffene Reportertypus blieb, und die Times kultivierte ihn in besonderem Maße. Als Russell seine Karriere begann, musste er seine Meldungen noch per Post verschicken.

Die Verkabelung der Welt durch Telegraphenleitungen änderte dann innerhalb eines Vierteljahrhunderts die Bedingungen der Nachrichtenübermittlung aus der Ferne. Seit 1844 war die elektrische Überlandtelegraphie im Gebrauch. 1851 wurde das erste dauerhaft funktionstüchtige Unterseekabel durch den Ärmelkanal verlegt, 1866 eine permanente Verbindung über den Nordatlantik hergestellt. 1862 hatte das landgestützte Telegraphennetz weltweit bereits eine Länge von 150.000 Meilen erreichte, 1876 waren Indien und sämtliche Siedlungskolonien des britischen Weltreichs mit der Metropole und untereinander durch Telegraphenleitungen verbunden. 1885 war Europa von nahezu allen großen Städten in Übersee per Kabel erreichbar. Der Telegraphenverkehr war viel zu schwerfällig, überlastungsgefährdet und teuer (1898 gab die Times 15 Prozent ihres Jahreserlöses für Telegraphiegebühren aus), um schon als ein „viktorianisches Internet“ bezeichnet werden zu können, aber zumindest die Grundmuster eines historisch beispiellosen world wide web waren gelegt. Es war viel stärker zentralisiert als das heutige Internet. Die Telegraphenleitungen und ebenso die finanziellen Fäden eines weltweiten Kabelgeschäfts, das stärker den Bedürfnissen des Handels als denen der Presse diente, liefen in London zusammen. Die neue Technologie bildete die Grundlage für die Arbeit der Nachrichtenagenturen.

Julius Reuter, ein geborener Kasseler, eröffnete sein Büro in London in eben jenem Jahr 1851, als die Transmissionszeit über den Kanal auf wenige Stunden verkürzt wurde. Zwei andere jüdische Unternehmer hatten zuvor bereits Nachrichtenagenturen oder „Telegraphenbureaus“ gegründet: Charles Havas in Paris und Bernhard Wolff in Berlin; in den USA entstand 1848 „Associated Press“ (AP). Die Agenturen versorgten Zeitungen, aber auch Regierungen und individuelle Privatkunden, darunter seit 1865 Queen Victoria, mit Neuigkeiten. Reuter war so erfolgreich, dass er, der Nobody aus Deutschland, schon 1860 der englischen Königin vorgestellt wurde. Der Krimkrieg (1853—56) war das letzte große internationale Ereignis, über das nicht primär per Kabel berichtet wurde. Reuters Firma war unter den Agenturen die einzige mit globaler Reichweite. Bis 1861 hatte sie ein Netz von Korrespondenten aufgebaut, das ganz Europa sowie Indien, China, Australien, Neuseeland und Südafrika umfasste. Wo noch keine Telegraphenverbindung bestand, half sich die Agentur mit Eilpost per Dampfer. Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861—65) wurde von Anfang bis Ende durch Reuters Korrespondenten für europäische Leser beobachtet. Zunehmend brachten die Agenturen auch Berichte aus den Welten der Wissenschaft, der Künste und des Sports. In dem Maße, in dem Julius Reuter sein Nachrichtenimperium ausbaute, wurde seine Agentur zu einer „Institution des British Empire“. Die Nachrichtenagenturen trugen zur Globalisierung der Gewinnung und Verbreitung von Nachrichten bei, die sie selbst unkommentiert ließen: Sie waren ein machtvoller Ausdruck einer Ideologie der „Objektivität“. Auf der anderen Seite förderten sie durch die Vereinheitlichung der Berichterstattung einen Einheitsjournalismus, denn in allen Zeitungen stand nun im Prinzip dasselbe. Nur wenige große Zeitungen, an der Spitze die Londoner Times, zogen eigene Netze von Auslandskorrespondenten auf und verminderten damit ihre Abhängigkeit von den Agenturen. Die Times machte es sich zum Prinzip, zumindest alle imperialen Interessen Großbritanniens mit eigenen Mitteln abzudecken.