Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

Cover POP2

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

 

 

 

Das oral-visuelle Selbst

Über Selbst-Empfindungen vor der Schriftkultur und den Einbruch der
Herrschafts-„Macht des Wissens“ in der Aufklärung.
Und über die Wiederkehr der archaischen „Mixed Reality“-Suggestionen
in Zeiten „sozialer” audiovisueller Massenmedien

2020/23

Das menschliche Selbstverständnis in Kulturen, deren einziges Kommunikationsmedium die menschliche Stimme ist, ist an die unmittelbare leibliche Wahrnehmung und an die immer wieder erzählten Stammes- und Familien-Geschichten gebunden. Das orale Selbst ist wesentlich Kollektiv-Bewusstsein, es gibt kein „Ich“, das sich von der Sippe („Wir“) absetzen kann. Der Einzelne glaubt, was die Sippe von ihm erwartet. Der Einzelne tut, was die Sippe ihm zu tun vorgibt. Am Beispiel des australischen Totemismus hat schon Emil Durkheim eine Gemeinschaft beschrieben, die durch eine Gleichförmigkeit des Handelns und auch des Denkens und Empfindens im Sinne eines „Kollektivbewusstseins“ gekennzeichnet ist und in der die Lebenswelt so dominant ist, dass kein Spielraum für individuelles Selbst-Bewusstsein bleibt. Das religiöse Kollektiv-Bewusstsein schuf soziale Realität, und in diese Realität waren unzählige virtuelle Bedeutungsträger integriert – es war, modern gesprochen, eine „Mixed Reality“.

Das kollektive „Selbst“ in totemistischen Kulturen

In totemistischen Kulturen wurde mit Tiersymbolen die Ordnung der Gemeinschaft und die des Kosmos symbolisiert (zum Totemismus vgl. den Text Wie das Ich entstand, MG-Link) Solche Formen eines vormodernen Kollektivbewusstseins sind  frühe Vorformen späterer religiöser Kulte. Mit Fetisch-Artefakten und kollektiven performativen Ritualen wurde die absolute Autorität der Gruppenordnung zelebriert. Totemistische Kulturen sind empfundene Kulturen. Ihre Rituale der Gemeinschaft und ihre Bewältigungsstrategien für die Naturgewalten, denen sie ausgeliefert waren, sind nicht sprachlich ausdifferenziert, sondern gemeinschaftlich inszenierte Erlebnisse. Als „Mantik“ (mantikê) bezeichneten noch die alten Griechen die Erinnerung an die alte Kunst der Interpretation von Zeichen, die Kultur des Sehens und Wahrsagens. In der Mantik drückt sich ein vorsprachliches menschliches Bedürfnis aus, die Gemeinschaft zu festigen, pragmatische Hilfen für unmittelbar bevorstehende Handlungen zu erlangen und die Erfahrungen der Widrigkeiten der Welt mit einem Gegenzauber zu bannen.

Bis heute sind astrologische Selbst-Deutungen mit Hilfe von Sternbildern äußerst populär. Auch die Frömmigkeitspraktiken kleiner erfolgreicher Religionsgemeinschaften weisen darauf hin, dass eine allein die Vernunft ansprechende Aufklärung nicht heranreicht an die existentiellen Unsicherheiten und Ängste der Menschen und ihr Bedürfnis nach mentaler Einhegung dieser Ängste. Mantik repräsentiert ein sehr altes Wissensgeflecht, das zum Leben und Überleben hilft. Die modernen vernünftigen Wissensformen sind oft nicht „alltagsgeeignet". Es gibt eine gefühlte spontane Weltwahrnehmung und Weltdeutung, die schneller und „höher“ ist als alle Vernunft und mit der die Lücken an deren Rändern der Vernunft, die uns sonst ratlos lassen, geschlossen werden. Offenbar wird der menschliche Geist von einem „Willen zum Sinn“ (Viktor Frankl) angetrieben. Es gibt Eindrücke, zu denen uns rationale Erklärung fehlt, über die sich dennoch eine qualitative Welt erschließt.

Es gibt Befindlichkeiten, die sich nur schwer versprachlichen lassen und die als „irrational“ abgewertet von unserer aufgeklärten und sprachfixierten Reduktion von Wirklichkeit. Bei Licht sehen wir in das Gesicht eines anderen Menschen und spüren, wie er uns gegenüber gestimmt ist, unabhängig von dem, was er sagt. Im dunklen Keller imaginieren wir plötzlich Einbrecher und begreifen die Dunkelheit nicht naturwissenschaftlich als Abwesenheit von Licht, sondern empfinden Geräusche als Zeichen von Gefahr. Und auch in hocherotischen Situationen kommunizieren wir mit Lauten und nicht mit Sätzen der elaborierten Schriftsprache. Traum, Rausch und Ekstase sind „mantische“ (Wolfram Hogrebe) Formen der Darstellung  und Erkenntnis, auch die verschiedenen Formen von Wahrsagerei, die sich auf arbiträre Zeichen wie die Opferschau, die Voraussage aus dem Flug der Vögel oder Traumdeutung bezogen. In den medialisierten Science-Fiction-Phantasie-Welten kommen die von der Aufklärung diskreditierten mantischen Urgründe des Welterlebens wieder zu ihrem Recht.

Das kollektive „Selbst“ in frühen oralen Kulturen

In den Ritualen des sesshaften Homo sapiens wurde die Autorität personalisiert begriffen, wobei diese Personalisierung durchaus Tiergestalten symbolisch integrieren konnte. Die Personalisierung überträgt wie eine Metapher ein aus der Sippe bekanntes Autoritäts-Modell auf die gesamte Gemeinschaft – Gott ist Vater (oder Mutter). Mystische Artefakte signalisieren (göttliche) Allmacht und Allwissen. Die Zeichen erweitern das Körperbild des Herrschers um Identitätsvorbilder in doppelter Hinsicht: Das „Selbst“ eines ägyptischen Pharaos ist ein kollektives Selbst, er ist ein Glied einer unsterblichen Dynastie.

Gleichzeitig erweitern die Bildzeichen des Pharao seine Figur um die Dimension einer mystischen höheren Wirklichkeit, er ist irdischer Machthaber und Gott zugleich. Masken machen diese transpersonale Wahrnehmung sichtbar. Das vollkommene, stilisierte Körperbild lässt den Pharao als Mensch und gleichzeitig als Verkörperung der göttlichen, theokratischen Macht-Ordnung erscheinen. Symbolisierende Abbildungen machen ihn omni-präsent. Die Schriftzeichen in den Grabkammern und Sarkophagen sind die Gebete des Pharao und Zeichen dafür, dass er kein Leichnam ist, sondern nach wie vor präsent. 

Sein Bart, zum Beispiel, ist ein Teil der Stilisierung des göttlichen Pharao. Der natürliche Bartwuchs wurde rasiert, Form und Länge des Kunst-Bartes war rangabhängig. Auch das Totenbildnis des Sarkophags trägt den Osiris-Bart – Osiris war der Gotte des Jenseits, also Totengott, Gott der Wiedergeburt und des Nils. Der Osiris-Bart gehörte zur Diesseitigkeit wie zur Jenseitigkeit. Der Bart ist somit Zeichen höherer ewiger Macht. Die Kunst visualisiert die Durchdringung des Wirklichkeits-Bildes mit den Zeichen der transzendenten höheren Wahrheit. Die Totenmaske Tutanchamuns (ca. 1330 v.u.Z.) zeigt neben dem Glanz seiner Göttlichkeit den Osiris-Bart. Die göttliche Symbolik war im alten Ägypten sogar wichtiger als die männliche: Der Osiris-Bart konnte im Fall der weiblichen Erbfolge auch Frauen schmücken. Auch die Bildnisse der berühmten Königin Hatschepsut (ca. 1500 v.u.Z.) unterstrichen ihren Herrschaftsanspruch mit dem Osiris-Bart. 

Die ägyptische Mythologie kannte keine „Seele“, dafür aber einem unsterblichen Doppelgänger, Ka (bzw. Ba). Er wurde oft durch einen Vogel symbolisiert, er kann im Flug die göttliche und die menschliche Sphäre verbinden, auch Ka wurde mit dem Osiris-Bart dargestellt. Ka ist das Licht, die Lebenskraft, das unzerstörbare ewige Sein, das sich nur für eine Lebensdauer inkorporiert. Doppelbildnisse zeigten sowohl den Lebenden als auch den eigentlich unsichtbaren Ka.

Bild-Statuen wurden in der Antike mit Nahrungsmitteln, Waschungen und dem Einkleiden in kostbare Gewänder mit Verzierungen und Geschmeiden versorgt. Wer den Götterstatuen die Ehrung verweigerte wie die frühen Christen im römischen Imperium, der gefährdete das Staatswohl.

Das „Selbst“ im späten Mittelalter

Der Psychotherapeut Folker Fichtel hat die Frage aufgeworfen, wie „das psychische Haus, in dem das mittelalterliche Selbst wohnt“, ausgesehen haben könnte. Und zwar nicht bei den Eliten, deren schriftlich hinterlassene Zeugnisse von dem antiken Wissen geprägt waren, sondern bei dem einfachen Volk. In schriftlichen Dokumenten müsste man zwischen den Zeilen nach Hinweisen auf das Selbst-Verständnis des „gemeinen Mannes“ suchen.

Fichtel interpretiert die Bildwelten des niederländischen Malers Hieronymus Bosch (ca. 1450 – 1516) als Zeichen für vorsprachliche Bewusstseinsräume. Boschs malerische Visionen von apokalyptischen Landschaften, Lichttunneln, exotisch-phantastischen Paradiesgärten, von Chimären, hybriden Mischwesen aus zoomorphen, anthropomorphen und vegetabilen Elementen waren nicht nur kreative Imaginationen eines genialen Künstlers, sie verraten auch viel über die Phantasien, die die zeitgenössischen Betrachter aus ihnen herausgelesen haben müssen.

Denn der „spürbare Leib“ (Hermann Schmitz) war nicht wie in dem modernen Selbstverständnis ein abgeschlossener Körper, dessen Funktionsweise durch Mechanik und Biologie beschrieben und verständlich gemacht wird. Das leibliche „Ich“ war durchlässig für Wirk-Kräfte, die in der Terminologie der Aufklärung später als „Aberglaube“ oder als pathologisches psychisches Erleben diskreditiert wurden. In der magischen Bilderwelt der mittelalterlichen Kunst treten sie uns entgegen.

Vormoderne Bild-Artefakte wurden nicht als symbolische Repräsentanz begriffen, für den mittelalterlichen Betrachter war das Heiligenbild nicht einfach ein Abbild einer gedachten höheren Wirklichkeit. Es wurde performativ empfunden. „Es war Teil einer höheren Seinsform, war Teil des Dargestellten“ (Fichtel), so wie die Hostie in der Abendmahls-Feier nicht das Symbol des Leibes Christi ist, sondern Teil des Leibes selbst. Bild-Artefakte konnten weinen und bluten, heilkräftige Substanzen ausschwitzen oder Feinde und Geister abschrecken.

Der Betrachter war durch das Heilige im Bild-Artefakt unmittelbar mit dieser höheren Realität verbunden, er erfuhr geradezu sinnlich-körperlich eine „Ausweitung des Alltagsbewusstseins“, eine körperausweitende Seinsdimension: „Als Gotteserfahrung ist diese Erfahrungsdimension das Fundament eines theologischen Weltbildes, in dem sich das Subjekt als Teil eines umfassenden Schöpfungsplans versteht“ (Fichtel), der nur geahnt werden kann und für die schriftsprachliche Vernunft unbegreiflich bleiben muss. Der Sinnzusammenhalt wird mantisch erfahren und gespürt. In der visuellen Immersion erlebt der Mensch das Einswerden mit dem Unendlichen im Endlichen, wie Friedrich Schleiermacher formuliert hat.

Diese körperübergreifende und körperausweitende Seinsdimension kommt in der Vorstellungswelt der Besessenheit zum Ausdruck. Die Vorstellung der Besessenheit gibt es in fast allen menschlichen archaischen Kulturen. In seiner Studie „Die Besessenheit“ hat Traugott Konstantin Oesterreich (1921) das Phänomen beschrieben und als Spaltung des Persönlichkeitsbewusstseins analysiert. Noch bis ins 20. Jahrhundert „glaubten“ viele Menschen an Zustände durch Besessenheit, obwohl die kulturell dominante „aufgeklärte“ Interpretation die Phänomene der Besessenheit psychopathologisch interpretierte.

Die vor-aufklärerische Interpretation, dass hier Ahnen, Götter, Dämonen und der Teufel in die Person hineinwirken, kann auch auf diverse „Stellen“ in der Bibel und anderen heiligen Schriften verweisen. So gibt es noch heute Experten für Exorzismus  in verschiedenen Erzbistümern der katholischen Kirche, die sich mehr dem biblischen Zeugnis als der Aufklärung verbunden fühlen. „Der Wandel von der mittelalterlichen zur frühneuzeitlichen Psyche ist gekennzeichnet durch eine fortschreitende Abdichtung der Alltagsinstanz des ‚Ich‘ gegenüber transpersonalen Erfahrungsräumen und gleichzeitig einer zunehmenden Subjektivierung als Prozess einer Selbstreflexion, die das Individuum als solches erst konstituiert“, fasst Fichtel zusammen, wobei der Prozess offensichtlich in der frühen Neuzeit keineswegs für die Mehrheit der Bevölkerung abgeschlossen war. Das „Ich“ löst sich teilweise aus dem „Wir“ – ein Prozess, der Jahrhunderte andauerte. 

Über die Techniken des Gebets und der Kontemplation, die sich im 13. und 14. Jahrhundert verbreiteten und in den Stundenbüchern ihren gedruckten Niederschlag fanden, konnte der oder die meditierende Adelige ganz für sich an der höheren Realität teilhaben und die göttliche Atmosphäre spüren. Insbesondere die Heiligen-Legenden sind voller Beispiele für die Vorstellung der Durchdringung des menschlichen Körpers mit göttlichen (und teuflischen) Kräften. Das „Ich“ der Heiligen findet sein „Wir“ in dem göttlichen Gegenüber. Daraus ziehen Einsiedler die Kraft, sich aus der irdischen Gemeinschaft zu entfernen. Ihr „Ich“ empfinden sie nicht als gebunden an das Gefäß des irdischen Leibes und in ihm abgeschlossen. Sie werden wahrgenommen als Wesen, die - passiv leidend und aktiv handelnd - mit der höheren göttlichen Wirklichkeit verschmolzen sind. 

Wo ist das Ich-Bewusstsein entstanden?

Aus dem letzten Jahrtausend v.u.Z., so jedenfalls der amerikanische Psychologe Julian Jaynes, gibt es schriftliche Zeugnisse, die die ersten Zeichen eines neuen Ich-bezogenen Bewusstseins dokumentieren. Erst in den assyrischen Staatsbriefen des siebten Jahrhunderts v.u.Z. erscheint die Welt der Herrscher als eine seiner Empfindlichkeiten, Ängste, der Habgier, Widerborstigkeit und Bewusstheit. Erst in der griechischen Kultur seit dem 6. Jahrhundert ist „psyche“ nicht mehr der Atem, sondern eine Metapher für die Seele. Aus derselben Zeit stammt die Aufzeichnung der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies – die Menschen können sich dem Willen der Götter, also dem Kollektiv-Bewusstsein widersetzen und empfinden Scham, haben also individuelles Selbst-Bewusstsein. Jedenfalls privilegierte Menschen, die Macht über andere und über Reichtümer haben. 
  
(zu der Frage, wie sich in archaischen Texten die Anfänge eines Ich-Bewusstseins darstellen,
  vgl. meinen Text „Wie das Ich entstand“
 M-G-Link)

Kreatives visuelles Bewusst-sein

Auch wie wir das sehen, was wir sehen, ist das Ergebnis eines kulturellen Lernprozesses. Das Geheimnis des Seh-Sinns liegt darin, wie der reine Anblick des Bildträgers mit Sinn ausgestattet wird. Von der äußeren phänomenalen Welt filtert das Gehirn nur einige Reize heraus, denen es „Aufmerksamkeit” zukommen lässt und die damit (bewusst) wahrgenommen werden. Vollmer: „Die subjektiven Erkenntnisstrukturen ... (haben sich) im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet.“ Unser Wahrnehmungssystem liebt dabei keine Zweideutigkeiten, es neigt dazu, dem Bewusstsein eine eindeutige Interpretation vorzuführen. Die Wahrnehmung dient der Orientierung, um ein sinnvolle Reaktion vorzubereiten. Es sei deshalb biologisch zweckmäßiger, interpretiert der Evolutionsbiologe Vollmer, sich für eine spezielle Interpretation zu entscheiden – auch wenn sie nur 50 Prozent  Erfolgsaussicht bringt. Der größere Anteil des handlungs-steuernden visuellen Gedächtnisses ist ist emotional und unbewusst. (siehe dazu den Text über Bilder im Kopf M-G-Link)

Das vormoderne Selbst und das Schriftsprachen-Selbst

Die Welt, die wir aus eigener leiblicher Erfahrung und durch unsere fünf Sinne kennen, ist äußerst klein. Gleichzeitig ist unser „Welt-Bild“, also unser geistiger Horizont weit, umfasst seit den Anfängen des menschlichen Nachdenkens sogar die Sterne und das Weltall, mit denen höhere Mächte in Verbindung gebracht wurden. Wir „wissen“ vieles über die Zeit vor unserer Geburt und denken vieles über die Zeit nach unserem Tod. Gibt es einen Unterschied zwischen Wahnvorstellungen der „Mixed Reality“ und solidem Wissen, wer formuliert die Kriterien?

Sicher für die leibliche Erfahrung ist nur das, worauf wir uns in unserem praktischen Handeln verlassen können: Ein schwarzes Gebilde auf dem Boden kann ein Loch sein, ein rotes Flackern eine heiße Flamme. Ein „Fremder“ ist ein Mensch, von dem wir befürchten, dass er uns unfreundlich behandeln könnte. Es gibt leibliche Erfahrungen, wir merken uns Gesichter von vertrauenswürdigen Menschen und Geräusche im dunklen Wald, die nicht gefährlich sind.

Menschen „lernen“ aber vor allem durch ihre Sprache. Wobei die ethnologischen und linguistischen Forschungen von Daniel Everett bei dem Amazonas-Volk der Piráhá zeigen, dass allein die Sprachlaute in oralen Kulturen vergleichsweise wenig über das begrenzte Blickfeld hinaus führen. Sie begleiten vor allem die Gesten. Der Missionar scheiterte an der Kultur der Piráhá, weil sie nur das zu glauben pflegen, was sie sehen oder was von einem Augenzeugen bezeugt und berichtet wird – und für die Wunder von Jesus gab es keine Augenzeugen. Schrift war für sie kein Wahrheits-Kriterium, Wissen daher begrenzt auf den Erfahrungshorizont von zwei oder drei Generationen.

Das Medium der großen Erweiterung unseres engen persönlichen Erfahrungs-Horizontes ist also nicht schlicht die Sprache, sondern vor allem die differenzierte Schriftsprache. Diese Schriftsprache lernt man nicht in der Familie, sondern in der Schule. Während die mütterliche Sprache ein Kommunikationsmittel mit Menschen ist, dient die Schriftsprache der Kommunikation mit Texten. Erst die „elaborierte“ Sprache eröffnet den Zugang zu dem Wissen, das nicht spürbar oder sichtbar ist, sondern das den Horizont von drei Generationen überscheitet und als sprachlich abgespeicherter kultureller Wissenskanon unabhängig von den Köpfen anderer Menschen vorhanden ist. Nur über das „gespeicherte“ Sprachwissen kommt es zur Akkumulation von Wissen, zu dem Wagenheber-Effekt (Michael Tomasello). Intelligente Affen lernen – wie kleine Kinder - nur über das Vor- und Nachmachen, schulisch gebildete Menschen über Texte. Neben dem Wort, dem logos, verblassen alle anderen Wissens-Quellen in der Kulturgeschichte des Menschen – allerdings nur für die Gebildeten. Die Schriftkultur war über 2000 Jahre eine autokratische Herrschaftskultur. Wer über die Schrift verfügte, verfügte über Macht. Wissen bedeutet Macht über die Köpfe des Volkes. 

Wenn die europäische Aufklärung den Aberglauben bekämpft hat, dann ging es darum, das Erfahrungswissen des Volkes durch das Schriftwissen der Gebildeten zu ersetzen. Das Volk war immer skeptisch gegenüber dem reinen Bücherwissen, außerhalb der Schriftkultur gilt: Sehen ist Glauben. Sich auf seine fünf Sinne zu verlassen ist evolutionär, also von seiner biologischen Grundausstattung her,  verankert im menschlichen Gehirn. Die dem Gehirn von den Körpersinnen direkt zugeführten Information werden intuitiv als besonders glaubwürdig bewertet.

Die demokratischen, populistischen Medien der Moderne

Immer neue technische Medien haben seit dem 19. Jahrhundert die Phantasie des Volkes beflügelten und mit dem schriftsprachlichen Herrschaftswissen der Aufklärung konkurriert. Wie schon zuvor gegen die Attraktion des Films war gegen die Attraktivität des Fernsehens kein Kraut gewachsen. Vergeblich versuchten die gebildeten Stände, das neue Medium als Bildungsanstalt zu benutzen und es auf den Kanon der klassischen Schriftsprachen-Bildung zu beschränken. An der rasanten Durchsetzung des Unterhaltungsfernsehens mit seiner Bildsprache, die die Emotionen direkt anspricht, lässt sich zeigen, mit welcher Macht der visuelle Eindruck den schriftsprachlich gebildeten menschlichen Verstand an den Rand drängt.

Viel gründlicher noch als die Schule hat das Fernsehen die regionalen Dialekte an den Rand gedrängt – selbst wo Eltern bewusst ihren regionalen Dialekt sprechen, lernen Kindern vor dem Fernseh-Bildschirm Hochdeutsch.
Die Sprache der Nachrichten-Sprecher im Fernsehen ist die Schrift-Sprache der Gebildeten. Je populärer das Fernsehen wird, je mehr die Sender um ZuschauerInnen konkurrieren, je mehr private Sender und Film-Anbieter auf den Markt drängen, desto mehr nutzen die Spielfilme eine schlichte Alltagssprache. Aber die Produzenten der Filme gehören nach wie vor zu den gebildeten Schichten  Dennoch hat die gehobene Sprache im Fernsehen Mühe, ihr aufgeklärtes Weltwissen zu verbreiten. Zu suggestiv ist die Macht der Bilder. Allein aufgrund der Bilder vom Vietnamkrieg hat die Mehrheit der Bevölkerung verschiedenster Länder der westlichen Welt in den späten 1960er Jahren das Vertrauen in ihre gewählten politischen Führer verloren – während früher gewöhnlich die Außenpolitik einer „Nation“ breite Unterstützung erfuhr. Dieser erstaunliche Gesinnungswandel beruhte nicht auf klassischem Wissen, auf der Kenntnis der komplexen Realität, wie sie durch die Lektüre von „Qualitätszeitungen“ oder Büchern gewonnen werden kann, sondern auf dem Anschauungs-Empfinden. Das Fernsehen transportiert Weltwissens über Bilder. Angesichts der Bilder sterbender Menschen hat ein Begleit-Text, der den Krieg rechtfertigt, keine Chance. Die Bilder knüpfen an die körpersinnlichen Erfahrungen an, die auch für die Menschen im 20. Jahrhundert dominant geblieben sind im Verhältnis zu dem Schriftsprach-Wissen.

Genauso beziehen die „populistischen“ Protestströmungen des 21. Jahrhunderts, die immun zu sein scheinen gegen alle guten Argumente und alle Appelle an den „klaren Menschenverstand“, ihre Kraft aus der Macht schlichter Bilder und der entsprechenden Bild-Interpretationen in den „sozialen“, d.h. nicht von der Bildungselite kontrollierten Medien.
Die Mehrheit der Bevölkerung am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte, was ihr „Weltwissen“ angeht, kaum andere Wahl hatte als den gebildeten Führern zu vertrauen, Demokratie wurde daher von Max Weber zu Recht als „Wahl der Führer“ beschrieben. Die suggestive Macht der massenmedial verbreiteten Bilder führte dann zu einem Vertrauensverlust in die modernen Schriftgelehrten, das trifft speziell die Politiker und Journalisten. Das Welt-Bilderwissen lässt sich auch wieder mit Elementen der alten mentalen „Mixed Reality“ interpretieren – mit Hilfe von dunklen Mächten, bösen Verschwörern und geheimnisvollen Verbindungen lassen sich die Welt-Bilder viel plausibler begreifen als mit den Modellen seelenloser komplexer Strukturen.

    Literaturhinweise:

    Folker
    Fichtel, Selbsttechniken im späten Mittelalter  (Zeitschrift Widersprüche, Heft 87, März 2003)
    Fichtel bezieht seine Überlegungen auf die von Michel Foucault aufgeworfenen Fragen nach den „Techniken des Selbst”. Der französische Philosoph hat die Frage nach der Genese autonomer Spielräume des Subjekts in der „Mikrophysik der Macht” nach seiner selbstkritischen Wende nicht aufgegriffen, sondern sich wieder auf das vertraute Terrain mit den antiken Schriften befasst. Auch seine Enttäuschung von der „iranische Revolution“, in deren populären Protest-Charakter er große Hoffnungen gesetzt hatte, hat er nicht weiter öffentlich thematisiert. (vgl. MG-Link)
    Siegfried Frey, Das Bild vom Andern: Funktionsprinzipien der visuellen Eindrucksbildung, in: Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik (2005), S. 131
    Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik (2. Auflage 2013, 1. Auflage 1992)
    Hermann Schmitz, Der Leib (2011)
    Zu der Begrifflichkeit des „spürbaren Leibes“ s.a. die Buchbesprechung in literaturkritik, s.a. MG-Link

    vgl.a. die Texte
    Orale Kulturen MG-Link
    Altägyptische Kultur des Erkennens   MG-Link
    Kultbild-Verehrung in der Antike 
    MG-Link
    Kultgeschichte des Geschnitzten, Geritzten und Gemalten  MG-Link
    Das moderne ICH ohne WIR  MG-Link
    Das mythisch tickende, phantastische Gehirn MG-Link
    Bilddenken, Bildhandeln    M-G-Link

    Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität
    MG-Link
    Wie die neuhochdeutsche Schriftsprache entstand  MG-Link
    Über das Potential des Mediums Schrift 
    MG-Link