Vor Gutenberg - „Verschriftlichungsrevolution” als Vorbereitung des Buchdrucks
2-2016
I Die engen Grenzen der klerikalen und höfischen Schriftkultur
Das Mittelalter kannte im merowingisch-karolingischen Sprachraum keine einheitliche Verkehrssprache. Wer zum Beispiel als wandernder Prediger in verschiedenen Dialekt-Gebieten verstanden werden wollte, behalf sich bisweilen mit einer „Dialekt-Addition“, d.h. reihte zwei Worte, die in verschiedenen Dialekten dasselbe meinten, aneinander.
Latein war die Universalsprache des mittelalterlichen Europa. In der Antike hatte sich bei der Expansion des römischen Reichs das Latein als Verwaltungssprache in den unterworfenen Ländern verbreitet, es war später die Sprache der späteren christlichen Missionierung, blieb die Sprache der Kirche. Und es blieb die Sprache der Gelehrten „litterati“ auch dann noch, als das kirchliche Bildungsmonopol durch die Gründung profaner Universitäten und auch städtischer Bürgerschulen langsam aufweichte. Martin Luther schrieb bis 1515 ausschließlich Latein.
Die fränkischen Mundarten wurden in schriftlichen Texten nur verwendet, wenn es um Missionierung und geistliche Unterweisung des Volkes ging. Texte aus althochdeutscher und frühmittelhochdeutscher Zeit sind so durchweg klar einer Mundart zuordnen.
Der fränkische (merowingisch-karolingische) Sprachraum umfasste neben dem östlichen Reichsteil auch die westlichen Teile des heutigen Frankreich, wo sich auf der Basis des Lateinischen die gallo-romanische Sprache, das spätere Altfranzösisch herausbildete. An den Fürstenhöfen gab es das Bedürfnis, die eigene Sprache von den anderen (dem Galloromanischen und Lateinischen) abzusetzen und zu charakterisieren. Dazu gebrauchte man das Wort theudisk/diutisk. Es leitet sich ab von dem Substantiv theoda = „Volk", „Stamm". Theudisk bedeutet also soviel wie: „in der Volkssprache". In der Politik Karls des Großen wurde der Begriff zum „Programmwort": In der germanischen Osthälfte seines Reiches war es das Ziel der kaiserlichen Innenpolitik, die kulturellen Gemeinsamkeiten der germanischen Stämme zu entwickeln. Die Verwandtschaft der Stämme äußerte sich in Gemeinsamkeiten ihrer Sprache - im Kontrast zum Romanischen. Land und Leute werden erst um 1100 im Mittelhochdeutschen als „diutisch“ bezeichnet.
Mit dem Aufkommen einer weltlichen höfischen Kultur (etwa am Hof der Stauferkönige) im 12. Jahrhundert begann eine neue Phase in der Sprachkultur. Adelskultur machte sich frei von der kirchlichen Kulturhegemonie. Klerikal gebildete Autoren verfassen weltliche Werke und beschreiben das Ideal einer verfeinerten, höfisch-zivilisierten Lebensform. Die „Berufsdichter“ waren mobil, sie trugen ihre Werke an verschiedenen Höfen vor und mieden schon aus diesem Grund allzu spezifische Dialektformen.
Hartmann von Aue mit seiner Technik des dialektneutralen Reims, der Ostfranke Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, der Lyriker Walther von der Vogelweide (in dessen Werken man deutliche Spuren des bairischen Dialektes findet) sowie der aus dem niederländischen Sprachgebiet stammende Heinrich von Veldeke entwickelten Ansätze für eine überregionale Sprachnorm, in der krasse mundartliche Formen gemieden werden.
Es handelte sich aber um die Sprache einer adligen Eliteschicht, eine ritterlich-höfische Standessprache, was auch im Wortschatz der überlieferten texte deutlich wird. Das mittelhochdeutsche ,arebeit' bedeutet im ritterlichen Kontext zum Beispiel keineswegs körperliche Arbeit, sondern die Mühsal beim Kampf oder im Bereich der Minne die Liebesqual. Die höfischen Romane der Zeit haben altfranzösische Vorlagen, das wird auch am Einfluss der französischen Wortbildungsmuster und Wortübernahmen deutlich. Diese Literatursprache blieb in ihrer Wirkung auf die kleine Kulturelite im Umfeld der Adelshöfe begrenzt.
II Der neue profaner Verschriftlichungs-Bedarf
Seit dem 12. Jahrhundert kam es im mittleren Europa zu einem lange andauernden wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Schrift diente überwiegend noch als Gedächtnisstütze, Übertragungsmedium und Speicher für Sprache. Der Bedarf an Schriftlichkeit wuchs wieder - in der Kirche, an den Fürstenhöfen, vor allem aber im Handel und in den Städten. Nach der Zerstörung der antiken Kultur hatte das Vorlesen einer (religiösen) Schrift viel von einer zeremoniellen Feier bekommen, etwa vergleichbar dem liturgischen Gesang. Seit dem 12. Jahrhundert wurden Bücher auch von Laien-Schreibern in Schreibwerkstätten gegen Bezahlung, z. T. auch auf Bestellung kopiert. Der wirtschaftliche Aufschwung steigerte die gesellschaftliche Bedeutung der weltlichen Kaufleute. Sie haben das Tabu gebrochen und den „Bedarf“ an mundartlichen Notizen unermesslich vergrößert. Schrift ist nicht mehr Herrschaftsinstrument der Klöster oder Kaiser, sondern wird im kaufmännischen und im Rechtsverkehr allgemeines Verständigungsmittel.
Ivan Illich beschreibt in seinem Essay „Im Weinberg des Textes“, wie das Latein ab dem 12. Jahrhundert das „Monopol" über das Alphabet verliert. Mit dem Alphabet war seit Jahrhunderten ein Werkzeug vorhanden, mit dem beliebige sprachliche Laute aufgezeichnet werden konnten, das Alphabet hatte das Potenzial, „Hunderte verschiedener Sprachen zu kodieren", aber das wurde anderthalb Jahrtausende kaum genutzt. Das Alphabet schien mit dem klassischen Latein verbunden, einer längst nicht mehr gesprochenen Sprache. „Diese Vernachlässigung einer verfügbaren Technik ist genauso auffällig wie die Vernachlässigung des Rads in präkolumbianischen Kulturen, in denen nur Götter und Spielsachen jemals auf einen Wagen gesetzt wurden", notiert Illich.
Chronisten und Notare haben im 12. Jahrhundert in größerem Ausmaße begonnen, das Alphabet aus seinem monastischen Kontext herauszunehmen und zur Aufzeichnung wirklicher Rede zu verwenden. Das Werkzeug, das vorhanden war, entfaltet sein Potential nur, wenn es sich in einem gesellschaftlichen Gebrauch als nützlich erweist. Mit Georg Elwert ist festzuhalten, dass die gesellschaftliche Einbettung des Mediums für seinen Gebrauch entscheidend ist: „Es ist nicht der Schriftgebrauch für sich, sondern es sind spezifische gesellschaftliche Institutionen (Machtverhältnisse, Verhältnisse der Produktion und des Austauschs), die ihn nutzen und so die gesellschaftlichen Transformationen erzeugen. Solche Institutionen sind z.B. die Schrift-Religion, die Herrschaftsapparate großer Reiche wie kleiner Republiken, Lehr-Institutionen und Korrespondenz-Handel.“ (in: Die gesellschaftliche Einbettung von Schriftgebrauch) Schriftgebrauch „für sich“ gibt es aber gar nicht, wenn er nicht in spezifischer Form gesellschaftlich genutzt wird.
Nach der Zerstörung der antiken Kultur hatte das Vorlesen einer (religiösen) Schrift viel von einer zeremoniellen Feier bekommen, etwa vergleichbar dem liturgischen Gesang. Erst mit der profanen Verwendung von schriftlichen Dokumenten im 12. und 13. Jahrhundert hat sich in Europa die Idee durchgesetzt, dass man mit den zwei Dutzend lateinischen Buchstaben auch beliebige Laute der gesprochenen Volkssprachen auf Pergament – und dann Papier – fixieren kann. Das war ein „universeller“ (europa-weiter) Neuanfang nach den Jahrhunderten des Mittelalters, das nur zeitlich und regional sehr begrenzte Phasen aufblühender Schriftkultur gekannt hatte. Im 12./13. Jahrhundert gab es eine lebhafte Diskussion über diesen Medienwechsel, besonders darüber, ob schriftliche Urkunden glaubwürdiger seien als menschliche Zeugen.
Neben den nützlichen Dingen wurde immer auch Unterhaltsames schriftlich fixiert. Eines der frühen Prosa-Dokumente am Beginn des 13. Jahrhunderts ist das „Lob des Mondes und der Sonne“ - ein Liebeslied des Heiligen Franziskus, in italienischer Sprache festgehalten. Die Gesänge von Dantes Aligieris (göttlicher) „Komödie“ sind ein Beispiel aus dem frühen 14. Jahrhundert dafür, wie die Motive der Straßensänger dichterisch weitergesponnen und in der italienischen Volkssprache niedergeschrieben wurden. Es sind 600 handschriftliche Exemplare erhalten, 1472 wurde die „Commedia“ erstmals gedruckt.
Das neue Material – Papier
Wichtig für die Verwendung der schriftlichen Fixierung von Vertragsinhalten war die Einführung preiswerteren Materials. Erfunden hat die Papierproduktion der 128 nach Christus gestorbene hohe kaiserliche Beamte T'sai Lun, dem die zuvor verwendeten Seidenblätter angesichts des hohen Schreibbedarfs am kaiserlichen Hof als zu knapp und teuer erschienen. Er vermischte zerstampfte Pflanzenfasern in Wasser und ließ den Brei auf einem Sieb abtropfen. Die verfilzten Fasern konnten dann als noch bearbeitungsbedürftiges Papier vom Sieb abgehoben werden. Im 8. Jahrhundert hatten die Araber die Technik der Papierherstellung von den Chinesen mitgebracht, erst 1144 entstand erste arabische Papiermühle in Europa (Spanien). 1390 war die Technik in Nürnberg angekommen. Die Einführung preiswerteren Materials war wichtig für die Verwendung der schriftlichen Fixierung von mündlich verabredeten Vertragsinhalte. Die Verschriftlichung in arabischen Zahlen ermöglichte seit dem 13. Jahrhundert ein neues mathematisches Denken, und sie ermöglichte neue Formen der Dokumentation, die nicht mehr „vorgelesen“ werden können: Der Florentiner Großkaufmann Francesco di Marco Datini (1335-1410) benutzte die doppelte Buchführung, um einen besseren Überblick über sein Handelsimperium zu bekommen. Auf dem Papier gab es Kredit - fiktive, virtuelle Äquivalente für Werte, allein durch Schrift fixiert. Neben die herrschaftliche Kommunikation der Fürsten-Boten trat die Kommunikation entlang der Handelsrouten. Der Handel knüpft kommunikative Netze durch Briefe. Schrift war nicht mehr allein Herrschaftsinstrument der Klöster oder Fürsten, sondern wurde im kaufmännischen und im Rechtsverkehr allgemeines Verständigungsmittel.
III Die Erfindung des „Textes” als Baustein für Wissensgebäude (Illich)
Leises lesen, das die Antike schon gekannt hatte, wird als kultureller Umgang mit Texten neu erfunden. Aus den aufgeschriebenen Zeichen, die als Gedächtnisstützen der oralen Kultur dienten, wird ein Text. „Geschichten, die in romanischen oder germanischen Zungen erzählt wurden, waren nach den Regeln oraler Gesellschaften aufgebaut, flossen dahin wie Wasser“, beschreibt Ivan Illich den Unterschied: „Aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende.“ Der moderne Text ist nicht mehr eine „Aufzeichnung des Sprechens", sondern eine von Gedanken. Das Gedruckte ist nicht mehr Symbol von Weisheit, sondern eine Sammlung von Wissens. Es gibt ordnende Überschriften, die Sätze bekommen Punkte. Die Interpunktionszeichen wurden immer dekorativer, aber sie beeinflussten auch maßgeblich die allgemeinen Gestaltungsgrundsätze des visuell erfassbaren Satzbildes, das nun immer mehr syntaktisch und hierarchisch gegliedert erscheint und neben der Funktion als Lesehilfe auch die Orientierung im Text erleichtert.
Die Diskussionen der „Scholastik“ um Fragen der Vernunft und des Glaubens drehten sich weitgehend um innertheologische Themen, gern karikiert als „zweckfreie Denkübungen“ etwa mit der Frage, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. Das monastische Denken entfaltete eine große Eigendynamik ohne systematischen inneren Bezug zu machtpolitischen oder praktischen Fragen. Mit ihren großen Streitfragen (Nominalismus oder Realismus; Vernunft oder Offenbarung, Willensfreiheit oder Prädestination) stritten die Scholastiker über Fragen der Logik und bereiteten das Denken der Renaissance vor. Sie setzten sich mit Aristoteles auseinander und dessen Behauptung, dass alle Erkenntnis auf das, was die Sinneswahrnehmung bemerken und der Verstand ableiten kann, gegründet werden müsse. Für die Geschichte der Schrift-Kultur ist entscheidend, dass sich mit den Scholastikern die intensive Auseinandersetzung mit Texten wieder in der christlich-europäischen Kultur verbreitete. Die Scholastiker stritten sich um Zitate – und führten zum leichteren Auffinden von Textstellen Elemente der Textgestaltung und des Layouts ein. Seit dem 13. Jahrhunderts wurde die innere Organisation von Texten visuell sichtbar gemacht – mit Hilfe von Rubriken, Absatzzeichen, Kapitelüberschriften, Kommentaren, Zusammenfassungen, Inhaltsverzeichnissen und alphabetisch geordneten Registern. An die Stelle einer wiederholenden und rezitierenden Lektüre weniger Bücher trat eine vergleichende Auseinandersetzung mit einzelnen Text-Aussagen, die Nachfrage nach Schriften stieg.
Die schriftlich festgelegten Wissensbestände waren fixiert, multiplizierbar, konservierbar, summierbar, kritisierbar und vor allem ausdeutbar. Das unterscheidet sie von der körpergebundenen Erzählungen, bei denen wiederum der Redner mit seiner ganzen Person und gesellschaftlichen Reputation für die Aussagen einstand. Die Diskussion favorisiert das neue Medium mit dem Hinweis, dass Menschen sterblich sind, Urkunden aber bleiben und die Grenzen von Raum und Zeit überwinden: verba volant, scripta manent. Die alten Deuter und Vermittler symbolischer Sinnwelten verloren ihre Überlegenheit als Träger und Bewahrer kultureller Überlieferung, junge Buchbesitzer drängten sich nach vorn und belächelten die alten Eliten. So heißt es bei Heinrich dem Teichner (um 1310 bis um 1377): „[...] man vint nu den jungen drat, der pey hundert meistern hat, und auch als vil lerer ler. der chan sich berichten mer, dann der nie chain puch gehort, alter leraer, meister wort. damit han ich daz beczewget daz der jungen chunst nu flewget, feur der alten chunst und sin. (Unter den Jüngeren findet man jetzt leicht einen, der an die hundert Gelehrte kennt und genauso viele Lehrmeinungen. Der kann sich besser unterrichten als jemand, der noch nie ein Buch gehört hat, das die Worte der der alten Meister überliefert. Damit habe ich dargetan, dass die Jungen heute die Alten mit ihrem Wissen und ihrem Können überflügeln.)
Der Prozess dauerte einige Jahrhunderte. Im 13. Jahrhundert wurde das A-B-C erstmals als Gliederung genutzt, als “erstens zweitens drittens”. Der Fluss der Gedanken wird in Schritte gegliedert, die sich analysieren und ordnen lassen - Texte sind Dokumente des Gedachten, Hilfe zum Weiter-Denken. Das ist die Zeit, in der viele der von den Griechen überkommenden Schriften wiederentdeckt wurden, das neues Verhältnis zur Schrift und zu Text machte die Gebildeten seit dem 13. Jahrhundert neugierig auf die alten Texte.
Gegliederte Gedanken sind das Gerüst des Druck-Textes, nicht mehr der Redefluss, bei dem regelmäßige Wiederholungen dem besseren Verständnis dienen. Jahrhunderte lang hatten die Abschreiber ihre Interpretation in die Schriften eingefügt, Gedanken anderer Abschreiber in ihrem geistigen Garten untergepflügt. Wie eben eine Erzählung die Geschichten anderer einbindet.
Wenn sich die neuen Autoren eines schriftlich fixierten „Textes“ auf frühere Autoren bezogen, setzen sie nunZitatstriche - bezogen sich auf sie als fremdes geistiges Eigentum. Wenn andere Werke zitiert wurden, dann um ihre Ansichten aufzunehmen und fortzuentwickeln - oder weil sie das Gegenteil dessen veranschaulichten, was der neue Autor sagen will.
Einzelne der Figuren des Textes auf der Seite werden farbig gekennzeichnet, die Schriftseite erhält eine künstlerische Form, ein Layout. Hier entsteht im 12. Jahrhundert die Grundlage für eine neue europäische Geistesverfassung, die den Faden der zerstörten antiken Schriftkultur (L) wieder aufnimmt. Erst mit dem Bezug auf Texte in dem neuen revolutionären Sinne und mit dem Interesse an dem geistige Gebäude eines wachsenden Wissens sind europäische Universitäten denkbar (1348 Prag, 1365 Wien, 1386 Heidelberg, 1388 Köln, 1392 Erfurt). In dem Jahrhundert vor der Erfindung Gutenbergs ist der Gedanke der Vervielfältigung vorbereitet worden.
Seit circa 1380 berichteten Kaufmannsbriefe neben privaten und geschäftlichen Nachrichten auch über Politik und Wissenschaft. Anfang 14. Jahrhunderts ist in dem Roman „Wilhelm von Österreich” (Johann von Würzburg) von einer Frau die Rede, die einen an sie gerichteten Brief lesen will. Um den Inhalt nicht vor den anderen preiszugeben, muss sie vor der Lektüre die anderen Personen aus dem Zimmer weisen.
Seit 1418 ging man dazu über, den steigenden Druck-Bedarf dadurch zu befriedigen, dass anstelle der teuren Metallplatten die billigeren und leichter zu bearbeitenden Holzplatten als Druckvorlagen benutzt werden. Kupferstiche gibt es seit den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts, seit 1430 auch Holzschnitte. Die Namen der Erfinder sind unbekannt, erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde es üblich, die Urheber der Drucke anzugeben. Die ersten Holzschnitte reproduzierten Heiligen- und Andachtsbilder und waren gegenüber den verbreiteten handgemalten Bildern vor allem eine preiswertere Variante. Die Drucke reproduzierten zudem in den ersten Jahrzehnten Glasfenster und Holzskulpturen - sie versuchten, eingeführte Medien zu imitieren. Die Technik der Kupferstiche und Holzschnitte entwickelte sich aus dem Handwerk der Goldschmiede, die frühen Künstler der neuen Techniken kamen ebenso aus Familien mit Goldschmied-Tradition wie Johannes Gutenberg oder Albrecht Dürer.
Die „Verschriftlichungsrevolution" des 12. Jahrhunderts schuf erst den Gegenstand, der dann 300 Jahre später gedruckt werden konnte und musste. (Illich) Dies bezog sich in erster Linie auf das Latein, die Sprache der Gebildeten. Zwar nahm die Zahl der Übersetzungen und der literarischen Texte in den Volkssprachen schon seit dem 13. Jahrhundert zu. Das Latein blieb aber die technische Sprache des abstrakten Denkens. Wenn sich in die Volkssprachen eine gewaltige Menge von oftmals notwendigen Latinismen ergoss, dann sahen die Humanisten darin die Überlegenheit des Latein bestätigt. In den Jahrzehnten zwischen 1370 und der Erfindung des Buchdrucks kam es auch zu einer neuen Blüte des Humanismus und des Latein.
Gutenberg und die Folgen
Um 1450 wird mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen metallischen Lettern durch den Mainzer (Goldschmied) Johannes Gensfleisch zur Lade - auch Johannes Gutenberg genannt - die technische Grundlage zur Verbreitung von Druckerzeugnissen in großer Auflage gelegt. Gutenberg verdient sein Geld aber nicht mit dem aufwändigen Druck der Bibel (die möglichst genauso aussehen sollten wie die Bibel-Handschriften und reichlich bebildert und per Hand farbig ausgemalt wurden), sondern mit Flugzetteln - etwa Aufrufen, sich am Kreuzzug gegen die Türken zu beteiligen. Mit Holzschnitten illustrierte Einblatt-Drucke waren die ersten populären Produkte der „Truckerey“. Der Name Flugblatt bezieht sich wahrscheinlich auf ihre schnelle Verbreitung. Die Flugschriften wurden vorgelesen und ihre Bilder gezeigt. Flugblätter waren auch schon Werbeträger und sollten auch zum Kauf anreizen. Sehr beliebt waren Abbildungen von fremden, wilden Tieren, von unbekannten Gegenständen, Ländern oder Kreaturen und Monstrositäten.
Während es 1470 insgesamt im westeuropäischen Raum 17 Druckorte gab, erhöhte sich ihre Zahl bis zum Jahr 1500 auf 252 Druckorte, von denen 62 im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lagen. In der frühen Zeit wurden vor allem Ablassbriefe, Kalender, Donaten und Bücher gedruckt. Bei den Büchern dominierten aber noch lange die Lateinischen - erst von 1680 an wurden in Deutschland insgesamt mehr deutsche als lateinische Bücher gedruckt.
In England schreibt Thomas Morus (1478-1535) sein Utopia selbstverständlich auf Latein, in Ungarn dichtet Ianus Pannonius (1443-1472), in Tschechien (Bohemia oder Moravia) macht Paulus a Gisbice (1581-1627) neue metrische Experimente in Liebesgedichten, die Polen verehren noch heute Clemens Ianicius (1516-1543) – alle diese nationalen Schriftsteller schrieben auf Latein und waren daher jedem Gebildeten in Europa zugänglich – aber eben nicht „ihrem“ Volk.
Daran änderte die Erfindung Gutenbergs zunächst einmal wenig, die Reproduktion der alten lateinischen Bücher schien sogar gegen Ende des 15. Jahrhunderts einen Sättigungspunkt erreicht zu haben. Erst mit den Flugschriften der Reformation ab 1517 erlebte die neue Drucktechnik ihren revolutionären Durchbruch. Wichtiger als die regelmäßigen Nachrichten oder die (teuren) Bücher waren diese Flugblätter. Tausende von Flugschriften mit religiösem oder/und politischem Inhalt stellten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erstmals in der Geschichte eine Gegen-Öffentlichkeit her, an der auch die einfachen Bauern teilhaben konnten (Reformation, Bauernkriege): Die neue Druckkunst wurde zur machtpolitischen Herausforderung.
Die Bedeutung des Schriftgebrauchs für die Gesellschaft ist gern in der Konfrontation zu den schriftlosen Gesellschaften der „neuen Welt“ beschrieben worden. Zum ersten Mal findet sich bei dem italienischen Gelehrten und Humanisten Petrus Martyr d'Anghiera eine Erzählung (in: De orbre novo, 1530), deren Muster immer wieder literarisch verarbeitet wurde: Der Erfahrung, dass schriftkundige „Herren“ dem Papier geheimnisvolle Bedeutung entnehmen können, wird durch eine Mystifizierung des Papiers als „sprechendem Papiers" in das eigene Weltbild integriert. Der „dumme Analphabeten", Diener oder Sklave, wird von seinem Herrn mit Waren (etwa einem Korb Obst) auf den Weg geschickt. Er soll mit den Waren einen Brief übergeben. Als er auf dem Weg in Versuchung gerät, von den waren zu nehmen, etwa von dem Obst zu essen, versteckt er den Zettel, damit der ihn nicht sieht und ihn nicht verraten kann. Umso überraschter ist er, als der Adressat der Waren ohne Umstände den Frevel durchschaut. Die Geschichte entspringt sicherlich der Phantasie der Kolonialgesellschaften, die darin ihre Überlegenheit zum Ausdruck bringen wollten; solche einfachen Funktionen von Zahl-Zeichen waren schon in der ansonsten oralen der sumerischen Kultur verbreitet, wo beim Warenhandel Zahlzeichen in Tontafeln geritzt wurden oder Kugeln in Tongefäßen eingebrannt, um solchen Betrug zu vermeiden.
siehe auch meine Texte Die Gutenberg-Medienrevolution findet erst mit der Reformation ihre „message” MG-Link Schriftkultur im Mittelalter MG-Link Schrift-Magie im christlichen Mittelalter MG-Link Pico della Mirandola - Vordenker der Renaissance MG-Link Wie die Wahrnehmung anderer „gefesselt“ wird - Giordano Bruno über Medien-Wirkung im 16.Jahrhundert MG-Link Wie der Buchdruck als neues Medium die geistige Kultur und damit die Gesellschaft verändert MG-Link Luther und die Schriftsprache MG-Link Johann Carolus - Die Geburt der Zeitung und der Selbstzensur MG-Link Der Buchdruck und das ICH MG-Link Notizen zu Humanismus und Reformation MG-Link
Lit. insbesondere Ivan Illich, Im Weinberg des Textes, Als das Schriftbild der Moderne entstand (Frankfurt 1961) Theodor Nolte, Höfische Literatur um 1200 und Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache, in: KRAH TITZMANN (2010) Medien und Kommunikation S. 93-127
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