Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Meine Studienbücher:

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

Cover POP2

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

 

 

 

Bilddenken, Bildhandeln

Bilder sind Träger von Denkprozessen. Bilder sind die Medien des Unsagbaren.
Über die Kommunikationsweisen der Wort-Laute, der Gebilde und der Gebärden

2024

Als Mittel der Kommunikation haben Bilder Wirkung auf den, der ein Bild sieht. Der Begriff „Bild-Handeln“ unterstellt Motive und Strategien bei deren, die Bilder aussenden oder auf Bilder aufmerksam machen. Schon wenn sich Menschen mit Kleidung schön machen oder schminken, bedeutet das „Bild-Handeln”: Sie wollen das Bild, das andere sich von ihnen machen, bewusst und gezielt gestalten. Der Begriff „Bild-Handeln“ betont die Motive und Strategien derer, die Bilder aussenden oder auf Bilder aufmerksam machen. Die Inszenierung eines Herrschers ist genauso Bild-Handeln wie die Repräsentation einer transzendenten Macht. Die frühen ägyptischen Hieroglyphen waren Gottes-Zeichen, wurden als Repräsentanten göttlicher Macht verstanden. Die Monumentalwerke der alten Kulturen waren Symbole der Vergemeinschaftung. Die Bildnisse der Herrscher sollten Macht demonstrieren im Sinne von „Bild-Handeln“. Die Münzen waren mit dem Bildnis des Herrschers geprägt, der für ihren Wert bürgen sollte. Das Bild funktionierte als „Statthalter“ der Macht, als  symbolische Ko-Präsenz: Das Bild verlangte denselben Respekt wie die anwesende Autoritätsperson. Das Volk begreift die Machtstrukturen durch die Bilder und ist ergriffen von der Macht der Bilder. Dieser Umgang mit Bild-Symbolen kommt zum Ausdruck in dem Küssen der Bildnisse.
Die großen archaischem Artefakte, die Schnitz-Bilder, die Münz-Bilder und die heiligen Monumente waren machtvolle Zeichen und Ausdruck des Bild-Handelns der Mächtigen. Aber schon die weit verbreiteten, offenbar populären Venus-Figurinen der Jungsteinzeit sind ein frühes Beispiel dafür, dass Menschen sich ihre eigenen Artefakte „schnitzten”.

Mit den Holzschnitten des 15. Jahrhunderts begann die Bilderkultur der Renaissance sich - wie im griechischen Vorbild – auch nach dem Geschmack der Käufer zu richten. Moderne Produzenten von Bildern sind in der Regel auf kommerziellen Absatz aus, sie müssen sich nach dem Massengeschmack richten. Die Bilder der Massenmedien spiegeln daher den Massengeschmack, im Rahmen der jeweiligen bildtechnischen Möglichkeiten. 

Schon die frühneuzeitlichen Flugschriften nutzten intensiv die Bild-Agitation, um die Wirkung ihrer Botschaft zu vergrößern - die „Sänger“ der Neuigkeiten konnten die Holzschnitte den leseunkundigen Zuhörern zum Beweis ihres Rede-Vortrages zeigen.

Im 19. Jahrhundert nutzten dann die Zeitschriften und Zeitungen zunehmend die kommunikativen Möglichkeiten der Bilder. Ende des 19. Jahrhunderts kompensierte Kaiser Wilhelm den Verfall seiner Macht durch intensive Präsenz in der Öffentlichkeit – insbesondere mit wirkmächtigen Fotos in den populären Illustrierten.

Bild-Handeln war so immer schon ein Instrument der Machtpolitik - aber das Bild-Handeln erreicht seine Adressaten nur, wenn es eine Geschichte erzählt, die ihre inneren Bilder bedient. Ein Bild kann Emotionen erregen, Sinn transportiert es erst durch die Worte, durch die es begleitet wird.

Was ist das Bild?

Als „Bild” wird oft ein Bildträger bezeichnet, ein Stück Leinwand, ein fotografischer Abzug. Aber diese Bildträger sind nur Materie, von denen Lichtwellen reflektiert werden. Die stofflichen Bildträger sind für die Bild-Kultur nur die materielle Grundlage wie die strukturierten Schallwellen die Transport-Mittel für die Sprache sind. So wie aus den Schallwellen, den ein Sprecher aussendet, Sprache erst wird, wenn einer da ist, der die Töne als Sprache begreift, so wird das visuelle Muster des Bildträgers erst zum Bild, wenn ihm Bedeutung zugemessen wird, also wenn ein Gehirn ihm Sinn zuschreibt. Denn das Auge nimmt kein Bild auf, sondern nur Lichtwellen. Ein „Bild“ entsteht durch die Projektion von Bedeutungen auf ein Objekt in der Welt „da draußen“. Der projizierte Gehalt erscheint dem Beobachter als die Bedeutung des Bildes, das ihm vor Augen steht. Das Gedächtnis gleicht die einkommenden Seh-Eindrücke ab mit den Mustern früherer Sinneseindrücke und ihren begleitenden Erzählungen. Diese Interpretationen können bewusst geformt werden durch inszenierte Bilder. Erst wenn der Seh-Eindruck das gewollte Bild-Denken auslöst, wird das Zeigen des Bildes, das Bild-Handeln, rezipiert und zu einem Akt gelungener Kommunikation.  

Das „Bild“ im Kopf ist also eigentlich der kognitive wie sinnliche Wahrnehmungsmodus. Innere wie äußere Bilder sind Repräsentationen der Umwelt, in ihnen verdichten und fixieren sich Erinnerungen und Erfahrungen, Wahrnehmungen und Wunsche, Identitätsvorstellungen und Feindbilder. Das „Bild“, das eine Landschaft abgibt, wird in dem technischen Bildträger fixiert. Das Konzept der Landschaft ist ein Produkt des Reisens – erst durch die Faszination der fremden Landschaften wird der eigene Horizont zur „Landschaft“. Fixierungen der Landschaft gibt es in der Malerei vor allem seit dem 18. Jahrhundert. In Analogie zu den Bildern der fremden Landschaft wird dann die eigene Umwelt als „Landschaft“ wahrgenommen.   

Theater der Bild-Macht

Die Welt „da draußen" kann nur durch die Brille der in der  sozialen Gemeinschaft vorherrschenden Sinngehalte gelesen werden. Das Theater der Macht ist ein Versuch, die Wahrnehmung der Welt „da draußen“ vorzustrukturieren. Zum Beispiel muss ein „Volk“ in Bildern und bewegenden Ritualen symbolisch sichtbar werden, sonst existiert es nicht für den Betrachter. Man kann ein Volk nicht sehen.Erst die bildhaften symbolischen „Repräsentationen“ in den Köpfen - etwa Fahnen - machen aus der Ansammlung von Menschen eine Einheit „Volk“, eine durch Erzählungen und den Begriff verfestigte virtuelle Realität. Die Parole „Wir sind das Volk” untergräbt das Theater der Macht, indem sie ein Gegenbild zu den staatlichen Repräsentationen in den Köpfen produziert.

Menschen sind den sinnlich vor Augen geführten „Argumentationen” gegenüber zugänglicher als rational ausgeklügelten Sätzen. „Wenn man dem gemeinen Volk hundert und aber hundert mal mit auserlesensten Worten und Gründen vorstellte, daß es seinem Regenten gehorchen sollte, weil es dem göttlichen Befehl und der gesunden Vernunft gemäß wäre, dieser König sich aber in Kleidung und sonst in allem so schlicht wie ein gemeiner Bürger aufführte, so würde man wenig ausrichten”, das stellte 1719 Johann Christian Lünig fest. Er plauderte damit das Geheimnis des Staats-Theaters aus, das der Sonnenkönig Ludwig XIV vorgeführt hatte: „Allein man stelle demselben gemeinen Volk einen Fürsten vor, der prächtig gekleidet, mit vielen Hofleuten umgeben, von verschiedenen auswärtigen Prinzen und Gesandtschaften verehrt und von einer ansehnlichen Garde bedeckt ist, so wird das Volk anfangen, sich über dessen Hoheit zu verwundern, diese Verwunderung aber bringet Hochachtung und Ehrfurcht zuwege, von welchen Untertänigkeit und Gehorsam herkommen.“ Lünig verallgemeinerte: „Die meisten Menschen ... sind von solcher Beschaffenheit, dass bei ihnen die sinnliche Empfindung mehr als Witz und Verstand vermögen, deshalb werden sie durch Dinge, welche die Sinne kitzeln und in die Augen fallen, mehr als durch die bündigsten und deutlichsten Motiven commovieret.” Die Wirkung der Herrscherbilder lebt natürlich nicht aus den Bildern selbst, sondern aus den Phantasien, die durch alte Erzählungen als innere Bilder gefestigt haben, wie ein mächtiger Herrscher auszusehen hat.

Die modernen Bild-Technologien haben das „Bild-Handeln“ für jedermann verfügbar gemacht. Während die vormodernen Bild-Symbole die Herrschaft und die Gemeinschaft der Beherrschten sichtbar machten, geht es in den modernen Bildern um die Individualität der Identität von jedermann. 

Portraitfotos machen jedermann „unsterblich“. Familienfotos reproduzieren ein familiäres Gedächtnis - natürlich nur, wenn ich weiß, dass das eine alte Gesicht „der Uropa” darstellen soll und das andere die „Tante Elisabeth” - dann werden die Familienbilder zu Anlässen, immer wieder dieselben Familiengeschichten zu erzählen. „Familie“ stellt sich dann dar als Sammlung von  einem oder zwei Dutzend Geschichten dar, die Familienbilder und das Wort bringen „Familie” auf einen Begriff mit großem emotionalem Tiefgang.

Die modernen Selfie-Bilder sind die Medien, in denen das Selbst sichtbar wird – auch für andere. Sie sind die Poesiealben des modernen Ich.  Aus der Bildergalerie wird der eigene „Lebens-Film“ komponiert, „Ich“ als Krabbelkind, „Ich“ als Teenager, „Ich“ vor dem Eiffelturm. In der „Selfie“-Kultur wird das Bild, das ich von mir selbst poste, zu dem, was ich von mir selbst habe: Indem ich bestimmte Bilder von mir zeige und immer wieder anschaue, präge ich mein Selbstbild. Bilder können und sollen inszenieren, die meisten Selfies zeigen inszenierte Gesichtern, glücklich strahlende Menschen.

Die eigene Biografie prägt sich als Folge von Bildern ein. Irritierenderweise ähneln sich diese individuellen Bild-Biografien. Die Bilder vervielfältigen die Massenkultur selbst dort, wo sie ihre Objekte scheinbar höchst individuell zeigen sollen. Die persönlichen Selfies sind Teil einer medialen Massenkultur.

Bilder sind die Medien des Unsagbaren

Laut-Verständigung ist die Basis der kulturellen Selbstentfaltung des homo sapiens, seine komplexe Sprache ist einzigartig im Vergleich zu den vielfältigen Kommunikationsformen anderer Lebewesen. Aber in der intimen zwischenmenschlichen Kommunikation können die Botschaften der Berührung und des Duftes entscheidend sein. Für die emotionale Gruppen-Kommunikation ist die Laut-Verständigung durch den subtilen Klang der Gesänge und durch Musik ganz wesentlich. Das gegenseitige Empfinden der Menschen ist geprägt von den unbewussten leiblichen Kommunikationsformen.
Die geistig-kulturelle Welt der Menschen bedient sich neben der „Sprache des Verbalen“ der Sprache des Visuellen. Auch wenn der Kontext eines Bildes normalerweise durch Sprache vermittelt wird - ein Bild kann nur mehr aus tausend Worte sagen, wenn damit elementare Emotionen angesprochen werden. Manchmal sagt ein Bild auch etwas, was durch Worte nie so emotional intensiv kommuniziert werden könnte.

Temple Grandin oder: Autistinnen denken in Bildern

Temple  Grandin (geb. 1947) wurde sehr früh als Autistin diagnostiziert – und in ihrem jugenlichen Bildungsprozess nicht ausgesondert, sondern gefördert. Heute ist sie Hochschullehrerin und eine renommierte Tierforscherin. Ihre eigene Wahrnehmung als Autistin, so schreibt Grandin (u.a. in: „Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier“) ähnelt derjenigen von Tieren. Tiere haben eine oft erstaunliche Wahrnehmungsfähigkeit – müssen aber ohne Worte auskommen. Grandin vergleicht: „Als Mensch mit Autismus bestehen für mich die Gedanken aus fotorealistischen Bildern. [...] Wenn man mir ein Stichwort gibt, ‚Erdnuss' etwa, dann sehe ich eine Serie von Bildern, als erstes das Logo von Planter's Peanut, dann ein Restaurant, das Erdnussgerichte serviert, dann einen Sack voller Erdnüsse in einem Flugzeug." In ihrem Bewusstsein und ihrem Gedächtnis sind vor allem Bilder, die sie für die Außenwelt in Worte übersetzt.

Bei Menschen mit Autismus-Störungen ist die Fähigkeit, Sprache gezielt einzusetzen, um etwas Bestimmtes auszudrücken oder zu bekommen, oft beeinträchtigt. Für Grandin ist die Sprache kein Instrument für das Denken. Auszüge aus ihrer Autobiografie:
„Meine Ohren sind wie Mikrofone, die jedes Geräusch aufnehmen und verstärken. Ich habe deshalb zwei Möglichkeiten: Ich öffne meine Ohren und werde überschwemmt von Geräuschen oder ich schalte mein Gehör ab. (…) Wenn Erwachsene direkt zu mir sprachen, konnte ich alles verstehen, was sie sagten. Wenn Erwachsene untereinander sprachen, dann klang dies wie Kauderwelsch. Ich hatte die Wörter, die ich sagen wollte, in meinem Kopf, aber ich konnte sie nicht aussprechen; es war wie ein großes Stottern. Wenn mich meine Mutter aufforderte, etwas zu tun, kreischte ich.”

Grandin hat viele Aufsätze und Vorträge zum Thema Autismus verfasst und lehrt Tierpsychologie an der Colorado State University. Sie zeigt viele Fähigkeiten, die wir ‚Normalen‘ ebenfalls besitzen, aber einige davon sind besonders stark ausgeprägt. Ihre Autobiographie beginnt mit den Worten:
   „Ich denke in Bildern. Worte sind für mich wie eine zweite Sprache. Ich übersetze sowohl mündlich als auch geschriebene Wörter in Vollfarbfilme, komplett mit Ton, die wie ein Videorekorder in meinen Kopf. Wenn jemand mit mir spricht, werden seine Worte sofort in Bilder übersetzt. Sprachorientierte Denker finden dieses Phänomen oft schwer zu verstehen."
Aber Begriffe wie „Ding“ oder „Etwas“ sind kaum in Bildern zu fassen, Bilder stellen gewöhnlich bestimmte Gegenstände dar. Grandin nennt als Beispiel das Wort Elemente“ oder Eigenschaften wie „schön“, „trocken“ oder „brauchbar“. Wie kann man Begriffe wie Frieden, Ehrlichkeit, Macht, Ehre, Wille visualisieren? Frieden stellt sich Grandin als Taube vor oder als eine indianische Friedenspfeife, oder als Filmaufnahme der Unterzeichnung eines Friedensvertrages. Ehrlichkeit wird durch das Bild einer Person, die ihre Hand im Gerichtssaal auf die Bibel legt, dargestellt. Macht und Ruhm Gottes werden durch einen Regenbogen und einen Hochspannungsmast dargestellt. Der Wille Gottes wird durch einen Gott dargestellt, der einen Blitz schleudert.
Gefühle, so Grandin, sind bei Autisten anders organisiert. Gefühle sind mehr an Orte als an Personen gebunden. Mitgefühl mit anderen Personen visualisiert Grandin als Bild von einer Person mit konkreten Sorgen.
Die Rinder-Expertin Temple Grandin glaubt, dass auch Tiere in Bildern denken - ebenso wie sie selbst. Manche Tiere verfügen über ein hervorragendes optisches Gedächtnis und können viele Einzelheiten einer Situation visuell memorieren. Grandin merkt sich den Platz ihres Wagens auf einem großen Parkplatz wie Eichhörnchen, die sich die Lageplätze der vielen hundert Nüsse einprägen, die sie für den Winter verstecken.

Autisten nehmen Details wahr und darauf baut ihr Denken auf. Sie hat dieses Phänomen bei Tieren beobachtet: Spiegelungen von Licht auf einem nassen Boden oder eine sich bewegende Kette ängstigen Rinder, ein Gitter auf dem Boden hindert sie wie eine unüberwindliche Schranke am Weitergehen. Autisten haben zudem, so Grandin, eine starke Sensibilität für Töne. Autisten empfinden zudem eher eindeutige Gefühle, sie sind glücklich, ärgerlich, ängstlich oder traurig, sie scheinen aber nicht komplexe „gemischte Gefühle“ zu empfinden. Dominant ist Furcht als primäre Emotion. Menschen, die nicht über Sprache verfügen, kommunizieren mit Blicken, mit Gestensprachen, mit Händen und Füßen. Sie verbinden die Worte, die sie hören, mit einzelnen Bildern oder mit bewegten Szenen.

Um diese Form des assoziativen Bild-Denkens plausibel zu machen, verweist Dieter Lohmar auf die Tagträume, die einen erstaunlich großen Teil unseres Bewusstsein-Stromes ausmachen. Tagträume handeln von  wunscherfüllender Lust, von Furcht und Wut, also von Basis-Emotionen. In den Szenen der Tagträume erproben wir mögliche Handlungsoptionen, wir „spielen sie durch“. Insofern handelt es sich um „Kino im Kopf“.
In diesen Episoden unserer Tagträume treten die sprachlichen Ausdrücke in den Hintergrund zu Gunsten von bildhaften Elementen. Es gibt verschiedene empirisch-psychologische Untersuchungen über die Sex-Tagträume von Männern. Es gibt aber auch Angst-Tagträume oder Erfolgs-Tagträume. Anders als die nächtlichen Träume respektieren die Tagträume die Gesetze von Identität und Kausalität und die Zeitordnung von Ereignissen.


Bild-Handeln heute

Die Sehnsucht nach anschaulichen Bildern von virtuellen Welten ist von den religiösen Kulten auf das Theater, auf den Roman und inzwischen auch auf den Film übergegangen. Die kulturellen Artefakte transportierten immer schon Freiräume für sentimentale Phantasien, sie stimulieren die Sinne durch (zumindest sprachlich) ausgemalte Emotionen und Farbigkeit. 
Filmbilder prägen heute das kulturelle Wissen, in dessen Kontext die Menschen ihren Realitätseindruck wahr-nehmen. Lust an optischen Illusionen wird zum treibenden Moment der Lust an Phantasie. Bildsymbole geben dem Nicht-Sichtbaren, dem Nicht-Benennbaren,
dem Nicht-Greifbaren und dem Nicht-Begreifbaren eine sichtbare kommunikative Repräsentanz in der Gemeinschaft. Die imaginäre Gemeinschaft einer Fan-Gruppe oder einer Nation wird konkret und materiell durch die jeweilige Fahne, die stolz gezeigt wird und nicht entweiht und „geschändet“ werden darf. 

Die großen Bild-Illusionen der modernen medialen Kultur stehen in Konkurrenz zu einer banalen, manchmal elenden Wirklichkeit des Alltagslebens. Aber die „Realität“ des Alltags war immer grau im Vergleich zu menschlichen Phantasie-Produkten. Die Film-Phantasien sind der Technik voraus wie die Unsterblichkeits-Phantasien den praktischen Möglichkeiten der Medizinmänner. Phantasiereisen sind seit den Anfängen menschlicher Kultur ein Sonntags-Vergnügen für den menschlichen Geist, während der Leib in seinen biologischen Grenzen mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen im Alltag regiert.

 

s.a. meine Blog-Texte

    Bildmagie – zur Geschichte des christlichen Bild-Handelns   MG-Link
    Über die christliche Tradition der Steinigung der Venus   MG-Link

Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es in meinem Blog www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte:

    Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze MG-Link
    Über die Realität der medialen Fiktion MG-Link

    Das Gehirn spinnt Sinn  - Gehirngespinste  M-G-Link
    Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares  MG-Link
    Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung  MG-Link 
    Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden   MG-Link
    Bild  gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder   MG-Link

    Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes  MG-Link
    Das oral-visuelle Selbst  MG-Link
    Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur MG-Link

    Bewegende Bilder – Geschichte des Films  im 19. Jahrhundert MG-Link
    Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie   MG-Link
    Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource MG-Link

Literaturhinweis:

    Wolfgang Brückner, Bilddenken - Mensch und Magie oder Missverständnisse der Moderne (2013)
    Wolfgang
    Kaschuba, Dinge in Bewegung. Über Bildkonsum, aus: Matthias Bruhn u.a., Modernisierung des Sehens (2008)
    Dieter Lohmar, Denken ohne Sprache. Phänomenologie des nicht-sprachlichen Denkens bei Mensch und Tier im Licht der Evolutionsforschung, Primatologie und Neurologie (2016)