Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
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Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

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2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
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Die Geburt der Zeitung und der Selbstzensur

Johann Carolus und sein seit 1605 in Straßburg erscheinendes wöchentliches Blatt
Relation aller fürnemmen und gedenckwürdigen Historien“ 

2019

Relation 1610Als erste gedruckte periodisch erscheinende „Zeitung“ gilt in der Mediengeschichte das seit 1605 in Straßburg erscheinende wöchentliche Nachrichtenblatt „Relation aller fürnemmen und gedenckwürdigen Historien” („Bericht von allen wichtigen und bemerkenswerten Vorfällen"). Aus dem Jahre 1609 ist ein kompletter Jahrgang erhalten.

Offenbar ist das gedruckte Blatt die Fortsetzung von handschriftlichen „wöchentlichen Avisen" vermutlich des gleichen Titels. Erhalten ist ein Ersuchen des Buchbindes und Verlagsbuchhändlers Johann Carolus an den Straßburger Magistrat vom 21. Dezember 1605, in dem er  die Stadtherren um Schutz vor Nachdruckern seiner gerade gegründeten Zeitung bittet. Der Magistrat lehnte das ab.

„Relation" aus dem Jahr 1609    

Zur Vorgeschichte der ersten periodischen Nachrichtenblätter

Unter dem Titel „Zeytung“ in der Bedeutung „Nachricht“ waren schon im frühen 16. Jahrhundert Einblatt-Drucke erschienen – unregelmäßig und aus besonderen Nachrichten-Anlässen. 1502 etwa erschien die unter dem Titel „Newe Zeytung vom orient und auff gange” ein Nachrichtenblatt, das über die Wiedereroberung der Insel Lesbos durch die Franzosen berichtet.

Newe Zeytung 1546Erhalten ist aus dem Jahre 1546 die „Newe zeytung auß Dem Niderland. Welche anzaygen die grausame vnd vnchristliche Tyranney, wider die armen Christen vmb Gotes worts willen, Auß denen man klärlich befindet, Das des Kaysers Kriegßrüstung nicht ist fürgenommen vmb etlicher Fürsten vngehorsam, Sonder das Euangelion vnd Gotteswort, vnder zutrucken, Aber Gott der do wacker ist über seinem wort, der zerstöre vnnd mach zu nicht solch fürnemen, Zu Eer seines Göttlichen Namens vnd worts, Auch zu Trost vnd besserung seines volcksNewe_Zeitung._Des_Türckischen_Keisers_Absagbrieff_1556, Amen.“

Krieg drohte, so die nach dem Muster einer Predigt abgefasste Nachricht, „uns armen Christen erschreckend“ zu hören, nachdem der türkische Kaiser es abgelehnt hatte, die Eroberungen der Habsburger in Ungarn hinzunehmen. Das berichtete ein Nachrichtenblatt 1556:  

Newe Zeitung. Des Türckischen Keisers Absagbrieff / so er newlich dem Römischen Könige ,Ferdinando / bey seinem Legaten  zugesand. Vns armen Christen erschrecklich vnd sehr erbermlich zu hören. 1556. Die türkische Drohung wird als Strafe für die Sünden verstanden, als „Vermanung an die Christen.” Darin heißt es: „HIER mag ein jeder Christ sehen vnd bedencken / die grosse Tyranney / die einem jeden widerfaren mag. Denn so wir in vnserm wilden wesen / mit sauffen / fressen / huren vnd vnchristlicher kleidung / fort faren werden / wird gewis die straffe folgen.“ 

Johann Carolus, 1605

Der Pfarrer-Sohn Carolus, geboren 1575, hatte 1599 das Straßburger Bürgerrecht durch die Heirat mit der Stiftsköchin Anna Fröhlich erworben und sich als „Buchführer" in der traditionsreichen Stadt niedergelassen. Im Juli 1604 hatte er für 3.724 Gulden Straßburgs größte und bedeutendste Verlagsdruckerei mit sieben Gesellen von den Erben des verstorbenen Thobias Jobin übernommen. Um seine Schulden zu begleichen, musste Carolus Geschäfte machen.

Vom Beginn des Jahres 1604 an lieferte er „ettlichen Herren"  gegen ein „gewiss[es] Jahrgelt" von zwölf Gulden „wöchentliche Avisen", also handschriftliche Nachrichtenübersichten.  Mittwochs traf ein Postreiter mit den handgeschriebenen Nachrichten aus Augsburg ein und einer mit Korrespondenz aus Köln ein, am Donnerstagmorgen war Carolus der erste, der die Neuigkeiten auf den Markt brachte. Die Nutzung seiner Druckmaschine ermöglichte es ihm, einen größeren Käuferkreis anzusprechen. Offenbar war eine hinreichend große Zahl von zahlungskräftigen Bürgern interessiert an Nachrichten aus dem politischen und diplomatischen Raum, ohne dass die Nachrichtenschreiber einen Zusammenhang mit den unmittelbaren Interessen der Leser herstellen mussten - es ging um das Aufspannen eines neuen „Weltbildes”.  

Offenbar war das Geschäft damit erfolgreich. Im Herbst 1609 brachte die Relation über mehrere Wochen Nachrichten vom Besuch einer türkischen Gesandtschaft am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Es ging um einen Waffenstillstand zwischen dem Osmanischen Reich und dem Kaiser. Offenbar hatte Carolus seine Informationen aus Augsburg. Die Verhandlungen zogen sich hin. Der Berichterstatter meldete entsetzt, die osmanische „Gesandtschaft“ würde „vil Muthwillen" treiben, sie hätte „in den Kirchen das Weywasser verschütt und sonsten den Mönchen ihre Ceremonien verspott". Die Frevler seien dann „auf befehl des [osmanischen] Bottschafters gebrügelt worden".

Für ihre Rückreise hätte die osmanische Delegation „Zehrgeld" erhalten müssen, auf Geheiß des Kaisers sollten sie „5000 Thaler“ erhalten. Da man „mit dem Gelt nit auff kommen kan, ist zubesorgen“, müsse die Delegation in Prag warten.

Für Zeitgenossen war das ein klarer Hinweis auf Geldnöte des Kaisers, eine Respektlosigkeit gegen den Kaiser. Der weit respektlosere Bericht über die osmanische Delegation störte die Ratsherren offenbar nicht. Der Straßburger Stadtrat Peter Storck brachte den Fall vor ein Gremium des Straßburger Rats, das auch für das Druckwesen zuständig war und berichtet, in der Relation sei „schimpff und verkleinerung“ des Kaisers zu lesen gewesen.  Um Schaden von der Stadt Straßburg abzuwenden, wurde der „buchtrucker" aufgefordert, „mit dem trucke biß uff weitern bescheid inzuhalt[en]".
Carolus musste „ungelegenheiten" um seines Geschäftes willen unbedingt vermeiden, er sei „ein arm gesell, dem grösster schaden darauß entstehen möcht", erklärt er gegenüber den Ratsherren. Fünf Tage später, am 23. November, hält das Protokoll des Rates fest, Carolus habe bekundet, es „sey Ime leid“ und „soll hinn fort dergleichen nit mehr geschehen“, er bat um Verzeihung und versprach, künftig dergleichen zu unterlassen und „auch in zweiveligen fällen bei truckerh[erren] frag[en], wenn ihm wieder erlaubt werde, „die Zeittung zu drucken".
In der vorletzten Ausgabe des Jahres 1690 meldet Carolus etwas, was die Zahlungsfähigkeit des Kaisers demonstriert: „Den 6. diß[es Monats Dezember] sind die Türcken von hinnen mit 200 Pferd Begleidt worden, die haben die zeit hero ihre May[estät] Bey 80.000 thaler gekostet."

Ausbreitung des Mediums Nachrichtenblätter

Aviso Relation oder Zeitung 1609 herausgegeben von Julius Adolph von Söhne in WolfenbüttelDas Geschäftsmodell des Carolus sprach sich schnell herum - als zweite periodisches Nachrichtenblatt erschien ab 1609 der „Aviso, Relation oder Zeitung" von Julius Adolph von Söhne in Wolfenbüttel. In rascher Abfolge wurden weitere Blätter derselben Art gegründet, zunächst im deutschsprachigen Raum, schnell aber in ganz Europa: in Basel 1610, in Frankfurt am Main 1615 die „Frankfurter Postzeitung“,  in Berlin 1617, in Amsterdam 1618, London 1621 und Paris 1631.

 

    Lit.:

    Mehr zu Carolus und dem Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen in   Link, Auszüge aus
    Johannes Weber: »Unterthenige Supplication Johann Caroli / Buchtruckers«
    Der Beginn gedruckter politischer Wochenzeitungen im Jahre 1605
    (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 38, Frankfurt am Main 1992, S. 257-265
    Holger Böning: Weltaneignung durch ein neues Publikum - Zeitungen und Zeitschriften
         als Medientypen der Moderne. In: Historische Zeitschrift Beiheft 41 S. 105-134

    Holger Böning, Pressewesen und Aufklärung - Intelligenzblätter und Volksaufklärer
      
    http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/boening_pressewesen.pdf
    Holger Böning, Aufklärung für wen? Gedanken zu Universalismus und Adressaten
         der deutschen Volksaufklärung in: Festschrift für Arnulf Kutsch (2009)
      doc
    Konrad Dussel über die Zeit der Flugblätter, einl. Kapitel aus: Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert (2011) Link
    Zu der Zensurgeschichte von Carolus vgl. Martin Welke, Geschichte der Zeitung: Darf man so was drucken?
        https://www.zeit.de/2014/01/zensur-geschichte-zeitung-presse/komplettansicht
    Auszüge zu den Anfängen des typografischen Drucks aus: Frank Bösch, Mediengeschichte S. 35-57
        http://www.m.medien-gesellschaft.de/html/mg_gutenberg.html