Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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ISBN 978-3-7418-5475-0
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2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

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2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
ISBN 978-3-746756-36-3
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Theodor_Prumm_1868Ernst Litfaß
und der Wandel der Berliner Straßen-Öffentlichkeit

In der Nacht zum 1.7.1855 zogen 400 Männer durch Berlin, um bis zum Morgengrauen alle wild an Hauswände, Torbögen und Bäume gehefteten Aushänge zu entfernen. Durch Vertrag mit dem Berliner Polizeipräsidenten hatte sich der Drucker Ernst Litfaß ein Monopol gesichert: Aushänge, Ankündigungen und Plakate durften fortan in Berlin nur an 100 von ihm errichteten Zementsäulen sowie an 50 bestehenden, aber neu mit Holz ummantelten Brunnen angebracht werden - gegen Geld. Der Polizeipräsident hatte als Auflage in den Vertrag geschrieben, dass Litfaß die neuesten Nachrichten kostenfrei zu publizieren habe. Verdienen konnte er nur an gewerblicher Reklame. Und damit wurde er reich und berühmt. Litfaß erwies sich als Marketing-Genie, ein Meister auch der „Reklame für die Reklame“. Er entwickelte neue avancierte Werbedrucktechniken, er praktizierte „Eventmarketing“ und kannte, ohne die Begriffe zu kennen, „Branding“ und „Productplacement“. Ernst Litfaß gestaltete den Strukturwandels der Öffentlichkeit Berlins in einer Zeit, in der die Provinzstadt zur Reichshauptstadt aufstieg: 200.000 Einwohner hatte Berlin Stadt in seinem Geburtsjahr 1816, über 800.000 in seinem Todesjahr 1874. Konservative Kritiker wandten ein, die Sicht werde eingeschränkt durch seine Säulen und Litfaß’ Plakate seien zu marktschreierisch.             
                                                            Foto: Theodor Prumm, 1868

Marketing-Genie Litfaß

Ernst Theodor Amandus Litfaß, geboren 1816 in Berlin, hätte eigentlich im Betrieb seines Vaters Buchdrucker werden sollen, aber er wollte in jungen Jahren lieber Schauspieler werden und trat als „Flodoardo" in populären Singspielen wie „Das Fest der Handwerker" auf. Zwei Jahre lang tingelte er von Auftritt zu Auftritt, besuchte London und Paris. Litfaß war Gelegenheitsdichter mit einer Vorliebe für die rasche kabarettistische Pointe. Er gründete sogar das Theater „Lätitia“ am Rosenthaler Tor in Berlin, bis der Militärdienst ihn rief. Nach der Hochzeit mit einer Gastwirtstochter kehrte er doch ins Druckgewerbe zurück, übernahm 1845 die väterliche Druckerei und verdiente dank der neuen Schnellpresse mit populären Schriften. Möglicherweise ließ er sich von der Geschäftstüchtigkeit seiner Frau inspirieren.
Nicht nur als Verleger war Litfaß tätig, er führte Schnellpressen und den Buntdruck nach französisch-englischem Muster ein und druckte als erster Riesenplakate im Format 20 x 30 Fuß (6,28 x 9,42 m). 1846 wurde Litfaß mit der Formatvergrößerung und Ausstattung der Anschlagzettel, die danach Litfaßzettel genannt wurden, überall populär. Ernst Litfaß ließ nicht nur Werbung übergroß drucken. Er druckte schneller als andere, Theaterzettel, Stadtpläne, Bekanntmachungen.

1898Die Werbung für Orchesteraufführungen, Theatervorstellungen oder für den Zirkus wurden damals in Berlin wild an Mauern und Häuserwände geklebt – anders als in Paris, Brüssel und London. Daher hatte er seine Idee eines Monopols. Schon 1824 hatte George Harris in London eine achteckige Plakatsäule als Patent angemeldet. Die „Harris-Säule" wurde auf einem Wagen durch die Stadt gefahren und drehte sich um ihre eigene Achse, sie wurde sogar mit Lampen von innen beleuchtet. 1839 hatte der Polizeipräfekt Gabriel Delessert den bau von „maurischen Säulen“ erlaubt, an denen öffentliche Bekanntmachungen veröffentlicht werden sollten und in deren Inneren so die Pissoirs „versteckt“ werden konnten. Seit dem Jahre 1842 sind diese Säulen als „Colonne Morris“ mit dem Namen des französischen Buchdruckers Gabriel Morris verbunden, der sie auch für kommerzielle Zwecke anbot.

 


Paris, 1898

Ernst Litfaß war 1848 davon noch weit entfernt, er druckte wütende Flugblätter. Er wurde zur Zeit der März-Revolution Herausgeber von Zeitungen eines der wichtigsten Blätter der Bewegung, der Satirezeitschrift „Berliner Krakehler". Anonym soll er darin auch selbst Texte verfasst haben, schreibt der Biograf Wilfried F. Schoeller. Der „Berliner Krakehler" wurde ein halbes Jahr nach dem ersten Erscheinen verboten, Litfaß' Druckerei aber nicht geschlossen. Litfaß verstand die Zeichen der Zeit und begann, Beziehungen zur preußischen Obrigkeit zu entwickeln. Er entwickelte mit großer kommerziellen Phantasie eine kapitalistische Gründerzeit-Mentalität. Sein „Berliner Tagestelegraph“ informierte seit 1851 das Berliner Publikum über Konzerte, Theateraufführungen sowie Unterhaltungs- und Gastronomieangebote in der Stadt, die Zeitung hatte einen umfangreichen Anzeigenteil.

Kontrolle der Zettelkleber und Aufwiegler

Nach Verhandlungen mit dem Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich Hinckeldey erhielt er 1855 die Konzession zur „Errichtung einer Anzahl von Anschlagsäulen auf fiskalischem Straßenterrain zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von Privatanzeigen“. 100 „Annoncier-Säulen“ wurden zunächst neu errichtet, 50 bereits existierende Brunnen und Pissoirs sollten zum Zwecke der Plakatierung mit Holz verkleidet werden. Der Polizeipräsident hatte dabei die Kontrolle über die Öffentlichkeit im Auge - Aushänge und Flugblätter hatten in der Revolution 1848 eine wichtige Rolle gespielt. Der Obrigkeitsstaat hatte Zettelkleber und andere „Aufwiegler" nun unter Kontrolle. Litfaß hatte das Monopol für die öffentliche Werbung.

Zur feierlichen Übergabe der ersten Säulen am 1. Juli 1855 engagierte er ein Musikkorps, das die zu diesem Anlass komponierte „Annoncir Polka" spielte. Der Tanz wurde den ganzen Sommer über zum Hit in den Berliner Tanzlokalen.
Von den öffentlichen säulenförmigen Urinalen war am Ende keine Rede mehr – der Berliner Magistrat fühlte sich getäuscht und beklagte die „Litfaselei". Der Polizeipräsident und Litfaß erklärten, dass aufgrund fehlender Wasserleitungen die Pissoir-Idee nicht umsetzbar gewesen sei.  
Als Preußen von 1864 bis 1871 gegen Dänemark, Österreich und Frankreich Krieg führte, entwickelten sich Litfaß' Säulen zu Zentren der Information und Kommunikation – dort konnte man die neuesten Nachrichten von der Front lesen, schneller als in den Zeitungen. Litfaß erwies sich als Werbe-Genie:  die Kriegsdepeschen durften unentgeltlichen angeschlagen werden, seinen Säulen sicherte das großen Zulauf und Aufmerksamkeit. Dafür erhielt er den preußischen Königlichen Kronen-Orden.

Litfaß starb 1874. Bei der Neuausschreibung der Konzession im Jahre 1880 unterlagen seine Nachkommen der Konkurrenz von der Firma Nauck & Hartmann in Berlin, die ein Angebot von 35.000 Mark unterbreitet hatte.

Litfass-Werbung 1933November 1933.
Versehrte des 1. Weltkrieges
vor einer Litfaß-Säule
mit NS-Propaganda: „So stimmst du ab”.

 

 

 

 

 

 

Stroer und JCDecaux – „Litfaß-Säulen“ heute

Heute gibt es 67.000 „Litfaß“-Säulen in ganz Deutschland. Die Monopol-Idee lebt zudem in der „Deutschen Städtereklame“ bzw. „Deutsche Städte Medien“ des Unternehmensgruppe Stroer AG fort, die 2004 von 28 deutschen Eigner-Kommunen die Anteile an der „Deutschen Städtereklame“ aufkaufte.
Im Jahre 1987 beschrieb Stefan Aust Fälle von „Zensur“ politischer Plakate des Künstlers Ernst Volland. Ein Fall betrifft „Deutsche Städtereklame“. Volland wollte 1977 während der Dokumenta in Kassel 15 verschiedene Plakate an insgesamt 220 Anschlagflächen kleben lassen. Die „Städtereklame“ sagte zu, der Künstler schickte die Plakate. Kurz darauf meldete die „Städtereklame“ gegen zehn Motive Bedenken an. Sämtliche Plakate lagen beim Staatsanwalt…

Die „Compagnie Fermière des Colonnes Morris” wurde 1986 von dem Unternehmen JCDecaux übernommen, die heute europaweit tätig ist mit verglasten Anschlags-Flächen. JCDecaux betreibt auch öffentliche Toiletten.

     Lit.:
    Wilfried F. Schoeller: Ernst Litfaß. Der Reklamekönig. (2005)
    Steffen Damm, Klaus Siebenhaar: „Ernst Litfaß und sein Erbe". Eine Kulturgeschichte der Litfaßsäule (2005)