Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

2 AS Cover

ISBN 978-3-7418-5475-0
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2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges

ISBN 978-3-7375-8922-2
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2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
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Bild gegen Schrift? 
Schöne neue Medienwelt?

 Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder:
  Über den typografischen Blick auf die elektrischen Medien und
 die Angst der klassischen schriftgelehrten Eliten vor der neuen Massenkommunikation

2-2019


Dummes Zeug kann man viel reden, Kann es auch schreiben,
Wird weder Leib noch Seele töten, Es wird alles beim alten bleiben.
Dummes aber, vors Auge gestellt, Hat ein magisches Recht;
Weil es die Sinne gefesselt hält, Bleibt der Geist ein Knecht.
Johann Wolfgang von Goethe

Entfaltet sich die neue audio-visuelle Medienkultur auf Kosten der Kultur der Schriftsprache? Das ist die Sorge, die im „Jahrhundert des Auges“ immer wieder formuliert wird. Die Kultur der Schriftsprache reagiert mit Verlustängsten auf die modernen elektronischen Medien. Die Kommunikation in den sozialen Netzen bedroht die Standards der rationalen Diskurs-Kommunikation, den Qualitätsjournalismus und die zivilisierte bürgerliche Öffentlichkeit. Es geht um die kulturelle Hegemonie. 

Aber Kultur war auch vor der Schrift, es gab vor-alphabetische phonetische Kommunikation und visuelle „Bildsprache”. Die visuellen Vorstellungen gehen den gedachten Worten voraus. „Schriftsprache" hat sich erst mit der Drucktechnik – nach Gutenberg – als dominante Kommunikationsform durchgesetzt. Schon im 14. Jahrhundert hatte der Dichter Petrarca hat den bevorstehenden epochalen Umbruch gespürt und die Zeit nach der Antike zu „tenebrae"Finsternis und Schatten, erklärt - den Weg aus dem Dunkel wies für ihn allein die Rückbesinnung auf die antiken Schriften. 

Erst für die europäische Aufklärung wurde das gedruckte Wort der Träger des Wissens. Die Gelehrten der frühen Neuzeit haben das multimediale Mittelalter zur dunklen Zeit des Aberglaubens erklärt, um den Glanz der einer eigenen Vernünftigkeit herauszustreichen - auf einer Negativ-Folie des dumpfen Wilden und Irrationalen. Und Visuellen. In dieser Tradition proklamierte Immanuel Kant den Ausgang aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit”. Für Wilhelm von Humboldt ist „der Mensch … nur Mensch durch Sprache“. Und diese kultivierte Sprache ist geschriebene Sprache – Schriftsprache. Die Geschichte der Schriftkultur ist voller Klagen über die Macht der Bilder.

Das sei letztlich nur „Wortverdinglichung und Schriftfetischismus“, eine neuzeitliche Form von Aberglauben, sagt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Brückner in seinem Plädoyer für das „Bilddenken“. In der Tradition der religiösen Überzeugungen von Judentum, Christentum und Islam ist das Bild gering geachtet oder gar ausgeblendet worden – aber nur von den jeweiligen Eliten. Schriftkultur ist eben auch Herrschaftskultur. Seit dem alttestamentarischen Bildnis-Verbot ist die Schrift eine Kulturtechnik, die Machtansprüche begründet.

Bilder wirken stärker als Worte, das weiß jedes Kind.

Aber offenbar entspricht die bildhafte Darstellung in Medien sehr viel besser der visuell wahrgenommenen Lebensumwelt, für die das menschliche Gehirn und das Gedächtnis optimiert sind. Kulturell erworbene Reaktionsmuster sind oft verbunden mit visuellen und emotionalen Erinnerungen oder Phantasien. Visuelle und emotionale Eindrücke hinterlassen deutlich nachhaltigere Spuren im Gedächtnis als abstrakte Schriftzeichen, denen ein Wortklang und dann ein Sinn erst zugeordnet werden müssen. Die Vorliebe des Gehirns für Bilder erklärt, warum schriftbasierte Unterhaltungsangebote von der Illustrierten- und Radiokultur und dann von den bewegten Bildern des Fernsehens so schnell an den Rand gedrängt wurden, jedenfalls in ihrer Massenwirksamkeit. Trotz aller Aufklärung wirken ältere, archaische Schichtungen der Wahr-Nehmung im Untergrund munter weiter - die schriftfixierte „Aufklärung“ konnte auch die Bedürfnisse bildlich vorgestellter religiöser Vergewisserung nie verdrängen.

Die visuellen Vorstellungen sind nicht nur nachträgliche Illustrationen der gedachten Worte. Rund ein Drittel der menschlichen Hirnrinde dient der Verarbeitung von Seh-Eindrücken. Das Wort „Bilder“ im heutigen deutschen Sprachgebrauch meint meist Filmbilder, fotografische Abzüge, technische hergestellte Abbildungen von Natur- und Alltags-Situationen, die durch den Menschen mit Bedeutung ausgestattet wurden. Die frühe Form der Bilder waren die räumlichen Artefakte - Skulpturen, architektonische Monumente. Im Althochdeutschen bedeutete „bilidi“ Sinnbild, Zeichen mit Zauberkraft. 

„Bilder“ sind aber auch die sinnlichen Wahrnehmungen selbst – als „innere Vorstellungsbilder“. Auch das sind Bedeutungsträger, die sich einprägen und dann auch bei geschlossenen Augen aufgerufen werden können: Mutterbilder, Schreckensbilder, Natur-Bilder vom Sonnenaufgang, umnebelte heilige Berge.

Die Wort-Laute sind sekundär – evolutionsgeschichtlich. In der Evolution wie in der Embryogenese stehen die Duft-Kommunikation und der Tastsinn am Anfang. Erst dann kommen Gehör und Gesichtssinn als Orientierungsmittel hinzu. Das Bild-Gedächtnis ist kein „Speicher“, auf der wie auf einer Festplatte einkommende Sinnes-Daten wahllos gespeichert würden, sondern es formt die ihm vermittelten Sinnes-Rohdaten in wahrgenommene sinnstiftende Eindrücke um. 
Am Beginn der Menschwerdung stand die Befähigung zur Produktion von geistigen Bildern, die die körperliche Kommunikation des gestischen Zeigens interpretieren und Formen gemeinsamer Aufmerksamkeit und Intentionalität organisieren. Die regelhafte Lautsprache kam erst in den letzten 200.000 Jahren dazu als besonderes Instrument der Hominiden, um das visuell Wahrgenommene durch ein Lautbild zu markieren und und kommunizierbar zu machen. Lautsprache erweitert die Möglichkeiten, Gemeinschaft zu stiften - dem dienen ansonsten Rhythmus und musikalische Klanggestalten, wie uns heute doch sie Singvögel vormachen.

Kultur der Schriftbilder

Die Schrift löst die sprachliche Verständigung aus ihrem oral-klanglich-gestischen  Zusammenhang heraus. Die hohe Kunst des poetischen Schreibens besteht dann darin, Blicke, Gesten und Gebärden in ihrer kommunikativen Qualität wieder „anschaulich" und lebendig werden zu lassen - vor dem inneren, geistigen „Auge". Die Phantasie ergänzt das karge Schriftbild um die Dimensionen des Sehens von Bildern, des Schmecken, Riechens und Fühlens, eben um die Facetten der sinnlichen Wahrnehmung. Natürlich sind die sinnlichen Dimensionen des Lesens besonders gefragt bei sinnlichen Themen. Walther von der Vogelweide bringt das in seinem Liebesgedicht „Die Augen des Herzens" in Hinblick auf die Geliebte so auf den Punkt: 
„Wollt ihr wissen, was das für Augen sind, mit denen ich sie über alle Lande hinweg sehe? Es sind die Gedanken meines Herzens, mit denen ich sie durch Mauern und Wände sehe." 
Auch Martin Luther wusste, dass die Kraft der biblischen Worte in den Bildern lag, die sie zu erzeugen vermochten, „Herzensbilder“ nannte er das: 
„So weiß ich auch gewiß, daß Gott will, man solle seine Werke hören und lesen, besonders das Leiden Christi. Soll ichs aber hören oder gedenken, so ists mir unmöglich, davon in meinem Herzen kein Bild davon zu machen (...). Wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen eines Mannes Bild, das am Kreuze hängt, ebenso wie mein Antlitz natürlich ein Bild entwirft ins Wasser, wenn ich darein sehe. Wenn es nun nicht Sünde, sondern gut ist, daß ich Christi Bild im Herzen trage, warum sollte es dann Sünde sein, wenn ich es in den Augen habe.“
 

Sisyphos gegen die sinnliche Religion

Für die Mehrheit der Bevölkerung eröffneten Bild-Medien eindrucksvoller als die mündlichen Rede den direkten Zugang zu Wissen, das spürten schon die christlichen Kirchenväter der Spätantike im Streit um das alte biblische Götterstatuen- und Bildnisverbot. Denn im europäischen Mittelalter hatte sich die christliche Volks-Religiosität zu einer sinnlichen Praxis entwickelt, zu der bildunterstützte Verkündung gehörte wie die Einverleibung tradierter mythischer Praktiken.  (vgl. zur Bild-Magie M-G-Link)  Als „religio carnalis“ geriet die Volksfrömmigkeit ins Visier einer „Religionspolicey“ einer katholischen Aufklärung.  
Gegen die sündhaften Neigungen der Augen, gegen die „concupiscentia oculorum“ hat Bernhard von Clairvaux im späten 15. Jahrhundert gewettert, in Anknüpfung an Augustinus. Das praktizierte Christentum seiner Zeit hatte sich offensichtlich weit vom biblischen Anspruch der Bilderlosigkeit entfernt. Nur die klerikale Elite erinnerte sich noch daran, dass Paulus als griechisch gebildeter Jude behauptet hatte, der Glaube komme vom Hören, der unsichtbare Gott habe lediglich „gesprochen durch die Propheten“. Das christliche Kirchenvolk spendete besonders gern, wenn es glitzernde Reliquen-Schreine mit Spuren der Milch Mariä oder herzzerreißende Bilder vom leidenden Christus vorgeführt bekam. 

Martin Lutherssola scriptura“ (1520) und der Bildersturm der Reformation untergrub mit der Kritik der Bild-Kultur das Machtgefüge der katholischen Kirche. Das Schrift-Privileg war für Luther gleichzeitig fest in der alten mystischen Überzeugung gegründet, dass Gottes Geist selbst den Evangelisten jeden Buchstaben ins Ohr diktiert habe muss. Die mittelalterliche Buchmalerei hatte das durch die Taube am Ohr der Schreibenden überzeugend dargestellt. Die Lutheraner machten früh ihre eigenen Kompromisse mit den Bildern. Nicht der geschriebene Text, sondern Illustrierungen haben schon in der Reformation und dann in den Illustrierten im 19. Jahrhundert die Schrift-Medien zu Massenmedien gemacht. Die meisten Leser gucken eben als erstes auf die Bilder gucken. Der protestantische Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher verteidigte in seiner Schrift „Über die Religion“ (1799) die Religion gegen die Aufklärer mit der Formel, sie sei „Geschmack fürs Unendliche“, also der leibliche, notwendigerweise un-vernünftige Erkenntniszugang zum Unendlichen.

Die klassische Bürger-Kultur der europäischen Neuzeit war eine des Wortes - und beklagte die Übermacht der Bilder. Das war auch Theodor Lessings Thema in Laokoon  (1766): Ihn beschäftigte am Beispiel des Schmerzes die schöpferische Arbeit der Wahrnehmung bei der Betrachtung von Bildnissen im Vergleich zu der Lektüre. Die Entgegensetzung macht aber wenig Sinn: Bildnisse können nur wirken, wenn der Betrachtende den „Text“ dazu kennt.  Die Schrift wirkt umgekehrt nur über Einbildung und Imagination, mit den Schrift-Bildern und sprachlichen akustischen Zeichen müssen sich Vorstellungsbilder verbinden, damit das sinnlich Wahrgenommene zu bedeutsamen Vorstellungen werden kann.
Johann Wolfgang von Goethe beklagte sich 1797 (in einem Brief an Friedrich Schiller) darüber, dass Künstler „dem Streben der Zuschauer und Zuhörer, alles völlig wahr zu finden“, nachgeben. Menschen wollten, wenn sie sich der Anstrengung einer Lesung unterzogen haben, die Geschichte noch einmal auf der Bühne sehen, wünschten sich damals Kupferstiche „damit nur ja ihrer Imagination keine Tätigkeit übrig bleibe“. 
An diese (bildungsbürgerliche) Kritik-Tradition knüpfte im 19. Jahrhundert die Abneigung gegen „Boulevard“-Theater, „Trivial“-Romane und Operetten an. 
Zahlreich waren seit den 1840er-Jahren die Klagen über einen neuen Illustrationskult. Ludwig Feuerbach schrieb in seiner Streitschrift „Das Wesen des Christentums“ 1843, „dieser Zeit“ sei „heilig nur die Illusion“,  sie ziehe „das Bild der Sache, die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen“ vor. Der Wiener Schriftsteller und Journalist Ferdinand Kürnberger, der wegen seiner Beteiligung am Wiener Oktoberaufstand 1848 nach Deutschland fliehen musste, beklagte die „Illustrationsmode“ in Büchern, der zu einem „Dilettantismus des Genießens“ führe. Der Schriftsteller Friedrich Oldenberg polemisierte 1859 in gegen „Bilderunwesen“ und die „Verbilderung der Wirklichkeit“.

Medienkritik im frühen 20. Jahrhundert

Leonardo Olschki beschrieb 1919 den Übergang vom anschaulichen Denken zum begrifflichen Denken als das Lernen einer neuen Wirklichkeits-Konstruktion: „Der menschliche Geist musste erst durch jahrhundertelange Erziehung dazu gebracht werden, möglichst ohne Zuhilfenahme des bildhaft Greifbaren folgerichtig zu denken.“ Nachdem einige Generationen mit der allgemeinen Schulpflicht auf dieses Bildungsideal verpflichtet worden war, konnte im 19. Jahrhundert die Hoffnung aufkommen, dass auch für die Masse der Bevölkerung „das geschriebene Wort zum alleinigen Bezugsrahmen, innerhalb dessen Bewusstseins- und Verständigungsprobleme reflektiert wurden“ (Eric Havelock), werden würde.

Aber die Hoffnung trog. Als der marxistischer Kulturwissenschaftler und spätere Mitgründer des Spartakusbundes Eduard Fuchs 1912 seine „Illustrierten Sittengeschichte“ schrieb, gab es die Bildpostkarte schon. Er schreibt da über das Bild: „Unser Auge stößt darauf, wo auch sein Blick hinfällt, und man kann ihm heute nicht mehr entfliehen. Denn könnte man wohl die illustrierte Zeitung unbeachtet lassen und mit Gewalt die Ansichtspostkarte ignorieren, so bleibt immer noch das Plakat, die bildliche Reklame, die uns auf Weg und Steg bis in die Einöde der Natur und auf allen unentbehrlichen Gebrauchsgegenständen des Lebens verfolgt, um uns ihre Meinung … aufzuzwingen.“

Der Kunsthistoriker Richard Hamann beschrieb diese optische Kontrolle beim Fortbewegen in der Stadt: Das Überschreiten des Potsdamer Platzes in Berlin erfordere „jene Gegenwart des Geistes, die auch mit den Winken undeutlicher Art, ganz indirekt gesehener Bilder sich begnügt und den Willen danach dirigiert. Wer das Bedürfnis hat, sich in jedem Fall erst umzusehen, die Andeutung zu vervollständigen, würde in diesem Trubel verloren sein. Entgegnung auf minimale Reize und Wechsel der Entschlüsse in jedem Augenblick sind die Grundbedingungen eines Ganges durch eine belebte Großstadtstraße.“ Das gemütliche Umherschauen werde zur gefährlichen Angelegenheit. Erforderlich sei die Fähigkeit zu schneller Entscheidung auf der Basis minimaler Signale.

Der Literaturkritiker und Porträtfotograf Fritz Pfemfert bezeichnete das Kino 1911 als Gipfel einer seelenlosen Großstadtmaschinerie und Ausdruck von „Unkultur“, das mit seiner „brutalen Bildreporterei“ Realität auf „Orgien“ der Banalität reduziere: „Kino vernichtet die Phantasie" (Franz Pfemfert).

Der Schriftsteller Walter Hasenclever beklagte das Kino als Medium expressionistischer Verkündigung: In ihm würden Realität und Traum ununterscheidbar. Das Kino würde die „Szenerie des Traumbildes“ als Wirklichkeit etablieren.

Die Erkenntnis- und Sprachkritik wurde nach der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkt auch von der Kulturkritik aufgegriffen. Sigmund Freud (1861-1951) schrieb in seinem „Unbehagen in der Kultur“ (1930): „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane angelegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen." Wissenschaft, Kunst und Religion sind für Freud jene großen Illusionen, die von der Realität – und vor allem von ihren negativen Ausprägungen – ablenken. Sigmund Freud nannte sie die „Ersatzbefriedigungen, die (das Elend der Welt) verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen". Die schöne, neue Medienwelt wäre in dieser Perspektive die Vollendung des Rausches.

Hugo Münsterberg und das „genussreiche Spiel des Geistes“

Die technischen Innovationen im Bereich der elektrischen Medien (Telefon, Film, Fotografie) haben gegen Ende des 19. Jahrhunderts das tradierte Wirklichkeitsbewusstsein irritiert. Hin und wieder wurde die Frage gestellt: Kann die Tradition der Aufklärung sich diese neuen Mittel zunutze machen? Es schien nicht so: Trotz aller Errungenschaften und wissenschaftlicher Erfolge wurde die Gesellschaft nicht vernünftiger, es kam es zu den großen ökonomischen und politischen Krisen, zu Weltkriegen mit ungeheurem Vernichtungspotential. Aus der Kritik der Technik entwickelte sich die Kritik der sekundären Welt der Medien und des „Lebens aus zweiter Hand“.

Dass man den schon Stummfilm auch anders analysieren konnte, belegt das Beispiel des in Harvard lehrenden deutschen Psychologen Hugo Münsterberg, der 1916 das Buch „The Photoplay“ veröffentlichte. Da räumte er ein, dass auch er „ein tiefes ästhetisches Vorurteil gegen das Leinwanddrama hatte und jedes Filmhaus mied - bis 1915. Und dann wurde er in einem Jahr zum Fan dieses neuen Mediums, das sich vom Theater frei machte und sich in seiner eigenen mediale Logik zeigte. Als Psychologe war Münsterberg fasziniert davon, dass der Film den „Gesetzen des Bewußtseins mehr als denen der Außenwelt“ folge. Damit hat er das Motiv des Traumbildes positiv aufgenommen und als „Beginn einer völlig neuen ästhetischen Entwicklung“ beschrieben: Im Kino inszeniert sich das „freie und genussreiche Spiel des Geistes“, frei von den Beschränkungen der äußeren Natur.

Als Psychologe interessierte sich Münsterberg insbesondere auch für das Phänomen der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit war schon das Thema vieler experimenteller Arbeiten Münsterbergs, in denen es um Werbung ging. Das Problem stellte sich ihm im späten 19. Jahrhunderts angesichts der Flut neuer Sinneseindrücke im urbanen Leben Amerikas. Zur Aufmerksamkeit des städtischen Flaneurs vor einem Schaufenster schrieb er: „Wenn wir bei einem Spaziergang auf der Straße in einem Schaufenster etwas sehen, das unser Interesse erregt, so richtet sich unser Körper darauf aus: Wir verweilen, fixieren den Gegenstand und nehmen ihn detaillierter wahr. Die Umrisse treten schärfer hervor, und während der Eindruck deutlicher als zuvor erscheint, verliert die uns umgebende Straße ihre Klarheit und Deutlichkeit.“ (Das Lichtspiel) Münsterberg erkannte, dass von „all unseren internen Funktionen, die die Bedeutung der uns umgebenden Welt schaffen, die Aufmerksamkeit die zentralste ist.“ Der in Danzig geborene Münsterberg wurde auch in den USA vergessen, sein Text wurde erst 80 Jahre später ins Deutsche übersetzt.

Ernst Jünger und die moderne Bild-Faszination der Nazis

Die Instrumentalisierung des Films für die Kriegspropaganda diskreditierte das Medium für viele der kritischen Intellektuellen. Aby Warburg zeigte an den publizistischen Bildquellen ihre demagogische Wirkung. Mit seinen Gräuelphantasien habe der Film einen Beitrag zu der „kollektiven Irrationalität der Zeit im jetzigen Kriege“ geleistet.

Der nationalrevolutionäre Schriftsteller und Reichswehroffizier Ernst Jünger hatte zu dieser kollektiven Irrationalität kein distanziertes Verhältnis, im Gegenteil. Er hatte erlebt, wie der Einsatz optischer Geräte im Weltkrieg die Wahrnehmung der Soldaten veränderte. Das Foto könne die Kugel im Fluge festhalten und einen Soldaten in dem Augenblick, „in dem er von einer Explosion zerrissen wird“, stellte er fest. Die Bilder prägten einen neuen Wahrnehmungsstil mit sprachlich nicht mehr erfassbaren Erfahrungen. Jünger sprach von einem „zweiten Bewusstsein“, für das er pathetische Worte fand: „Das künstliche Auge der Fotografie durchdringt die Nebelbänke, den atmosphärischen Dunst und die Finsternis, ja den Widerstand der Materie selbst.“

Jünger konstatierte auch die Medialisierung von Politik: „In vielen Fällen tritt das Ereignis selbst ganz hinter der ‚Übertragung‘ zurück; es wird also in hohem Maße zum Objekt. So kennen wir bereits politische Prozesse, Parlamentssitzungen, Wettkämpfe, deren eigentlicher Sinn darin besteht, Gegenstand einer planetarischen Übertragung zu sein. Das Ereignis ist weder an seinen besonderen Raum, noch an seine besondere Zeit gebunden, da es an jeder Stelle widergespiegelt und beliebig oft wiederholt werden kann.“

Die Bild-Faszination erreichte auch den jungen Adolf Hitler. Der fand in der alliierten Gräuelpropaganda des Weltkriegs Anregungen für seine Überlegungen zur Massenpropaganda. Anknüpfend an den französischen Soziologen Gustave Le Bon empfahl Hitler, „das Bild in allen seinen Formen, bis hinauf zum Film“ als Medium der Massenpropaganda zu nutzen, wobei er auch Bildszenarien der Massenkundgebungen und Aufmärsche meinte. Das Bild erreiche Menschen, die ein längeres Schriftstück nicht lesen würden.

Die unpolitische Film-Skepsis der linken Kulturkritik

Während sich Politiker auf der rechten Seite die neuen Medien und ihre Wirkmechanismen zunutze machen, herrschte auf der linken Seite eher die Skepsis. Die linke Kulturkritik des 20. Jahrhunderts suchte mit Freud das „eigentlich Menschliche" hinter den Prothesen und spielte die „wahre“ Kommunikation gegen die Medien aus. Nur die sozialistischen Verleger wussten, dass man mit  den Bildern der Massenpresse Geld verdienen konnte, die „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ des Kommunisten Willi Münzenberg oder die „Nachtpost“.

Aber die sozialistischen „Vordenker“ pflegten ihre akademische Skepsis. In seiner Kleine(n) Geschichte der Photographie beschrieb auch Walter Benjamin 1931 den strukturellen Zwang zur visuellen Inszenierung in der Politik: „Es veröden die Parlamente gleichzeitig mit den Theatern.“ Die Kultur der Bild-Medien führe zu einer „neuen Auslese“, Gewinner seien „der Star und der Diktator“. Benjamin würdigte, wie Brigitte Werneburg anmerkt, die Fotografien der Tagespresse, der Illustrierten und der Werbung keines Blickes.

Ernst Bloch erkannte 1937, als es zu spät war, wie „der Zauber, der von Bildern ausgeht“, zum Erfolg des Nationalsozialismus beigetragen habe. Der Sozialismus dagegen habe  „römische Kälte“ ausgestrahlt und „die tänzerischen, die träumerischen, die schönen Poeten“ verachtet.
Bertolt Brecht bezeichnete den „Führer“ als „Anstreicher“. Siegfried Kracauer beklagte (1927) die ungeheure „Flut der Photos“ und den Zerfall der rationalen Sprachkultur, 1941 bezeichnete er den Film als Produzenten von „Pseudorealität“: Das visuelle Erlebnis würde „den Verstand unterdrücken und das Gefühlsleben direkt ansprechen“. In seinem Buch über den deutschen Film („From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film“) notierte er, dass der Nationalsozialismus hauptsächlich das „verwirklicht (habe), was in seinem Film von Anfang an bereits angelegt war“. Die „Leinwandgestalten nahmen tatsächlich Leben an. Als personifizierte Tagträume, die Köpfen entsprangen, denen Freiheit ein tödlicher Schock und das Jungsein ständige Versuchung bedeutete, füllten diese Figuren die Arena im Deutschland der Nazis.“ Damit werden alle Phantasiefiguren des Films zu Wegbereitern einer Irrealität des nationalsozialistischen Regimes interpretiert.

Herbert Marcuse kritisierte 1937 unter dem Eindruck der faschistischen Massenkultur den affirmativen Charakter aller Kultur. Sie besetzt ein Reich des schönen Scheins, der vom Elend der Existenz ablenke: ein fiktives Glück, dessen Beschränktheit durch Ideologiekritik aufzuweisen ist. Die technische Entwicklung der Medien bedeutet in diesem Kontext nur eine Steigerung der Verblendungsmöglichkeiten. Mit dieser Botschaft wurde Marcuse in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Symbolfigur einer rebellischen Gegenkultur der studentischen Eliten.

Theodor Adorno (1903-1989) konnte in der neuen Bildkultur nur „regressiven Fortschritt“ sehen - nach dem Scheitern des Versuches der „Aufklärung, die Macht aller Bilder über die Menschen zu tilgen“. In den 1930er Jahren notierte er in seinen Minima Moralia: „Was einmal Geist hieß, wird von Illustration abgelöst.“ Das Fernsehen transportiere einen „traumlosen Traum“ in die Privatsphäre, formulierte Theodor Adorno, die Kulturindustrie lasse keine „Besinnung“ darüber zu, dass „ihre Welt nicht die Welt ist“. Die Menschheit trete nicht „in einen wahrhaft menschlichen Zustand ein“, sondern versinke „in eine neue Art von Barbarei.“ Als hätte er die Macht von Google und Facebook vorhergesehen, erklärte Adorno: Die über Massenmedien neu bereitgestellten Ersatzbefriedigungen pervertieren die Aufklärung zum Massenbetrug.

Der 1933 emigrierte Kulturwissenschaftler Rudolf Arnheim hat 1949 in seinem Aufsatz „Das Kino und die Masse“  (erschienen unter der Überschrift „Il cinema e la folla“ in Mailand in der Zeitschrift Cinema) die bildungsbürgerlichen Vorbehalte gegenüber dem Kino offen diskutiert. „Man sagt oft, dass das Kino eine Kunst für die Massen sei“, schreibt er. Warum? Das Buch habe nicht „derselbe unmittelbare Konkretheit wie die Bilder auf der Leinwand“, Das Theater verfüge nicht über die „unerschöpfliche Vielfalt von Milieus und Ereignissen“ und die „Authentizität der Beschreibungen“ wie die Leinwand, die  Musik wecke Gefühle, „aber sie erzählt nicht“. Arnheims Fazit: „Die Träume des Dienstmädchens, jene armen Träume von Glück, Reichtum und Schönheit werden nur vom Kino befriedigt.“
Aber die Filmproduktion sei „zur Industrie geworden“, das führe zu „Nivellierung“ und berge die Gefahr, „das Produkt keinen ausreichendem Wert besitzt“. Das ist das „Problem der Qualität“ bei Produkten, die sich „an alle wenden“. Alle diejenigen, denen das „Kino als geistige Kraft am Herzen liegt“, stünden „einer mächtigen Industrie“ gegenüber. 
Während man bei Läden, die giftige Lebensmittel anbieten, die Polizei rufe, damit die Länden geschlossen werden, gebe es „auf geistigem Gebiet“ geradezu einen „Wahn der Gifte, der schädlichen Dinge; so kann der Produzent aus seiner Sicht nicht anders als beschädigende Produkte anzubieten.“ Denn das Massen-Publikum habe den „Wunsch, den Unbilden des Lebens zu entfliehen und eine schönere, wenn auch illusorische Welt zu suchen.“  
Arnheim sieht „zwei Methoden, um diese schwere Unzulänglichkeit zu heilen“: den sanften Weg, mit einer „Schule den Geschmack der Massen zu verbessern, damit sie würdige Filme verlangen“, und den harten zweiten Weg, „dem Publikum würdige Filme aufzwingen“, die Zensur. Die Frage bleibt für Arnheim 1949 noch offen: „In einigen Ländern versucht die Regierung, beide Verfahren anzuwenden: aber die Ergebnisse sind noch wenig interessant.“
Wobei es für Arnheim als „unbestreitbares Faktum“ gilt, „dass die Geistesnahrung der Massen von höchster Qualität sein muss: der einfache vulgäre Zeitvertreib genügt nicht“, und zwar „aus dem Gefühl der Verantwortung gegenüber all jenen, die kulturell ‚minderjährig’ sind und daher, wie die Kinder, nicht wissen, was ihnen guttut und wieviel gute Dinge es gibt und geben kann“. 
Aber für Arnheim ist eine Kultur, „die vom Volk abgetrennt ist“ und ein Privileg der Wenigen, „zur Dekadenz verurteilt“. 
Er sieht keine Lösung aus dem Dilemma, denn: „In dem Augenblick, in dem – wie im Falle von Kino und Radio – die Existenz einer Kunst anfängt, von der Gnade der großen Massen abzuhängen, wird die Rechnung präsentiert: die übergangene, verachtete und erniedrigte Masse zwingt dem künstlerischen Schaffen ihren Willen, ihren Geschmack auf und bindet dem Künstler, der glaubte, ‚frei’ zu sein, die Hände im Sinne eines mittelalterlichen Feudalismus.“
Er sieht die „Notwendigkeit der ziemlich strengen Kontrolle all dessen, was sich an ein großes Publikum wendet“. Die Zensur sei „ein unangenehmes und für die künstlerische Produktion extrem negatives Phänomen“, aber sie könne notwendig sein als „zeitweiliger und wenig sympathischer Notbehelf“. In der Praxis, für die Arnheim das Beispiel der USA zitiert, orientiere sich die Zensur allerdings an „rein äußerlichen Kriterien“, Nacktheit, Scheidung, Selbstmord und Mütter unehelicher Kinder dürften nicht gezeigt werden. Die Zensur unterdrücke damit „die Möglichkeit, über schwere und leider existente Probleme zu diskutieren“. 
Arnheim bekennt 1949, dass er selbst nur noch „auf tröstliche Perspektiven hoffen“ könne - auf die Bemühungen, den Geschmack der Massen zu verbessern.

Günther Anders (1902-1992) radikalisierte die kritische Perspektive. In seiner Philosophie ist der Mensch nicht bestimmt festgelegt (= negative Freiheit im Existentialismus). Er fragt: Wie strukturieren Medien die akustischen und visuellen Wahrnehmungen der Menschen? Seine These ist das Verschwinden des Menschen hinter seinen technischen Triumphen. Sein Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1980) trägt den Untertitel: „Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution". Seine Thesen: Das Reproduzierte verändere seine Konsumenten negativ, da sie ihm die Wirklichkeit vorenthalte und ihnen stattdessen Surrogate biete. Das Fernsehen produziere einen neuen Menschentypus, denn es vermittele nicht Wirklichkeit, sondern schaffe wirklichkeitsanaloge Situationen. G.Anders beklagte den Sprachverlust, die Bilderflut und das „postliterarische Analphabetentum“.  Die Wirklichkeit der Bilder sei ein Substitut für genuine Welt-Erfahrung – so, wie es hundert Jahre früher die Roman-Lektüre war. Fernsehen sei kein Medium, sondern eine Maschine zur Produktion von Wirklichkeitsanalogien, die wirklicher als die Wirklichkeit erschienen. Menschen, die sich nicht mehr selbst artikulieren, hätten ein Leben „aus zweiter Hand“, würden infantilisiert und um ihre Subjektivität betrogen.

Im Denken von Jürgen Habermas, der immerhin 1962 seine Habilitationsschrift unter dem Titel „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ veröffentlichte, kommt die Film-Geschichte und die aktuelle Fernseh-Geschichte der 1950er Jahre nur als epochale Verfallserscheinung vor.  Sein „Räsonierendes Bürgertum“ braucht keine bewegten Bilder. Wörtlich: „Funk, Film und Fernsehen bringen den Abstand, den der Leser zum gedruckten Buchstaben einhalten muss, geradezu zum Verschwinden.“ Die Sendungen „ziehen das Publikum als Hörende und Sehende in ihren Bann, nehmen ihnen aber zugleich die Distanz der Mündigkeit, die Chance nämlich, sprechen und widersprechen zu können.“

Im Geiste Adornos bewegte sich zunächst auch Hans Magnus Enzensberger, der dessen Leitbegriff der Kulturindustrie durch den der „Bewußtseinsindustrie“ ersetzte. In seinem 1957 verfassten Essay „Scherbenwelt. Die Anatomie einer Wochenschau“ sezierte er   das populäre Nachrichtenformat. Das vernichtende Urteil: „Sie ist ein Instrument zur Lähmung, nicht zur Entfaltung des Bewusstseins.“
Nach den Erfahrungen der Studentenbewegung und deren Medien-Instrumentalisierung klangen Enzensbergers Überlegungen später optimistischer. In seinem 1970 im „Kursbuch“ publizierten Aufsatz „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ begriff er die damals aktuellen Geräte - „Tonbandgeräte, Bild- und Schmalfilmkameras“ - zu neutralen Mittel, die „im Besitz der Lohnabhängigen“ zu „Produktionsmitteln“ der Massen neuer Formen von Öffentlichkeit mit emanzipatorischen Potentialen werden könnten.

Mit Alexander Kluge hat sich ein Filmemacher aus der Adorno-Tradition entwickelt. Dass die Medienpolitik der SPD dem Adorno-Schüler eine Spielwiese bei den von der SPD eigentlich abgelehnten Lizensierungen privater Fernsehanbietern Ende der 1980er Jahre garantiert hat, erklärte der Medienpolitiker rückblickend 2005 recht in aller Offenheit als reine Obstruktion: „Ich war aber immer dafür, dass Klugesche Konterbande in die Scheinwelten, die die Menschen brauchen, eingeschmuggelt wurde. Man nannte das Fensterprogramme, zu denen wir die privaten Fernsehveranstalter verpflichteten: ein Stückchen über chinesischen Tanz zwischen zwei Soaps: Die Manager tobten über diese Quotenkiller. Laßt sie toben.“ „Quotenkiller“ hatte RTL-Geschäftsführer Thoma das Kluge-Fernsehen genannt. 
Wobei der SPD-Medienpolitiker mehr als das Obstruktive an Kluges Ansatz nicht finden konnte: „Die Tatsache, dass die Mehrheit der Leute Vergnügen an dem von Adorno so verfluchten Amüsement fand, das die Massenmedien boten, erklärte er mit einem Verblendungszusammenhang. Davon hielt ich gar nichts.“ Alexander „Kluges Fernsehen“ ist auch mehr elitär-bildungsbürgerliche Spielwiese als „Gegenöffentlichkeit“ oder gar „proletarische Öffentlichkeit“ – beides Begriffe, die Kluge in seinen literarischen Texten vorher für sich in Anspruch genommen hatte. Wo Arnheim die „Träume des Dienstmädchens, jene armen Träume von Glück, Reichtum und Schönheit“ wenigstens ernst nahm, konnte Alexander Kluge (mit Oskar Negt in: Öffentlichkeit und Erfahrung, 1972) nur denunziatorisch vom „Terrorzusammenhang der modernen Kleinfamilie“ reden, die dazu beitrage, den Erfahrungshorizont des Arbeiters auf die Rezeption der Massenmedien zu reduzieren. Den aufrüttelnd-bedrückendenden Film über den Endsieg der virtuellen Realität, den Action-Film „The Matrix”, hat aber nicht die Klugesche Produktionsfirma dctp gedreht, sondern Hollywoods Bewusstseinsindustrie selbst!

Das Gehirn als Flipperautomat

In der aktuellen Diskussion wird warnend auf Anzeichen für ein verstärktes Auftreten von Aufmerksamkeitsdefizit hingewiesen, die elektronischen „Prothesen“ machten aus dem Denkapparat des Menschen einen „Flipperautomaten“. Stehen wir an einem mediengeschichtlichem Wendepunkt, weil das zurückgelehnte, entspannte Denken, das Lesen eines langen Textes, dieses Lesen, bei dem man das Buch über Tage mit sich herumträgt, ins Cafe, an den Fluss, ins Bett, uns immer weniger möglich sein wird? 
Diese Kritik ist, sozialgeschichtlich betrachtet, elitär. Dass die heutige Massenkultur den Vergleich mit einer kleinen bildungsbürgerlichen Elite nicht aushält, kann nicht überraschen. Nie waren wir so informiert, so kommunikativ vernetzt wie heute. Deutlich mehr Menschen als früher lesen, und wir lesen mehr als im Zeitalter des Papiers. Wir tauschen tausend Mal mehr elektronische Informationen aus als die Briefpost tragen konnte, wir sehen Bilder von allen möglichen Plätzen der Welt und aller möglichen Phantasie-Produkte. Schaubilder erklären uns, was wir früher nie zu hinterfragen gewagt hätten. 

Mancher literarischer Kulturkritiker findet es beunruhigend, dass in den elektronischen Medien eine „zweite Wirklichkeit“ entsteht, die zunehmend mit der „eigentlichen“ Wirklichkeit überlagert - als wäre das tradierte Wirklichkeits-Bewusstsein mehr als ein kulturell konstruiertes geistiges Bild der materiellen Umwelt. Das scheinbar „normale”, uns so selbstverständlich gewordene, tradierte Wirklichkeits-Bewusstsein ist im Grunde selbst schon immer eine „zweite Wirklichkeit” gewesen, wenn man so will, die Bilder der elektronischen Kultur höchstens eine Variante davon oder eine „dritte”.  
In den Kritiken der elektrischen Medienrevolution wird die typographische Kultur absolut gesetzt, die in Europa über vier Jahrhunderte das Wirklichkeitsbewusstsein der oralen Kultur als subjektive Schein-Welt abgewertet hatte. Kein Christ des Mittelalters zweifelte an der Wirklichkeit Gottes und seiner Boten. Natürlich sah noch Luther wirkliche „leibhaftige Teufel“. Die Aufklärung wollte diese Wirklichkeits-Konstruktionen verdrängen. Aber die ersten ‘großen’ Gedanken des homo sapiens, als er zu denken lernte, waren mythische Gedanken, offenbar gehören Sprache, Denken und Mythen ganz eng zusammen (vgl. M-G-Link). Die ältesten erhaltenen Zeugnisse der Menschheits-Kultur sind in Stein gehauene Mythen. Das menschliche Gehirn tickt nicht nur mythisch - es versinnbildlicht diese Mythen auch gern (vgl. zur Schrift- und Bild-Magie   M-G-Link) und macht das konstruierte Wirklichkeitsbewusstsein damit sinnlich erfahrbar. Wort-magische Kreationen des Gehirns sind die großen Ordnungs-Mächte in der Geschichte.  

Die rationale Religionskritik hat dem mythischen Sinnstiftungs-Bedürfnis nicht viel anhaben können. Die moderne Hirnforschung lehrt uns, wie kompliziert der Prozess ist, mit dem unser Gehirn aus spärlichen elektrischen Signalen der Außenwelt sein „Wirklichkeitsbewusstsein” komponiert. 
Die Frage wäre also eher, wie die neuen Phantasie-Welten der bewegten Bilder alte Phantasie-Welten in sich aufnehmen können und wie die medialen Welten von den Bewohnern des ‘global village’ zu einem modernen Wir-Ich integriert werden können.

Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte (mit Literaturhinweisen):

    Selbst im Netz - Identitätskonstruktionen des „Wir-Ich” in der digitalen Medien-Gesellschaft   MG-Link
    Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze   M-G-Link
    Über die Realität der medialen Fiktion M-G-Link

    Das Gehirn spinnt Sinn  - Gehirngespinste  M-G-Link
    Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares  M-G-Link
    Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung  M-G-Link 
    Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden    M-G-Link

    Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes  M-G-Link
    Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur M-G-Link

    Bewegende Bilder – Geschichte des Films  im 19. Jahrhundert M-G-Link
    Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie   M-G-Link
    Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource M-G-Link 

Lit.:
Wolfgang Brückner, Bilddenken - Mensch und Magie oder Missverständnisse der Moderne (2013)