Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Wir-Ich Titel kl1

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Schriftmagie Cover

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

Augensinn Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1
 

Digitale Realität

Über die begrenzten körperlichen Wahrnehmungs-Sinne des Menschen legen sich die Muster der digitalen Realität wie ein „Second Life“: Sie werden ein kollektives „Wir” für das Ich,
sie werden als Ausweitungen des Körpers und Nervensystems in die Wahrnehmung integriert.
Aber diese neuen medialen „Techniken des Selbst”, die unser Wirklichkeits-Bewusstsein prägen, haben eine Vorgeschichte

2021 tw POP2-05

Wenn wir mit dem Kopf an einen Schrank stoßen, dann erfahren wir: Es gibt Realität. Wir haben ein Bild von einem Schrank im Gedächtnis, das von der visuellen Wahrnehmung und der praktischen Tun geprägt ist. Für Menschen ist es ungewöhnlich, wenn sie sich im Dunkeln auf ihren Tastsinn verlassen müssen. Aber selbst wenn wir im Finsteren mit dem Kopf gegen etwas scharfkantiges Hartes stoßen, haben wir eine Vermutung, dass es ein Schrank gewesen sein könnte.

Fledermäusen würde das nicht passieren, da sind kein visuell geprägtes Bild von Schrank im Kopf haben und weil sie Gegenstände (= Flughindernisse) akustisch „wahrnehmen“ - sie sind keine „Augentiere“ wie die Menschen. Schnecken etwa kennen keinen „Stoß“, weil sie andere Bewegungsformen haben und mit ihrem Tastsinn die Umgebung erkunden.

Die Bilder im Gedächtnis und die mentalen Hilfsmittel, die mit denen Lebewesen ihre sinnliche Erfahrungen interpretieren, sind keine Spiegelung und keine „Verdoppelung“ der Realität, sie haben eine ganz andere Qualität. Im Extremfall kann sich die Wahr-nehmung der Wirklichkeit ganz von den körperlichen Sensoren und ihren technischen Hilfsmitteln abkoppeln – wenn wir träumen oder halluzinieren. Es sind innere Bilder, neuronale Verarbeitungs-Muster, die von unserem Bewusstsein als „Realitätswahrnehmung“ interpretiert werden - eine eigene, mentale Realität.

Die mentalen Realitäten oder Wirklichkeitsbilder sind elementar durch die verfügbaren Sinnesorgane geprägt. Bei Fledermäusen sind das vor allem die Reflektionen der hochfrequenten Schallwellen, die Menschen nicht akustisch wahrnehmen können. Bei Menschen konzentriert sich die Wahrnehmung akustischer Laute auf den Bereich von 500 und 4.000 Hertz. Wichtiger für die menschliche Wirklichkeits-Wahrnehmung sind visuelle Eindrücke, seit dem 15. Jahrhundert zunehmend auch Schrift-Bilder. Die technischen Möglichkeiten, die wir unter „Digitalisierung“ fassen, revolutionieren im Hintergrund die Produktionsweise von visuellen Bildern und Sprach-Zeichen.

In der Geschichte haben nur die „Erfindung“ der Sprache und die Verbreitung des Buchdrucks so weitreichende Auswirkungen auf fast alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens bekommen wie aktuell die digitale Technik.  

Digitale elektrische Kommunikation und ihre Instrumente verändern soziale Strukturen der Arbeitswelt und der Freizeit, sie verändern Verhaltensmuster und den sozialen Kontext von menschlicher Identität. Die elektrischen Medien konstituieren die symbolische Welt der kulturellen Wirklichkeit, sie verändern die Selbst-Wahrnehmung der Gesellschaft und des einzelnen Menschen.

Digitale Kommunikation vernetzt unabhängig vom Ort und vom sozialen Umfeld, sie entwertet die sozialen Bindungen des realen Dorfes und der realen Stadt. Sie entwertet die Bedeutung des Ortes, an dem sich ein Mensch befindet, arbeitet, sich informiert oder sich vergnügt. In dem „globalen Dorf“ gibt es keine Distanz mehr, kein „weit weg“, keine getrennten Räume, es schafft einen verschmolzenen Wahrnehmungs-Raum. In der digitalen Kommunikation ist der „räumliche Raum“ in diesem Sinne vernichtet.

Dasselbe gilt für die Zeit: Das menschliche Zeitgefühl unterschied zwischen dem, was vergangen ist, dem was zukünftig sein könnte und dem was jetzt „da“ ist. Seitdem Menschen für ihre Selbstwahrnehmung die Schrift benutzen und schriftlich zählen gelernt haben, begreifen sie Zeit als einen gerichteten Strahl – er beginnt irgendwo und weist weit in die Zukunft. Wenn aber alles, was passiert, elektronisch gefilmt, also fixiert wird, und jede denkbare Zukunft wie jede Vergangenheit in Filmen vorgespielt und lebendig gemacht werden kann, dann untergräbt das die Zeitvorstellung. Durch die digitalen Medien ist das, was gestern war, genauso „präsent“ wie das, was heute ist. Die digitale Gesellschaft ist eine des „hier und jetzt“.

Noch spielt der menschliche Körper nicht mit, Menschen empfinden die Trägheit ihres Körpers und damit körperlich den Raum und die Vergänglichkeit der Zeit, jedenfalls solange die Empfindungen nicht von biochemischen Algorithmen „optimiert“ werden. Datenbrillen sind ein erster Versuch, die Raumwahrnehmung in eine „mixed reality“ einzubinden.

Wahrnehmungsmuster

Die Erfahrung der Schwere ist eine elementare sinnliche Erfahrung von großer Bedeutung. Das Spüren von „unten“ und „oben“ wird als Metapher ausgeweitet auf die Wahrnehmung sozialer Erfahrungen. Solche Reduzierungen von komplexen sinnlichen Erfahrungen auf zwei schlichte Alternativen scheinen attraktive Wahrnehmungsfilter für das menschliche Gehirn zu sein - wir sortieren die Wahrnehmungen nach schwarz und weiß, oben und unten, dicht oder durchlässig, wahr oder falsch, immer oder nicht immer, obwohl es solche absoluten Zustände normalerweise nicht gibt. Je nach Standpunkt ist das „unten“ zum Beispiel auch ein bisschen „oben“ und es über dem „oben“ gibt es meist ein „darüber“. Die einfachen dichotomischen Muster der Wirklichkeitswahrnehmung erweisen sich aber als praktisch für den Zweck der Verständigung, für das Gehirn gilt die Devise: So einfach wie möglich, nur so präzise und komplex wie unbedingt nötig.

Wir sortieren unsere Wahrnehmungen nach solchen Mustern, und im Verlaufe der Kulturgeschichte sind immer neue Hilfsmittel der Wahrnehmung hinzugekommen. Die Metaphern der „Neuen Phänomenologie“ von Hermann Schmitz zeigen, dass die gewohnten kulturellen Wahrnehmungsmuster nicht zwangsläufig die einzigen sind. Ungewöhnliche Versuche, Wirklichkeit sprachlich zu erfassen, können andere Wahrnehmungen und damit andere Denkhorizonte über die „Realität“ öffnen.

Die Wirklich der digitalen Netze

Was bei dem Schritt in die elektronische, digitale Welt passiert, ist zunächst die quantitative Vermehrung solcher akustischer und visueller Konstrukte. So wie wir in unserer gesprochenen Sprache nicht mehr spüren, wo sie nicht mehr Mundart ist, sondern von der Logik der Schrift geprägt wird, so nehmen wir die visuellen Bildern und Sprach-Zeichen so selbstverständlich als „wahr“ wahr wie sinnlich-leibliche Wahrnehmungen. Wir nehmen die Konstrukte nicht als „Besonderes“ wahr, sie fallen uns nicht als Kunst-Produkte gegenüber körperlichen Wahrnehmungen auf. Das gilt auch für die elektronischen, digitalen Repräsentationen von Bildern. Die Quantität des Alten schlägt in Qualität des Neuen, wo die schöne neue Bilderwelt uns regelrecht überschwemmt. Wer „auf Facebook unterwegs“ ist, wie die schöne Metapher sagt, ist täglich mit der Frage konfrontiert: „Was machst du gerade?“, ohne noch zu merken, dass kein wirklicher Mensch sich dafür noch interessiert. Auch wenn es eine reale körperliche Begegnung gäbe und die Antwort auf die Frage „Was machst du gerade?“ lauten müsste: „Ich chatte“, dann wüsste der Fragesteller weder, an welchem Ort sich der Befragte geistig gerade bewegt und was ihn bewegt. „Ich chatte“ könnte man übersetzen mit „Ich bin nicht da“, jedenfalls körperlich nicht dort, wo ich geistig bin.

So wie sich die Strukturen der Schriftkultur unvermeidlich in das Verständnis mündlicher Kommunikation einschleichen und diese schließlich dominieren, liefert der Hörgenuss aus Schallplatten- und CD-Aufnahmen die Kriterien für die Bewertung von musikalischen „Life“-Erlebnissen, real gespielte Musik wird zum besonderen Erlebnis. Die Film-Bilder liefern die Metaphern, mit denen Menschen (und Landschaften) beschrieben und bewertet werden. Genauso beginnt die digitale Realität die Sicht auf die alten Wirklichkeits-Muster neu zu prägen.

Schon gegenüber den aufregenden Romanen und Filmen war das leibliche Erleben des Alltags oft blass und langweilig. Mit dem Smartphone in der Tasche müssen wir nicht mehr anstrengende Bücher lesen oder „ins Kino gehen“, wir haben das digitale Second-Life immer dabei und das Second-Life hat uns.

Big Data und das neue „Wir“ unseres „Ich“

Die technische Digitalisierung schafft so eine neue Wirklichkeit, eine neue Dimension von Gesellschaft. Man sagt leichthin, das Netz bringe Leute zusammen, die sonst nicht zusammenkämen. Das wäre (nur) die exponentielle Vermehrung dessen, was Großstadt-Gesellschaften immer ausgemacht hat. Das Netz bringt zudem Daten von Menschen zusammen, ohne dass die Menschen zusammenkommen und ohne dass die Menschen, die da verbunden werden, das merken. Das taten Bücher in gewisser Weise auch schon: Ein Leser weiß von dem anderen nicht und es entsteht eine Gemeinsamkeit der literarischen Erinnerungen hinter ihrem Rücken, etwa wenn Leser, die sich nicht kennen, bei einem Namen dieselben Assoziationen und Bilder im Kopf haben oder dieselben Metaphern für die intimsten und individuellsten Situationen der Liebe verwenden, scheinbar jeder für sich.

Der Belgier Adolphe Quételet stellte bei der Suche nach dem „Durchschnittsmann“ im Jahre 1844 fest, dass sich die Ergebnisse der Messungen des Brustumfangs bei schottischen Soldaten in Form einer gaußschen Glockenkurve verteilen. Er entdeckt damit die „Normalverteilung“ als statistischen Maßstab unserer Wirklichkeitswahrnehmung. Wenn wir durch eine Großstadt gehen und eine schätzungsweise 30-jährige Frau sehen, dann „wissen“ wir, wie viele Kinder sie vermutlich hat – je nach ethnischer Zugehörigkeit und Bildungsgrad. Die „normalverteilten“ Menschen wissen nur aus statistischen Betrachtungen, an welchem Maßstab sie gemessen werden. Die Techniken, unüberschaubar große Datenmengen zu erheben  und digitale zu verarbeiten, macht Verhaltens-Muster zu einer erkennbaren Realität, die mit „bloßem Auge“ nicht sichtbar waren. Wenn bisher „unsichtbare“ Strukturen der Gesellschaft offengelegt werden, bedeutet das, dass die Gesellschaft lernt, sich selbst anders zu sehen durch die Brille der Zahlenwelt von „Big Data“.

Big Data schafft das „Wir“ unseres Ich – hinter unserem Rücken

Big Data potenziert solche statistischen Zusammenhänge hinter dem Rücken der Betroffenen und integriert statistische Wirklichkeiten in nahezu jede Alltagsaktivität. Big Data „macht aus analogen Anwendern digitale Phänomene, digitalisiert die Spuren analoger Praktiken - Bewegungsprofile auf Straßen und im Netz, Kauf- und Freizeitverhalten, Teilnahme an social networks usw.“ (Armin Nassehi) Big Data zerlegt die Datenprofile der Persönlichkeit in einzelne Datenpakete, die mit anderen Datenpaketen kombiniert werden können - „sinnvoll“ im Sinne der Datenverarbeitung. Schon wenn ich bei Amazon ein Buch bestelle, bekomme ich aus solchen Datenpaketen Hinweise darauf, was mich auch interessieren könnte. Der Buch-Versand Amazon hatte anfangs Rezensenten für kurze Werbetexte eingestellt, bis sich erwies, dass die Datensammlung nach dem Motto: „die sich für dieses Buch interessiert haben, haben auch jenes gekauft“ deutlich bessere Prognosen über das Kaufverhalten und daher bessere Marketing-Strategien ermöglicht. Wir wissen nicht, wer dasselbe Buch gekauft hat, Amazon weiß es im Zweifelsfall. Wenn Amazon weiß, wer im letzten Jahr dieselben zehn Bücher gekauft hat, kann der Algorithmus daraus schließen, wer vergleichbare Interessen und denselben Geschmack hat.

An die Stelle der Selbsterzählung setzt die digitale Welt die Selbstzählung. Mit jedem digitalisierten Klick und jedem Kaufakt produzieren die Menschen Zahlen, nach denen sie eingeordnet werden, nach denen ihre Suchergebnisse – die ihnen erscheinende digitale Welt – vorstrukturiert wird und mit denen sie sich selbst wahrnehmen. Wenn die Fitness-App abends moniert, dass die Anzahl Schritte ungenügend war, dann muss die erwischte Person ihr Leben in Ordnung bringen. Am Maßstab der Zahlenwerke erkennen Mitglieder einer sozialen Gruppe, ob sie dazugehören oder sich als Außenseiter verhalten – und verstehen müssen.

Die zahlenorientierte Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung durchdringt im digitalen Zeitalter jeden Bereich des Lebens bis hin zu der Frage, ob für 25jährige Menschen zwei- oder dreimal Beischlaf in der Woche „normal“ ist und welcher Krankheitsverlauf  um fünf Prozent vom Normalverlauf abweicht. Es ist eine Frage der Zeit, wann Dating-Apps sich diese Datenmenge zunutze machen. Wahlhilfe-Apps sagen mir nach einem Dutzend Fragen, welche Partei meinem Profil entsprechen würde. Selbst wissenschaftliche Leistungen werden nach dem „h-Index“ gemessen, der sich vor das schwierige Kriterium der Qualität der veröffentlichten Arbeiten schiebt. Selbstkontrolle, Fremdkontrolle und Selbstoptimierung werden der Herrschaft der Zahlen unterworfen. 

Die Festplatten von Big Data nehmen dem Menschen Gehirnfunktionen ab, sie entlasten und machen gleichzeitig abhängig. Wenn „Big Data“ mir sagt, was für keinen Fall „normal“ ist und was nicht, dann entlastet mich das. Ich werde nicht mehr hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Erwartungen, sondern habe eindeutige Kriterien – die für alle gelten. So werden digitale Netze zu einer gemeinsamen Ausweitung des Körpers und Nervensystems, zu mentalen Wir-Prothesen.

Computergesteuerte Ersatzorgane werden für die Reparatur der menschlichen Biologie selbstverständlich, bei Zuckerkranken derzeit schon hochwirksam und beliebt. Um den Verfall des Körpers zu bremsen, werden in Zukunft Ersatzorgane eingebaut lange bevor die körperlichen Organe ihren Dienst versagen, wie Autos vorsorglich vom TÜV geprüft werden. „Exoskelette“ werden die Kraft der Arme und der Beine verstärken und dem Menschen erlauben, sich kraftvoller und schneller zu bewegen. Und diese Prothesen werden die Maßstäbe für das verschieben, was „normal“ ist – dass im Alter die Körperkräfte schwinden, wird nicht mehr normal sein. 

Es gibt Apps für die computergesteuerte Organisation des privaten Lebensbereiches, Datenbrillen werden alles speichern, was wir sehen, und das Aufgenommene als Hilfe für den menschlichen Verstand selektieren und interpretieren. Meine Auto-App sagt mir, wann ich müde bin, auch wenn ich selbst das noch nicht gemerkt habe. Die psychologischen Erkenntnisse über die „geheimen Verführer (Vance Packard) in den 1950er Jahren waren geradezu harmlos im Vergleich zu dem Detailwissen heutiger Marketingstrategen darüber, welche Typologisierung der Kunden ihr Verhalten prognostizierbar machen.

„Daily.me“ nannte der Informationstheoretiker Nicolas Negroponte (in: Being Digital, 1995) die technische Möglichkeit, die Informationsflut nach dem selektieren, was ich gestern geklickt habe, zum Beispiel als tägliche Zusammenstellung von Zeitungsartikeln, die auf den persönlichen Lese-Vorlieben zugeschnitten sind. Selbst der Prozentsatz an Überraschung bei der morgendlichen Zeitungslektüre kann eingestellt werden oder der Anteil von „Andersdenkenden“ im politischen Diskurs meiner Lieblings-App. Diese Personalisierung, die „Big Data“ ermöglicht, hilft nicht nur den Anbietern, sondern ist auch bequem für die Verbraucher – und führt dazu, dass inmitten der grenzenlosen Vielfalt des Internets „Dörfer“ entstehen mit einer Horizont-Verengung, die das Gesichtsfeld wieder auf das vertraute Dorf eingrenzt. In dem vertrauten Dort kann ich bequemerweise das denken, was „wir“ denken, und alle finden das normal. Eine derartige Einbindung des Ich in ein Wir entspricht dem, was treue Zeitungsabonnenten oder „Stammwähler“ in der vor-digitalen Kommunikationskultur auszeichnete und gehört zu den Verhaltens-Mustern, mit denen Großstadtbewohner sich gegen ein Übermaß von Fremdheit in der Großstadt abschotteten.

Die digitalen Techniken führen zu neuem Wissen, zu anderen Verknüpfungen des Alltags, zu anderen Sinnverarbeitungsregeln in den Selbstbildern und den Fremdbildern der Menschen. Das verbreitete digitale Wissen legt sich wie ein Netz über die alte Selbstwahrnehmung aus den Jahrhunderten der Schrift- und Bild-Kultur und erzeugt eine neue Wir-Realität für das Ich, eine neue Interpretation auch der gesellschaftlichen Praktiken. Die digitale Realität hebt uns von der leiblich spürbaren Realität ab, führt ihr Eigenleben mit ihren eigenen Rückkopplungen. Die Realitätswahrnehmung integriert die Wahrnehmung der digitalen Realität, die sich im Computer oder Smartphone materialisiert, und bildet eine alltägliche „Second-Life“-Existenz.  

Zur Vorgeschichte der digitalen Techniken des Selbst

Unter den Technologien des Selbst versteht Michel Foucault „gewusste und gewollte Praktiken…, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht“. 

Foucault zählt dazu Askese, Trainings, Ernährungsdiäten, Meditationspraktiken oder etwa die Traumdeutung, Körpermanipulationen durch Sport, Kosmetik oder Schönheitschirurgie. Mit dem Schwinden der Bedeutung der Abhängigkeiten von der sozialen Umwelt im Zuge der Urbanisierung gewannen die Individuen die Chance, ihre Biografie als selbst hergestellte, selbst inszenierte, selbst zusammenschusterte zu begreifen. 

Sie können aus einer Fülle potenzieller Empfindungen und Handlungen wählen und haben einen gewissen Spielraum,  ihre Identität zu gestalten. Das passiert in kommunikativen Akten – gegenüber Freunden, Kollegen, der Familie, zuweilen auch gegenüber dem Tagebuch als simuliertem Gegenüber. Und auch Tagebücher werden oft geschrieben mit Blick auf potentielle Leser, sie sind keine unschuldige Selbstbeobachtung, sondern Instrumente der Selbst-Technik und Selbstinszenierung.  

Wahrnehmungsmuster der Schrift-Kultur

Eine Revolution der Wahrnehmungs-Hilfsmittel hat die Schrift ausgelöst und dann die massenhafte Verbreitung der Schrift in der Folge der Drucktechnik. Wenn man im Volksmund von „Bücherwürmern“ spricht, also Menschen, die in Bücher hineinkriechen, dann soll damit gesagt werden, dass die Wahrnehmung über Bücher die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung teilweise verdrängt und überformt. Wenn man beobachtet, wie viele Menschen, die nie einen Text von Sigmund Freud gelesen haben, heutzutage von „Verdrängung“, von dem „Unbewusstem“ und von „Triebabfuhr“ reden, dann zeigt sich, wie Muster aus dem Bücherwissen in die Alltagssprache und in die Alltagsmetaphern eindringen, mit denen die Menschen sich selbst wahrnehmen und beschreiben. Die Menschen, deren Wirklichkeitswahrnehmung nicht von dem universellen Bücherwissen der Schriftkultur geprägt ist, werden seit dem 19. Jahrhundert zu Exoten, wir klassifizieren sie mit dem ethnologischen Blick als „Aborigines“ oder als „unzivilisiert“ oder „entwicklungsgestört“.

Das Buch hat begonnen als bürgerliches Bildungsmedium, das in Konkurrenz zu der höfischen Präsenz-Kultur die Muster bürgerlicher Selbst- und Fremdbilder verbreitet hat. Die Schrift-Kultur war das Medium, auf dessen Grundlage die gesamte Wissenskultur der Mathematik, der Technik und der Naturwissenschaften basiert.

In einem zweiten Schritt wurde die Literarisierung der Gesamtbevölkerung staatlich vorangetrieben. Über das Medium Schrift – transportiert vor allem in der Schule und von den Massenmedien – wurden neue Wirklichkeits-Wahrnehmung verbreitet, eine „gemeinsame“ mentale Welt erzeugt. Die „Alphabetisierung“ des Volkes hat mit den regionalen Dialekten auch den populären Aberglauben verdrängt zugunsten der Schriftsprachen und ihrer Logik. Die „Nation“ ist ein wichtiges Konstrukt dieser Schrift-Welt.

Am Ende des 18. Jahrhunderts gehörte in gebildeten Kreisen die Lektüre von Romanen und damit die kommunikative Rezeption realer und fiktiver Muster von Selbstbeobachtungen zum „guten Ton“. Die Selbstbeobachtung im mundartlichen Sprechen konnte sich nur auf ein enges soziales Umfeld beziehen, dem man sowieso nichts Neues zu sagen hatte und in dem etwas Neues vermutlich als Provokation verstanden worden wäre mit der Folge der Ausgrenzung.

Seit der Antike sind  Traumtagebücher, Tatenberichte und Chroniken bekannt, auch „Bekenntnisse“, wurden aber nur in wenigen Exemplaren handschriftlich verbreitet und waren damit eine kulturell eine Ausnahmeerscheinung. Erst die Technik des Buchdrucks und die Alphabetisierung ermöglichten es, die medialen Techniken des Schreibens und Lesens kulturell zu verallgemeinern, sie wurden zum Mittel der Selbstbeschreibung für alle. Bilder, Geräusche und Gerüche wurden beschrieben, die LeserInnen mussten sie nachempfinden. Schriftstücke stellten ein breites Vokabular zur Verfügung, mit denen der gebildete Mensch „sich selbst“ darzustellen lernte.

Aber auch unter einigermaßen lesekundigen Menschen hatten die Holzschnitte eine besondere Attraktivität. Erst mit Abbildungen konnten gedruckte Schriftstücke zu Massenmedien werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, die neuen Medien Foto, Film und Grammofon im 19. Jahrhundert eine Sensation waren, die sich schnell gerade auch in populären Kreisen ausbreitete.

Die neue Techniken der Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts

Die Schwemme der reproduzierten Alltags-Bilder hat eine Revolution der Wahrnehmung  bewirkt. Schon die Holzschnitte im 14. Jahrhundert waren eine „Sensation“ im wörtlichen Sinne, sie bedeuteten eine irritierende Stimulation der Sinne. Nach der Erfindung der fotografischen Abbildung gab es in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Modewelle der Porträtfotografie. Besonders beliebt war die Möglichkeit, von sich selbst preiswert ein Porträt zu bekommen, das dem Ego schmeichelte. Jedermann hat seitdem ein „fotografisch“ präzises Bild von sich selbst. Aber wir haben nicht nur Bilder von Menschen, die wir nie gesehen haben, wir haben auch konstruierte Bilder von Gegenständen, die so, wie sie dargestellt werden, für das Auge nicht sichtbar sind, etwa die Anordnung der Sterne oder etwa der Embryo im Uterus.

Den technischen Möglichkeiten der Akustik - Verstärkung und Speicherung von akustischen Zeichen – seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verdanken wir zudem kunstvolle Klangbilder, die in einer Welt ohne technische Prothesen nicht vorkommen und die mit den Naturklängen in unserem Bewusstsein konkurrieren. Sogar den Gesang der Vögel interpretieren wir vor dem Raster der der wohltemperierten Tonleiter, also am Maßstab der kulturellen Kunsttöne. 

Die Techniken des 19. Jahrhunderts machten auch Stress objektiv messbar. Der Klang der Stimme, die Bewegungen, Gestik, Motorik, Atmung und Puls können scheinbar objektiv aufgezeichnet werden. Das sind Körpersignale, die kaum der bewussten Kontrolle unterliegen. Mit der Psychoanalyse wurde anerkannt, dass es eine subjektive Wirklichkeit jenseits dessen gibt, was das Subjekt bewusst zu Protokoll geben kann. Als Medium für gesellschaftliche Zusammenhänge, die sich der Anschauung entziehen, hat seit dem 19. Jahrhundert vermehrt die Statistik entwickelt. Herrscher wollten ihr Reich durch die Brille von Zahlen begreifen – das neue deutsche Reich richtete 1872 ein „Statistisches Amt“ ein. Damit beginnt die dauerhafte und möglichst lückenlose Alltagserfassung in Zahlenform. Ist es normal, dass eine junge Frau erst mit 25 Jahren ein Kind bekommt? Solche Fragen, die vorher Thema der kulturellen Tradition waren, werden nun mit einem Blick ins Zahlenwerk für die gesamte Gesellschaft beantwortet. Das Zahlenwerk hat den Nimbus der Objektivität, vor den Zahlen sind alle Menschen gleich. Natürlich verschwindet die wirkliche Welt in den selektiven und konstruierten Aspekten, die der Welt der Zahlen zugänglich ist. Statistiken geben vor, eine Realität zu zeigen. Individuen werden messbar und vergleichbar. Berechnungen und Zählverfahren waren die Treiber der kapitalistischen Betriebsführung und der modernen staatlichen Planung, subjektive Vorlieben wurden als Risiko für das zahlenbasierte Handeln gewertet. Zahlen kann man nicht widersprechen.

Die Autorität der Zahlen beruht auf der Unterstellung, dass Wesentliches erkennbar wird, wenn man von raum-zeitlichen wie sozialen Gegebenheiten abstrahiert. An die Stelle der Verlässlichkeit der Person tritt das Vertrauen in die Verlässlichkeit eines Abstraktions-Verfahrens. Bei der zahlenbasierten Vergleichskommunikation wird unterschlagen, dass Messungen immer nur spezielle Wirklichkeitsausschnitte berücksichtigen können. Die Messergebnisse machen die Selektion und den Kontext, die ihnen zugrunde liegen, unsichtbar. Wenn Zuschauer und Zuhörer (und Leser) als Quote die Massenmedien steuern, zählt allein der Klick und der Kick des Medienkonsums, nicht das Motiv.

Über die begrenzten körperlichen Wahrnehmungs-Sinne des Menschen und die medialen Selbstwahrnehmungs-Techniken der Schrift- und der Bild-Kultur legen sich die Muster der digitalen Realität, sie werden wie neue Ausweitungen des Körpers und Nervensystems in die Wahrnehmung integriert. Und selbst die Produktion von Wahrheit ist betroffen. Die Druckschriftkultur hat die Möglichkeit, eine Wahrheit durchzusetzen, unterminiert, aber im Zeitalter der Schriftkultur gab es noch „Schulen” der Wahrheit, es gab ExpertInnen für die Wahrheit, Philosophen, Politiker, Journalisten, Lehrer, die das mögliche Wissen vorsortierten. Die digitale Möglichkeit Verbreitung von Wissen entmachtet diese ExpertInnen, jedes beliebige Wissen wird verbreitet und erscheint diesem oder jener glaubwürdig. Gesellschaftliche Verbindlichkeiten für Wahrheit werden aufgelöst.

Das ist moderne Gesellschaft. Geradezu naiv erscheint angesichts dieses Prozesse der alte Traum, dass die Menschen, die sich in den Grenzen eines Nationalstaates tummeln, durch Aussonderung der „Fremden“ wieder mehr Gemeinschaft werden könnten und in diesem festen Rahmen ihre eigenen Geschicke „selbst“ steuern könnten.

Der Traum von der Überschaubarkeit des guten alten (dörflichen) Lebens hat die Entwicklung globaler Urbanität immer schon wie ein Schatten begleitet. Im Netz lassen nun sich beliebige mentale Dorfgemeinschaften bilden. In der digitalen Mediengesellschaft gibt es keine nationale Werte-Gemeinschaft oder Leitkultur mehr, aber die Illusionen der analogen Weltbilder lassen sich in „Echokammern“ pflegen und konservieren. Das Netz ist global offen und es ermöglicht gleichzeitig Sub-Kulturen, in denen man sich mental im Kreise drehen kann, die „im eigenen Saft schmoren“, wo man alles, was rechts und links daneben zu sehen wäre, verdammen und negieren kann. Das Netz ermöglicht die nach außen abgedichtete Binnen-Kommunikation von Fundamentalismen jeder Art. Es werden regelrechte Nester gebaut, die gegen den rauen Wind der Fremdheit schützen sollen, der in der globalisierten Welt weht. Nur in solchen Nestern ist es noch kuschelig, da ist der Horizont nah und klar erkennbar, da wird noch die Idee von „Wahrheit” gepflegt, deren letzte Stunde ansonsten geschlagen hat (Armin Nassehi).

 

    vgl. auch meine Texte zu
    Digitale Gesellschaft    MG-Link
    Denken mit Zahlen    MG-Link
    Virtuelle Realität der Schriftkultur    MG-Link
    Wie kommen Menschen zu Bewusst-Sein?      MG-Link
    Selbst im Netz - Identitätskonstruktionen des „Wir-Ich” in der digitalen Medien-Gesellschaft  MG-Link
    Der kapitalistische Sozialcharakter - das moderne „Ich“ ohne traditionelles „Wir“   MG-Link
    Wie das ICH entstand - über die Vertreibung der Geister aus der Welt des Geistes    MG-Link