Klaus Wolschner                    Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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III
Medien
-Theorie

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Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie
ISBN 978-3-7418-5475-0
 

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:

Virtuelle Realität
der Schrift
ISBN 978-3-7375-8922-2

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen
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POP 55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1
 

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Konsumismus   Macht  Geschichte. 
Wir konsumieren, also bin ich –  persönliche Identität und
gesellschaftliche Politik
im Zeitalter des Konsumismus
 
ISBN: 9783819058455

 

Glück - Schicksal oder Technik des Selbst?

Was ist Glück? Alle suchen es, doch es ist schwer in Worte zu fassen und nirgends im Körper zu lokalisieren. Trotz des großen Medienzaubers bleibt es
„leibliches“ Empfinden, ein eindeutiges, aber gleichzeitig diffuses Bauch-Gefühl.
Über „Glückserlebnisse haben“ und „Glücklichsein“

 

2020 n

Was sagen Biologen dazu?

Glück ist zwar ein subjektives Gefühl, aber neurobiologisch gut beschreibbar, sagt der Bremer Biologe und Philosoph Gerhard Roth. Psychologen unterscheiden zwischen „Glückserlebnisse haben“ und „Glücklichsein“, Biologen finden dafür eine neurologische Entsprechung:
Glücklich sein, die „Lebenszufriedenheit“, das Wohlbefinden als Gefühl innerer Ausgeglichenheit hat ein eigenes neurochemisches Muster mit den Hirnbotenstoffen SerotoninDopamin und Oxytocin. Wichtig: Bindungserfahrungen in der Kindheit sind entscheidend dafür, wie zufrieden ein Mensch ist. Dieser Bereich der charakteristischen „Persönlichkeit“ ist bereits zwischen dem fünften und zehnten Lebensjahr ausgeprägt.
Die Einbindung in eine Lebensgemeinschaft, das Gefühl des Aufgehoben-Seins (Resilienz) ist wesentlich für Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Diese Lebenszufriedenheit ist Charaktersache und lässt sich mit medialen „Techniken des Selbst“ nicht managen.

Etwas anderes, auch neurobiologisch, ist das Glückerlebnis-haben, außergewöhnliche Glücksmomente erleben. Gehirneigene Endorphine (Opiate) werden ausgeschüttet, es kommt zu einer kurzzeitigen positiven Abweichung vom individuellen Zufriedenheitslevel. Der Glücksimpuls stimmt Zufriedene euphorisch, länger als bei Pessimisten. Das Glücksgefühl, das eintritt, wenn wir  Dinge „gekonnt“ ausführen und uns als selbstwirksam erleben, das sog. „Flow-Erlebnis“, habe noch einmal andere neurologische Aktivierungsmuster, sagt Roth.

„Glück“ erscheint uns als etwas höchst Individuelles, ein ganz persönliches Bauchgefühl, aber das persönliche Empfinden ist angewiesen auf Resonanz der Anderen, sonst ist es irritiert. Wer glücksstrahlend in Beerdigungsgesellschaft gerät, merkt, dass da etwas nicht stimmt und entzieht sich der für ihn „falschen Stimmung“. Genauso meidet der Trauernde eine fröhlicher Runde. Das Gefühl erfüllt wie eine „Atmosphäre“ den Raum um Menschen herum, sagt der Philosoph der neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz. Starke Gefühle haben eine große suggestive Kraft, „stecken an“, weiß der Volksmund.

Wie sehr diese Gefühle auch „soziale“ Gefühle sind, zeigt sich auch beim Gegenstück zum Glück, bei der Trauer. Trauer ist eine Reaktion auf den Verlust von Bindungen, typischerweise reagieren Menschen (und zum Teil auch Tiere) darauf mit sozialem Rückzug, Apathie und Resignation. Die biologische Entsprechung des Gefühls der Trauer liegt in der Steuerung derselben Botenstoffe im Gehirn, die für Glück und Leistungsfähigkeit „zuständig“ sind: Bei Liebes-Trauer sinkt zum Beispiel der Dopamin-Spiegel, das beeinträchtigt Motivation, Antrieb und Appetit. Herzschmerz stellt sich biologisch als Mangel an Noradrenalin dar. Noradrenalin steuert Herzkreislauf, Atmung, Stoffwechsel und auch die Magen-Darmfunktionen. Der Trauernde meidet alles, was ihm Glücksmomente bescheren könnte. Mangel an Noradrenalin zeigt sich auch bei Menschen mit Depressionen.

So gut Biologen auch die körperlichen Prozesse beschreiben können – sie sagen wenig über das leibliche Gefühl „Glück“.

Glück – war das immer dasselbe?

Es gibt eine umfangreiche antike Diskussion über den Begriff des Glücks, an die die Gelehrten der frühen Neuzeit anknüpften.  

Nur wenige schriftliche Überlieferungen gibt es zu der Frage, was das Volk in der Antike unter „Glück“ verstand. Auf dem Grabstein der Ägypterin Taimhotep (42 v.u.Z.) ist zu lesen: „O mein Liebster, mein Gatte, Lass dein Herz nicht müde werden, zu trinken und zu essen, trunken zu sein und zu lieben! Mache dir einen schönen Tag! Folge deinem Herzen Tag und Nacht! Lass keine Sorgen in dein Herz! Koste die Jahre aus, die auf Erden sind!“

Gedichte dieser Art stehen in der Tradition der altägyptischen Harfnerlieder, die die Menschen beim Festgelage an den nahenden Tod erinnern und zum Feiern ermuntern. Im Refrain des musterhaften Antef-Liedes heißt es: „Feiere den schönen Tag, werde dessen nicht müde! Bedenke: Niemandem ist es gegeben, seine Habe mit sich zu nehmen. Bedenke: Keiner, der ging, ist je wiedergekommen.“

Der Philosoph Aristoteles, Sohn des Leibarztes des makedonischen Königs, verachtete diese Volkskultur, für ihn war „die Masse der Menschheit offensichtlich in ihrem Geschmack ziemlich sklavisch und bevorzugt ein Leben, das für Bestien geeignet ist".

„Techniken des Selbst“ der antiken Philosophen

Griechische Philosophen hatten verschiedene Worte für das Glück – „olbos“ bedeutete Glück und Wohlstand, „eutychia“ Glück und Erfolg“. „Eudaimonia“ bezeichnete Glück im Sinne einer gelungenen Lebensführung nach den Grundsätzen der philosophischen Ethik und in der Harmonie mit Polis, Familie und Freundschaft. „Eudaimonia“ bedeutete also dauerhafte Lebenszufriedenheit im Unterschied zum glücklichen Zufall oder momenthaften angenehmen Gefühlslagen. In den Worten von Aristoteles: „Wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, so macht ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig."

Für Platon war die „Weisheit“ entscheidend für ein gutes und glückliches Leben. Die Vergnügungen des Volkes lehnte er - wie Aristoteles - als tierisch ab. Für Platon hat die menschliche Seele drei Teile: Die Vernunft, den Willen und das Begehren. Ziel sei es, dass alle drei Seelenteile im Gleichgewicht und miteinander befreundet sind – und sich nicht widersprechen. Auch für Aristoteles war „Glück eine Aktivität der Seele in Übereinstimmung mit der Tugend“. Der Philosoph Epikur radikalisierte die Ablehnung leiblicher Lust – für ihn die Schmerzvermeidung wesentlich für das Glück. Die populäre Vorstellung des Glücksrades griff er auf: Glück finde man nicht im Genuss der weltlichen Güter, sondern durch Reduktion auf die notwendigsten Bedürfnisse, weil extreme Lust extreme Unlust nach sich ziehe. Noch weiter gingen die Philosophen der Stoa - „Begierde ist ein unvernünftiges Verlangen“ erklärte Zenon. Seneca propagierte die Bedürfnislosigkeit unter dem Titel „Vom glücklichen Leben“.

Die komplizierten Gedanken der Philosophen zum Thema Glück haben das gemeine Volk kaum erreicht. Dass sie sich derart komplizierte Gedanken machen konnten und dass wir davon wissen, hängt mit der Erfindung der Schriftkultur zusammen – griechische Denker waren fasziniert von dem gedanklichen Spiel mit abstrakten Begriffen. (MG-Link) Und sie nutzten diese Gedankenspiele, um sich zu profilieren – sie waren nämlich Privatgelehrte, die von ihrem Renommée und ihren Schülern lebten. Das originelle Philosophieren war also eine „Technik des Selbst“ für sie.

Die einzigartige Bedeutung der griechischen Philosophie erklärt sich aus dieser einzigartigen sozialen Stellung der Philosophen. In allen anderen Kulturen der antiken Zeit standen die Gebildeten im Dienste der religionsphilosophischen Rechtfertigung von Herrschaft. Ihre Profilierung bestand nicht darin, etwas Originelles zu denken und aufzuschreiben, sondern das zu bestätigen, was immer schon als göttliche Offenbarung bekannt war und den Machtanspruch ihres Herrschers bestätigen konnte.

„Technik der Macht“ der jüdischen und christlichen Religionsphilosophie

Die jüdische Talmut-Tradition und das Neuen Testament enthalten kein Äquivalent zu den griechischen Glückskonzepten. In der Bibel wird das populäre Glück der Festgelage mit ihren Ausschweifungen zur Sünde erklärt. „Selig“ – als glückselig – sind die, die die Gebote erfüllen, denn das Himmelreich ist ihr, heißt es in den Seligpreisung (Mt 5,3–10) des jüdischen Wanderpredigers Jesus.

Augustinus, Bischof und von der Kirche später zum „Heiligen“ erklärt, hat Senecas Buchtitel „Vom glücklichen Leben“ vier Jahrhunderte später aufgegriffen (De beata vita, 386) und eine christliche Wendung hinzugefügt: „Vollkommenen Glückseligkeit“ könne es nicht im irdischen Leben, sondern nur im „ewige Leben“ geben, versprach er, und über den Zugang zum Himmel verfügte seine Kirche. Der Sündenbegriff wurde zum Herrschaftsinstrument der christlichen Staatskirche, die griechischen philosophischen Bücher wurden im Zuge der christlichen Machtergreifung verbrannt, die Akademie in Athen geschlossen.

Die machtpolitische Seite der christlichen Philosophie vom Glück hat der Islam aufgegriffen. Er lockt junge Männern, die im Kampf für den Kalifen sterben, mit der Märtyrer-Ehre und verspricht 77 Jungfrauen (ganz nach dem Motto: Was im irdischen Leben als Haram untersagt ist, wird für das himmlischen Leben in Fülle versprochen. Die christliche Vision vom Himmel ähnelt dagegen eher eine Versammlung von Kiffern.

Der christliche Herrschaftsdiskurs über Glück

Die christliche Verdammung des Strebens nach Glück dominierte bis ins spätmittelalterliche Europa - über ein Jahrtausend. Aber was dachte das Volk? Sehr populär war nach wie vor das Schicksalsrad. Fortuna ist die Göttin des Zufalls und des Glücks. Die offizielle christliche Religion hat keine Glücksgötter anzubieten, aber sie definiert die Ordnung der Gemeinschaft, bietet Sinn. Die religiösen Erzählungen und die parasoziale Bindung an Götter gaben der materiellen Not und dem Unglück einen Sinn. Offenbar war das Bedürfnis nach Sinn für die Menschen in diesem kulturellen Entwicklungsstadium stärker ausgebildet als das Bedürfnis nach individuellem Glück. Starke Glücksmomente finden die Menschen in der Festkultur, wo sie sich alle paar Wochen besaufen und sexuell vergnügen können – als Unterbrechung der Phasen der schweren Arbeit. Noch Luther fand deswegen, dass die sündigen Menschen wenigstens heiraten sollten Ehe sei „Arznei von Gottes Gnaden - gegen die Hurerei", die sonst im Volk herrschte. Letztlich blieb die  kirchliche Sünden-Predigt genauso ohne nachhaltigen Erfolg wie die staatlichen Strafandrohungen. Dass die Menschen in der Ehe auch nicht glücklich sind, wussten die Menschen aus Erfahrung, und diese Erfahrung spiegelte sich zum Beispiel in der populären Erzählung „Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar“ (Kaufringers Märe, 1464), die auf den Marktplätzen erzählt wurde:  Ein reicher Bürger sucht ein glückliches Ehepaar, er findet keines und kehrt bescheiden geworden zu seiner Ehefrau zurück.

Der Hedonismus der amerikanischen Verfassung

Und dann erklärt nach 1000 Jahren christlicher Sündenpredigt die Verfassung  der USA, die Menschen hätten ein Recht auf „Life, Liberty and the pursuit of Happyness". Da ging es noch nicht um Persönlichkeitsrechte, sondern schlicht um das Leben und um die Gedankenfreiheit. Das was die Kirche zur Sünde erklärt hat, das irdische Streben nach Glück, wird als „Persuit of happyness“ zum verfassungsrechtlich verbrieften Menschenrecht. Recht, nach irdischem Glück zu streben! Das war im Land der Pietisten-Einwanderer eine klare Kampfansage der Aufklärer gegen die „Techniken des Selbst“, die die Religion predigte. In dem bundesdeutschen Grundgesetz kommt an drei Stellen das Wort „Unglück“ vor, wo es um die Ermächtigung des Staates geht. Glück und ein Recht auf Streben nach Glück für die Bürger gibt es da nicht.

Rund 200 Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung der USA wurde mit der amerikanischen Hippie-Bewegung der „Hedonismus“ zur Massenkultur. Dabei spielte die Delegitimierung des Staates im Protest gegen das sinnlose Morden im Vietnam-Krieg („Make love, not war!“) eine wichtige Rolle, im Kern richtete sich diese Protestbewegung gegen die Leistungsgesellschaft und die lustfeindlichen  Normen der Alltagskultur („Flower-Power“).

Auch der Begriff des Hedonismus geht auf die griechische Philosophie zurück, geprägt wurde er im 4. Jahrhundert v.u.Z. von Aristippos von Kyrene. Der behauptet gar, die körperliche Lust sei der eigentliche Sinn des Lebens. Der radikale französische Aufklärer Julien Offray de La Mettrie hatte die Idee des Hedonismus aufgegriffen – seine Schrift „Die Kunst, Wollust zu empfinden“ erschien anonym in seinem Todesjahr 1751. 

Der moderne Hedonismus und die „Techniken des Selbst“

Der Hedonismus war in der Mitte des 20. Jahrhunderts genauso eine Provokation wie im 18. Jahrhundert: „Sinn des Lebens“ war nicht mehr das Engagement für eine Idee, für die Arbeit, für die Familie, für die Kinder, gegen den Vietnamkrieg, Freiheit - nur das eigene Glück. In Zentrum stand die Wollust, freie Sexualität, Ablehnung der protestantische Arbeitsmoral. Basis ist der Konsumismus – gesellschaftlicher Reichtum, alles schien reichlich vorhanden und käuflich. Es ging um Selbstverwirklichung im Spaß.
Das bedeutet nicht nur Entmachtung des Herrschaftsdiskurses der alten Götter, auch Entmachtung der neuen Herrschaftsdiskurse von Aufklärung und Humanismus: Man lebt nicht mehr für die großen Ideen, sondern genießt die käuflichen Vergnügungen des „Hier und Jetzt“ und die Freiheiten des Privaten. Träger dieser hedonistischen Bewegung, die sich parallel zum amerikanischen „Konsumismus“ rasch auch in Europa ausbreitete, waren vor allem Studenten: Die akademische Elite pflegt im Grunde einen „Freizeit-Hedonismus“. Inzwischen ist die Zahl der radikal-hedonistischen Aussteiger deutlich geringer als die der Menschen, die davon reden, dass auch Arbeit „Spaß machen” müsse.

Die Parole „Alles ist möglich!“ ist trügerisch. Die episodischen Glücksmomente der Freizeitkultur ersetzen nicht das Gefühl der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, das insbesondere von der sozialen Einbindung abhängt. Und dieses Gefühl der Lebenszufriedenheit ist den „Techniken des Selbst“ nicht zugänglich, insbesondere wenn sich diese Selbst-Techniken beschränken auf die illustrierte Werbung und die medial propagierten Wünsche nach einem ständigem „Mehr“ an (käuflichen) individuellen Glücks-Episoden. Das elektronische Medien-Glück ist theatrales Glück, der Medienlogik unterworfen – immer mehr, immer öfter. Die Glückssuche wird zwanghaft, denn die Höhepunkt der Glücks-Reize können von Natur aus nur von kurzer Dauer sein, das bestätigen auch die Neurobiologen. Populäre Ratgeber zum Thema kreisen um dieses Dilemma, etwa Sonia Laszlos Buch „Fuck Happiness - Von der Tyrannei des Glücks“ (2012). Der populäre Glücks-Philosoph Wilhelm Schmid polemisiert in seinem Essay „Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente des Glücks“ (2006) dagegen, dass wir lauter medialen „Sei-glücklich-Müll schlucken, der uns alles verspricht und an dem wir am Ende ersticken.“

Die Protagonisten der der kulturellen Revolte der 1968er Jahre  gingen noch von der alten Idee des „romantischen Individualismus“ aus, nach der das „wahre Selbst“ des Individuums nur aufzufinden und zu spüren sei, man musste es aus den entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen befreien. Die neuen Theoretiker dieser alten romantischen Idee waren u.a. Herbert Marcuse und Wilhelm Reich.

Das scheint ein letztes Aufleben des alten romantischen Individualismus gewesen zu sein -  schon in den 1980er Jahren setzte sich – so Undine Eberlein – ein neuer Typus durch: Das Individuum musste sich nicht mehr selbst finden, sondern sein Selbst produzieren. „Die Einzelnen werden mit einem ständigen Strom neuer Bilder, Codes und Anreize aus einem schier unendlichen globalen kulturellen Reservoir konfrontiert, aus dem sie in eigener Regie und Verantwortung eine immer wieder neue Auswahl von Elementen zur Nachahmung und Aneignung treffen (sollen).“ Während der alte romantische Individualismus die „Konsumindustrie“ als Verlockung einer Fremdbestimmung der Individuen ablehnte, bedient sich der moderne Individualismus bei den Mustern der glitzernden Warenwelt. Selbst die Normen körperlicher Schönheit entstammen der Warenästhetik.

Mit den digitalen „sozialen“ Medien des 21. Jahrhunderts ergibt sich für jedermann die Möglichkeit der medialen Selbst-Inszenierung und Selbstthematisierung - unabhängig von dem Rang in der Gesellschaft, den ein Mensch innehat, und von dem sozialen Ort, an dem ein Mensch sich körperlich gerade aufhält. Virtuelle Gemeinschaften verdrängen die körperlichen Gemeinschaften als Resonanzraum der individuellen Selbst-Konstruktion. Die körperliche Identität bleibt dennoch die Basis aller Konstruktionen des Ich, das wird spätestens dann immer deutlich, wenn sich Menschen körperlich begegnen und die medialen Konstruktionen scheitern, weil sich virtuelle Wirklichkeitsbilder als unangemessen erweisen – der alte Traum vom Fliegen lässt sich mithilfe von Techniken von „Mixed“ oder „Augmented Reality“ verfolgen, der nackte Mensch kann aber nur im Drogenrausch fliegen und da landet er hart.

Der Mensch empfindet nur weitgehend widerspruchsfreie Selbstinterpretationen als befriedigend. Die Konstruktionen der Identität müssen daher die Beschränkungen der physischen Natur und die Fremdbestimmungen der körperlichen Existenz in das Selbstbild einbinden, wenn dieses Selbstbild realitätstauglich sein soll. Ein übergewichtiger Mensch muss den Widerspruch zu den Normen körperlicher Schönheit in sein Selbstbild integrieren, ein Hilfsarbeiter kann sich schwerlich eine Identität als Bankenchef konstruieren. Wie schwer das ist, die Freiheit der Identitätskonstruktionen mit den engen Bindungen des körperlichen Kern-Selbst in eine Harmonie zu bringen, zeigt die Zunahme von niedrigschwelligen therapeutischen Hilfe-Gesuchen.
Nur Menschen, die mit ihrem Schicksal zufrieden sind, können „glücklich sein“. Der Mensch ist in seinen Leib und in ein WIR, seine Lebensgemeinschaft, eingebunden. Mit medialen Selbst-Inszenierungen lassen sich vor allem Fremde beeindrucken, sie haben ein gewisses Potential der Autosuggestion und können Momente des „Glück-Habens” bringen. Mediale Resonanz ist aber etwas zusätzliches, der Kern des Glücklichseins bleibt an den Leib und die reale Lebensgemeinschaft gebunden. Mediale Inszenierungen, die sich allzu weit davon entfernen, haben ein großes Absturz-Potential.

    siehe auch meine Medien-Gesellschafts - Texte
    Körper haben, Leib sein   MG-Link
    Kommunikatives Kraulen  MG-Link
    Das oral-visuelle Selbst   MG-Link
    Digitale Realität   MG-Link
    Selbst im Netz  MG-Link
    Wie das Ich entstand  MG-Link
    Food-Medien  MG-Link

    Literaturhinweise:
    Kurt Bayertz, Eine Wissenschaft vom Glück: Was ist Glück? (2019)
    Undine Eberlein, Einzigartigkeit (2000)
    Bruno Heller, Glück. Ein philosophischer Streifzug (2004) 
    Wilhelm Schmid, Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente des Glücks (2006)
    Gerhard Roth/Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht (2014)
    Martin Seel, Paradoxien der Erfüllung, in: Susan Neumann/Matthias Kroß (Hrsg.): Zum Glück (2005)
    Thomas Staubli/Silvia Schroer, Von Lebensfreude und Gluck, in: Menschenbilder der Bibel  (2014)