Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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III
Medien
-Theorie

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

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Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

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Cover POP2

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

 

 

 

Glück - Schicksal oder Technik des Selbst?

Was ist Glück? Alle suchen es, doch es ist schwer in Worte zu fassen und nirgends im Körper zu lokalisieren. Trotz des großen Medienzaubers bleibt es
„leibliches“ Empfinden, ein eindeutiges, aber gleichzeitig diffuses Bauch-Gefühl.
Über „Glückserlebnisse haben“ und „glücklich sein“

 

2020

Vorweg: Was sagen Biologen dazu?

Glück ist zwar ein subjektives Gefühl, aber neurobiologisch gut beschreibbar, sagt der Bremer Biologe und Philosoph Gerhard Roth. Psychologen unterscheiden zwischen „Glückserlebnisse haben“ und „glücklich sein“, Biologen finden dafür eine neurologische Entsprechung:
Glücklich sein, die „Lebenszufriedenheit“, das Wohlbefinden als Gefühl innerer Ausgeglichenheit hat ein eigenes neurochemisches Muster mit den Hirnbotenstoffen SerotoninDopamin und Oxytocin.
Glückserlebnisse zu haben ist etwas anderes ist es, auch neurobiologisch. Wenn wir außergewöhnliche Glücksmomente erleben, werden Gehirneigene Endorphine (Opiate) ausgeschüttet, es kommt zu einer kurzzeitigen positiven Abweichung vom individuellen biochemischen Zufriedenheits-Spiegel. Der Glücksimpuls stimmt Zufriedene euphorisch - notorische Pessimisten nur für einen kürzeren Moment.

Die biologische Entsprechung des Gefühls der Trauer liegt in der Steuerung derselben Botenstoffe im Gehirn, die für Glück und Leistungsfähigkeit „zuständig“ sind: Bei Liebes-Trauer sinkt zum Beispiel der Dopamin-Spiegel, das beeinträchtigt Motivation, Antrieb und Appetit. Herzschmerz stellt sich biologisch als Mangel an Noradrenalin dar. Noradrenalin steuert Herzkreislauf, Atmung, Stoffwechsel und auch die Magen-Darmfunktionen. Der Trauernde meidet alles, was ihm Glücksmomente bescheren könnte. Mangel an Noradrenalin zeigt sich auch bei Menschen mit Depressionen.
Das Glücksgefühl, das eintritt, wenn wir  Dinge „gekonnt“ ausführen und uns als selbstwirksam erleben, das sog. „Flow-​Erlebnis“, hat noch einmal andere neurologische Aktivierungsmuster, sagt Roth. Die Biochemie der Glücks-Botenstoffe ist so komplex, dass es (bisher) keine wirklichen Glücks-Pillen ohne erhebliche Risiken und Nebenwirkungen gibt.

So gut Biologen auch die körperlichen Prozesse beschreiben können
– sie sagen wenig über das leibliche Glücksgefühl.

„Glück“ erscheint uns als etwas höchst Individuelles, ein ganz persönliches Bauchgefühl. Aber das persönliche Empfinden ist angewiesen auf Resonanz der Anderen, sonst ist es irritiert. Starke Gefühle haben eine große suggestive Kraft, „stecken an“, weiß der Volksmund. Das Glück liegt vor allem im Begehren - im Genießen des Begehrens und des begehrt Werdens, also Objekt des Begehrens des Anderen zu sein. Die „Verwirklichung“ des Begehrens, das Erreichen des begehrten Objekts und insbesondere die Verschmelzung von sich Begehrenden löst das Begehren ein und löscht es gleichzeitig aus. Das ist die Ruhe nach dem Sturm. Glück ist nichts, was man besitzen kann, sondern ein flüchtiges Empfinden.

Allerdings gibt es eine Disposition: Bindungserfahrungen in der Kindheit sind entscheidend dafür, wie zufrieden ein Mensch sein kann. Dieser Bereich der charakteristischen „Persönlichkeit“ ist bereits zwischen dem fünften und zehnten Lebensjahr ausgeprägt.
Die Einbindung in eine Lebensgemeinschaft („Resonanz)“, das Gefühl des Aufgehoben-Seins ist wesentlich für Entwicklung von „Resilienz“ und für die Chance, bei allen Herausforderungen Zufriedenheit mit dem eigenen Leben zu empfinden. Diese Lebenszufriedenheit ist Charaktersache und lässt sich mit medialen „Techniken des Selbst“ nicht managen.

Wie sehr diese Gefühle auch „soziale“ Gefühle sind, zeigt sich auch beim Gegenstück zum Glück, bei der Trauer. Trauer ist eine Reaktion auf den Verlust von Bindungen, typischerweise reagieren Menschen (und auch einige Tier-Arten) darauf mit sozialem Rückzug, Apathie und Resignation. Wer glücksstrahlend in Beerdigungsgesellschaft gerät, merkt, dass da etwas nicht stimmt und entzieht sich der für ihn „falschen Stimmung“. Genauso meidet der Trauernde eine fröhlicher Runde. Das Gefühl erfüllt wie eine „Atmosphäre“ den Raum um Menschen herum, sagt der Philosoph der neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz.

Glück – war das immer dasselbe?

Es gibt eine umfangreiche antike Diskussion über den Begriff des Glücks, an die die Gelehrten der frühen Neuzeit anknüpften.  

Nur wenige schriftliche Überlieferungen gibt es zu der Frage, was das Volk in der Antike unter „Glück“ verstand. Auf dem Grabstein der Ägypterin Taimhotep (42 v.u.Z.) ist zu lesen: „O mein Liebster, mein Gatte, Lass dein Herz nicht müde werden, zu trinken und zu essen, trunken zu sein und zu lieben! Mache dir einen schönen Tag! Folge deinem Herzen Tag und Nacht! Lass keine Sorgen in dein Herz! Koste die Jahre aus, die auf Erden sind!“

Gedichte dieser Art stehen in der Tradition der altägyptischen Harfnerlieder, die die Menschen beim Festgelage an den nahenden Tod erinnern und zum Feiern ermuntern. Im Refrain des musterhaften altägyptischen Antef-Liedes heißt es: „Feiere den schönen Tag, werde dessen nicht müde! Bedenke: Niemandem ist es gegeben, seine Habe mit sich zu nehmen. Bedenke: Keiner, der ging, ist je wiedergekommen.“

Der Philosoph Aristoteles, Sohn des Leibarztes des makedonischen Königs, verachtete diese Volkskultur, für ihn war „die Masse der Menschheit offensichtlich in ihrem Geschmack ziemlich sklavisch und bevorzugt ein Leben, das für Bestien geeignet ist". Die abfälligen Bemerkungen über das Glück des Volkes geben einen Hinweis darauf, dass die hehren philosophischen Gedanken das gemeine Volk kaum erreicht haben.

„Techniken des Selbst“ der antiken Philosophen

Griechische Philosophen hatten verschiedene Worte für das Glück – „olbos“ bedeutete Glück und Wohlstand, „eutychia“ Glück und Erfolg“. „Eudaimonia“ bezeichnete Glück im Sinne einer gelungenen Lebensführung nach den Grundsätzen der philosophischen Ethik und in der Harmonie mit Polis, Familie und Freundschaft. „Eudaimonia“ bedeutete also dauerhafte Lebenszufriedenheit im Unterschied zum glücklichen Zufall oder momenthaften angenehmen Gefühlslagen. In den Worten von Aristoteles: „Wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, so macht ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig."

Für Platon war die „Weisheit“ entscheidend für ein gutes und glückliches Leben. Wie Aristoteles lehnte er die einfachen menschlichen Vergnügungen als tierisch ab. Für Platon hat die menschliche Seele drei Teile: Die Vernunft, den Willen und das Begehren. Die drei Seelenteile sollten im Gleichgewicht und miteinander befreundet sein – und sich nicht widersprechen. Auch für Aristoteles war „Glück eine Aktivität der Seele in Übereinstimmung mit der Tugend“. Der Philosoph Epikur radikalisierte die Ablehnung leiblicher Lust – für ihn ist die Schmerzvermeidung wesentlich für das Glück. Die populäre Vorstellung des Glücksrades griff er auf: Weil extreme Lust extreme Unlust nach sich ziehe, würde der Weise das Glück nicht im Genuss der weltlichen Güter suchen, sondern durch in der Reduktion auf die notwendigsten Bedürfnisse. Noch weiter gingen die Philosophen der Stoa - „Begierde ist ein unvernünftiges Verlangen“, erklärte Zenon. Seneca propagierte die Bedürfnislosigkeit unter dem Titel „Vom glücklichen Leben“.

Die komplizierten Gedanken der Philosophen zum Thema Glück haben das gemeine Volk kaum erreicht. Dass sie sich derart komplizierte Gedanken machen konnten und dass wir davon wissen, hängt mit der Erfindung der Schriftkultur zusammen – griechische Denker waren fasziniert von dem gedanklichen Spiel mit abstrakten Begriffen (MG-Link). Und sie nutzten diese Gedankenspiele, um sich zu profilieren – sie waren nämlich Privatgelehrte, die von ihrem Renommée und ihren Schülern lebten. Das originelle Philosophieren war also eine „Technik des Selbst“ für sie.
Die einzigartige Bedeutung der griechischen Philosophie erklärt sich aus dieser einzigartigen sozialen Stellung der Philosophen. In allen anderen Kulturen der antiken Zeit standen die Gebildeten im Dienste der religionsphilosophischen Rechtfertigung von Herrschaft. Ihre Profilierung bestand nicht darin, etwas Originelles zu denken und aufzuschreiben, sondern das zu bestätigen, was immer schon als göttliche Offenbarung bekannt war und den Machtanspruch ihres Herrschers bestätigen konnte. 

„Technik der Macht“ der jüdischen und christlichen Religionsphilosophie

Die jüdische Talmut-Tradition und das Neuen Testament enthalten kein Äquivalent zu den griechischen Glückskonzepten. In der Bibel wird das populäre Glück der Festgelage mit ihren Ausschweifungen zur Sünde erklärt. „Selig“ – als glückselig – sind die, die die Gebote erfüllen, denn das Himmelreich ist ihr, heißt es in den Seligpreisung (Mt 5,3–10) des jüdischen Wanderpredigers Jesus.

Augustinus, Bischof und von der Kirche später zum „Heiligen“ erklärt, hat Senecas Buchtitel „Vom glücklichen Leben“ vier Jahrhunderte später aufgegriffen (De beata vita, 386) und eine christliche Wendung hinzugefügt: „Vollkommenen Glückseligkeit“ könne es nicht im irdischen Leben geben, und über den Zugang zum glücklichen „ewige Leben“ im Himmel verfüge seine Kirche, versprach er. Der Sündenbegriff wurde zum Herrschaftsinstrument der christlichen Staatskirche, die griechischen philosophischen Bücher wurden im Zuge der christlichen Machtergreifung verbrannt, die Akademie in Athen geschlossen.

Diese machtpolitische Seite der christlichen Philosophie vom Glück hat der Islam aufgegriffen. Er lockt junge Männern, die im Kampf für den Kalifen sterben, mit der Märtyrer-Ehre und verspricht 77 Jungfrauen ganz nach der Devise: Was im irdischen Leben als Haram untersagt ist, wird für das himmlischen Leben in Fülle versprochen. Die christliche Vision vom Himmel ähnelt dagegen eher eine Versammlung von Kiffern.

Der populär-christliche Herrschaftsdiskurs über Glück

Die christliche Verdammung des Strebens nach Glück dominierte bis ins spätmittelalterliche Europa - über ein Jahrtausend. Aber was dachte das Volk? Sehr populär war nach wie vor das Schicksalsrad. Fortuna ist die Göttin des Zufalls und des Glücks. Die offizielle christliche Religion hat keine Glücksgötter anzubieten, aber sie definiert eine metaphysische Ordnung der Gemeinschaft: Die religiösen Erzählungen und die parasoziale Bindung an Götter gaben der materiellen Not und dem Unglück einen Sinn. Offenbar war das Bedürfnis nach Sinn für die Menschen in diesem kulturellen Entwicklungsstadium mit der Kirche verbunden und damit legitim kommunizierbar, nicht aber das Bedürfnis nach individuellem Glück. Starke Glücksmomente fanden die Menschen in der Festkultur, wo sie sich alle paar Wochen besaufen und sexuell vergnügen konnten – als Unterbrechung der Phasen der schweren Arbeit. Noch Luther fand deswegen, dass die sündigen Menschen wenigstens heiraten sollten, die Ehe sei „Arznei von Gottes Gnaden - gegen die Hurerei", die sonst im Volk herrsche. Das ist einer der vielen Hinweise darauf, dass die kirchliche Sünden-Predigt ohne nachhaltigen Erfolg blieb, ähnlich wie in späteren Epochen die staatlichen Strafandrohungen.

Dass die Menschen in der Ehe auch nicht glücklich sind, wusste jedermann aus Erfahrung, und diese Erfahrung spiegelte sich zum Beispiel in der populären Erzählung „Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar“ (Kaufringers Märe, 1464), die auf den Marktplätzen erzählt wurde:  Ein reicher Bürger geht auf die Suche nach einem glückliches Ehepaar, er findet keines und kehrt bescheiden geworden zu seiner Ehefrau zurück.

Das Streben nach Glück in der amerikanischen Verfassung

Und dann erklärt nach tausend Jahren christlicher Sündenpredigt die Verfassung der USA, die Menschen hätten ein Recht aufLife, Liberty and the pursuit of Happyness". Neben die körperliche Unversehrtheit und die Gedankenfreiheit wird das gestellt, was die Kirche zur Sünde erklärt hatte, das irdische Streben nach Glück. Das war im Land der Pietisten-Einwanderer eine klare Kampfansage der Aufklärer gegen die „Techniken des Selbst“, die die Religion predigte. Bei John Locke hatte neben dem „Life“ und „Liberty“ noch „Property“ gestanden. Thomas Jefferson, der Locke verehrte, ersetzte Property gleichwohl durch Happiness. Und anders als in der druckfrischen „Bill of Rights“ seines Heimatstaates Virginia vom Juni 1776 fügt er der „happiness“ nicht gleich „safety“ an, also die gesellschaftliche Dimension der Sicherheit, Jeffersons kurze Formel des „persuit of Happiness“ öffnete das Menschenrecht Glück für eine vollkommen private Interpretation – gegen die aristotelische Tradition, in der ein nur genussorientiertes oder geldorientiertes Leben über tausend Jahre verdammt worden war. Das war sensationell und einzigartig.

In der deutschen Diskussion, etwa in Johann Justis „Policeywissenschaft“ (1756) ging es um die „Glückseeligkeit des gemeinen Wesens“. In der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 sollte es um das Gemeinwohl („bonheur de tous“) gehen, in der Revolutionsverfassung von 1793 heißt es: „Le but de la société est le bonheur commun“, das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück. Die französische Interpretation bezog sich auf die Überwindung der Armut, nur die reichen amerikanischen Revolutionäre konnten es sich leisten, das Glück individualistisch und privat zu denken. Der Revolutionär Louis Antoine de Saint-Just polemisierte 1793 gegen die private Interpretation des Glücksstrebens: „Einzelnes Glück und Eigeninteresse sind ein Verstoß gegen die soziale Ordnung, wenn sie nicht Teil des öffentlichen Interesses und Glücks sind.“ Das private Glücksstreben gehörte für den französischen Revolutionär „auf die Seite der Verderber der Menschheit“.

Der Konservative Oswald Spengler polemisierte 1918 in seinem Buch „Vom Untergang des Abendlandes“ gegen die emanzipatorischen kulturellen Glücks-Bedürfnisse der Frauen und wollte sie auf die Biologie reduzieren: „Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, sich gegenseitig zu verstehen.“  Auch die „kommunistische“ Idee des Glücks ist kollektiv, nicht individuell. Die Große Sowjetenzyklopädie kannte 1946 noch kein Stichwort „Glück“. In der Ausgabe von 1976 definierte sie: „Das Glück besteht im bewussten Dienst am Volk, im Kampf für die Umgestaltung der Gesellschaft, für die Verwirklichung des Kommunismus.“

In dem bundesdeutschen Grundgesetz von 1949 kommt an drei Stellen das Wort „Unglück“ vor, wo es um die Ermächtigung des Staates geht. Ein Recht auf Streben nach Glück für die Bürger ist da nicht ausdrücklich verankert, anders übrigens als etwa in der Verfassung von Staaten wie Japan oder Namibia oder der des buddhistischen Bhutan, wo das „Bruttosozialglück“ als Menschenrecht gilt.

Rund 200 Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung der USA wurde mit der amerikanischen Hippie-Bewegung der „Hedonismus“ zur Massenkultur. Dabei spielte die Delegitimierung des Staates im Protest gegen das sinnlose Morden im Vietnam-Krieg („Make love, not war!“) eine wichtige Rolle, im Kern richtete sich diese Protestbewegung gegen die Leistungsgesellschaft und die lustfeindlichen  Normen der Alltagskultur („Flower-Power“).

Auch der Begriff des Hedonismus geht auf die griechische Philosophie zurück, geprägt wurde er im 4. Jahrhundert v.u.Z. von Aristippos von Kyrene. Der behauptet gar, die körperliche Lust sei der eigentliche Sinn des Lebens. Der radikale französische Aufklärer Julien Offray de La Mettrie hatte die Idee des Hedonismus aufgegriffen – seine Schrift „Die Kunst, Wollust zu empfinden“ erschien anonym in seinem Todesjahr 1751. 

Der moderne Hedonismus und die „Techniken des Selbst“

Der Hedonismus war in der Mitte des 20. Jahrhunderts genauso eine Provokation wie im 18. Jahrhundert: Hedonismus bedeutet, dass der „Sinn des Lebens“ nicht mehr im aufopferungsvollen Engagement für eine Idee gesucht werden sollte, für Freiheit, für Frieden und gegen den Vietnamkrieg, für die Arbeit, für die Familie, für die Kinder. Der Hedonismus sucht den Sinn des Lebens im individuellen Glück, Arbeit und Protest sollten Spaß machen, des Glücks in Zentrum steht die Ablehnung der protestantischen Arbeitsmoral, die Wollust, die freie Sexualität. Basis ist der gesellschaftliche Reichtum, alles schien hier und jetzt reichlich vorhanden und käuflich. Es ging um Selbstverwirklichung im Spaß.
Das bedeutet nicht nur Entmachtung des Herrschaftsdiskurses der alten Götter,
sondern auch die Entthronung der neuen Herrschaftsdiskurse von Aufklärung und Humanismus: Man lebt nicht mehr für die großen Ideen, sondern genießt die Vergnügungen des „Hier und Jetzt“ und die Freiheiten des Privaten. Träger dieser hedonistischen Bewegung, die sich rasch auch in Europa ausbreitete, waren vor allem Studenten.

Die Protagonisten der der kulturellen Revolte der 1968er Jahre  gingen noch von der alten Idee des „romantischen Individualismus“ aus, nach der man das „wahre Selbst“ aus den entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen des Individuums befreien musste, um es aufzufinden und spüren zu können.

Selbstverwirklichung sollte gerade auch in der Arbeit stattfinden. In den 1980er Jahren setzte sich ein neuer Typus des romantischen Individualismus durch: Das Individuum musste sich nicht mehr selbst finden, sondern sein Selbst produzieren. Während der alte romantische Individualismus die „Konsumindustrie“ als Verlockung einer Fremdbestimmung der Individuen ablehnte, bedient sich der moderne Individualismus bei den Mustern der glitzernden Warenwelt. Selbst die Normen körperlicher Schönheit entstammen der Warenästhetik. Das Warenhaus erscheint als wahres Reich der Freiheit und des Glücks, weil es dort die Wahl gibt – jedenfalls für alle, die Geld haben, d.h. die sich in ihrem Arbeitsleben unterworfen haben. Die akademische Elite pflegt im Grunde einen „Freizeit-Hedonismus“. Das protestantisch-bürgerliche Ideal einer auf die Arbeit bezogenen, disziplinierten und angestrengt leistungsorientierten Lebensführung kommt unter die Räder des Konsumismus, so Norbert Bolz in seinem „Konsumistischen Manifest“ (2002). Wenn Arbeitgeber erklären, dass die Arbeit Spaß mache, dann wollen sie nicht nur die Arbeitskraft ausbeuten, sondern fordern zudem ein fröhliches „Ja“ zu den Zwängen der Produktionsprozesse und des Marktes, auf den die unterworfenen Subjekte keinerlei Einfluss haben.

Das Glück der digitalen Medienwelt

Die Orientierung der hedonistischen Freizeitkultur auf das „Hier und Jetzt“ ist trügerisch. Die episodischen Glücksmomente der Freizeitkultur ersetzen nicht das Gefühl der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, das insbesondere von der sozialen Einbindung abhängt. Und dieses Gefühl der Lebenszufriedenheit ist den „Techniken des Selbst“ nicht zugänglich, insbesondere wenn im Zentrum dieser Selbst-Techniken die medial propagierten Wünsche nach einem ständigem „Mehr“ an (käuflichen) individuellen Glücks-Episoden stehen. Glück ist nicht käuflich, weiß der Volksmund. Auch das elektronische Medien-Glück ist theatrales Glück, der Medienlogik unterworfen – immer mehr, immer öfter. Die Glückssuche wird zwanghaft, denn die Höhepunkte der Glücks-Reize können von Natur aus nur von kurzer Dauer sein, das bestätigen auch die Neurobiologen. Populäre Ratgeber zum Thema kreisen um dieses Dilemma, etwa Sonia Laszlos Buch „Fuck Happiness - Von der Tyrannei des Glücks“ (2012). Der populäre Glücks-Philosoph Wilhelm Schmid polemisiert in seinem Essay „Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente des Glücks“ (2006) dagegen, dass wir lauter medialen „Sei-glücklich-Müll” schlucken, der uns alles verspricht und an dem wir am Ende ersticken.

Mit den digitalen „sozialen“ Medien des 21. Jahrhunderts ergibt sich für jedermann die Möglichkeit der medialen Selbst-Inszenierung und Selbstthematisierung - unabhängig von dem Rang in der Gesellschaft, den ein Mensch innehat, und von dem sozialen Ort, an dem ein Mensch sich körperlich gerade aufhält. Virtuelle Gemeinschaften verdrängen die körperlichen Gemeinschaften als Resonanzraum der individuellen Selbst-Konstruktion. Die körperliche Identität bleibt dennoch die Basis aller Konstruktionen des Ich, das wird spätestens dann immer deutlich, wenn sich Menschen körperlich begegnen und die medialen Konstruktionen scheitern, weil sich virtuelle Wirklichkeitsbilder als unangemessen erweisen – der alte Traum vom Fliegen lässt sich mithilfe von Techniken von „Mixed“ oder „Augmented Reality“ verfolgen, der nackte Mensch kann aber nur im Drogenrausch fliegen und da landet er hart.

Der Mensch empfindet nur weitgehend widerspruchsfreie Selbstinterpretationen als befriedigend. Die Konstruktionen der Identität müssen daher die Beschränkungen der physischen Natur und die Fremdbestimmungen der körperlichen Existenz in das Selbstbild einbinden, wenn dieses Selbstbild realitätstauglich sein soll. Ein übergewichtiger Mensch muss den Widerspruch zu den Normen körperlicher Schönheit in sein Selbstbild integrieren, ein Hilfsarbeiter kann sich schwerlich eine Identität als Bankenchef konstruieren. Wie schwer das ist, die Freiheit der Identitätskonstruktionen mit den engen Bindungen des körperlichen Kern-Selbst in eine Harmonie zu bringen, zeigt die Zunahme von niedrigschwelligen therapeutischen Hilfe-Gesuchen. Ihr Geschäftsmodell beruht auf der Macht der Autosuggestion.

Nur Menschen, die mit ihrem Schicksal zufrieden sind, können „glücklich sein“. Der Mensch ist in seinen Leib und in ein WIR, seine Lebensgemeinschaft, eingebunden. Mit medialen Selbst-Inszenierungen lassen sich vor allem Fremde beeindrucken, sie haben ein gewisses Potential der Autosuggestion und können kurze Momente des „Glück-Habens” bringen.
Mediale Resonanz ist aber etwas Zusätzliches, der Kern des Glücklich-Seins bleibt an den Leib und die reale Lebensgemeinschaft gebunden. Mediale Inszenierungen, die sich mit ihren Autosuggestionen allzu weit davon entfernen, haben ein großes Absturz-Potential
.
 

    siehe auch meine Texte
    Digitale Erlebnisse   MG-Link
    Körper haben, Leib sein   MG-Link
    Kommunikatives Kraulen  MG-Link
    Das oral-visuelle Selbst   MG-Link
    Digitale Realität   MG-Link
    Selbst im Netz  MG-Link
    Wie das Ich entstand  MG-Link
    Food-Medien  MG-Link

    Literaturhinweise:
    Kurt Bayertz, Eine Wissenschaft vom Glück: Was ist Glück? (2019)
    Undine Eberlein, Einzigartigkeit (2000)
    Bruno Heller, Glück. Ein philosophischer Streifzug (2004) 
    Wilhelm Schmid, Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente des Glücks (2006)
    Gerhard Roth/Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht (2014)
    Martin Seel, Paradoxien der Erfüllung, in: Susan Neumann/Matthias Kroß (Hrsg.): Zum Glück (2005)
    Thomas Staubli/Silvia Schroer, Von Lebensfreude und Gluck, in: Menschenbilder der Bibel  (2014)