Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien
-Theorie

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Medien-Demokratie:
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Commun-ismus oder Konsum-ismus

Zugegeben, der Titel ist ein Sprachspiel. Haben früher die Idee und das Bedürfnis nach Gemeinschaft die Menschen bewegt, so scheinen heute die Konsum-Wunschträume und die Konsum-Verzichtsangst als Triebfedern der Geschichte. Die Logik des Freizeit-Konsums prägt zunehmend die Art und Weise, wie Menschen ihre Identität suchen, ihren Lebenssinn, ihre Befriedigung.
Politische Systeme verlieren ihre Legitimation, wenn sie die Konsumbedürfnisse enttäuschen. Weltweit symbolisieren Menschen weniger mit ihrer Arbeit als mit Freizeit-Konsum ihre Bedeutung.  
Im Zentrum der Gesellschaftstheorien steht nicht mehr - wie im 19. und 20. Jahrhundert - die Organisation der Arbeit. Der Wille zum Konsum erscheint als Triebfeder historischer Prozesse. 
Am Konsumismus ist der Kommunismus krachend gescheitert und 
der praktizierte Konsumismus lässt die theoretische Kritik am „Neoliberalismus” hilflos erscheinen.
Es erscheint als das große Versagen der Intellektuellen im 20. Jahrhundert, dass sie die Bedeutung des Konsums für die Menschen ignoriert und diskreditiert haben.

2024 dWI

Die Idee des Kommunismus war eine Triebfeder in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Hoffnung, die alte Sehnsucht nach Gemeinschaft könnte neu verwirklicht werden,  stand hinter Revolutionen, sie beflügelte den Nationalsozialismus und auch konservative Revolutionäre wie Oswald Spengler. Der Kommunismus ist krachend gescheitert. Und am Ende des Jahrhunderts zeigt sich, dass die eigentliche Triebfeder der Geschichte der Konsumismus war, der Wille zum Konsum. Und zwar ein Konsum, der nicht nur das Lebensnotwendige befriedigt, sondern der mit seinen Träumen und Wünsche dank der Kulturindustrie auch das Reich der Freiheit beflügelte.

In dem Begriff „Commune“ steckt die alte Sehnsucht nach Gemeinschaft und Geborgenheit. Der Mensch ist kein einsamer Wolf, sondern ein Gemeinschaftswesen. Vom Bauch her fühlt er sich wohl in der kleinen Gemeinschaft, im Dorf, in der Familie oder dem dem Familienersatz. Das ist die Grunderfahrung des Säuglings, die die Psyche des erwachsenen Menschen prägt. In Japan gibt es dafür das Wort „Amae”, was mit „Wunsch nach Anlehnung” und „Freiheit in Geborgenheit” übersetzt wird. Diese Sehnsucht nach einer Welt, in der es keine Bösartigkeiten gibt, hat die Phantasien vom Paradies geprägt und vom ewigen Leben. Jean-Jacques Rousseau hat diese Sehnsucht nach Harmonie als den Wunsch „Zurück zur Natur“ formuliert.

Je mehr die kleine Gemeinschaft von der Lebenswelt der großen Gesellschaft ersetzt wird, desto geringer wird die gefühlsmäßige Bindung. In der Stadt müssen die Menschen als Vereinzelte mit vielen Fremden halbwegs friedlich auskommen. Die gemeinschaftlichen Bindungen werden schwächer und setzen einsame Menschen frei. Scheinbar „selbstloses“ Geben, das auf Reziprozität „irgendwann“ setzt, spätestens im ewigen Leben, wird verdrängt von den Maßstäben des (geldwerten) Vorteils. Selbst Brüder beginnen, ihren Tausch nach dem Geldwert der getauschten Güter zu bewerten. Der moderne Mensch lebt in einer Gesellschaft der Fremden. Geschenke werden taxiert nach dem Wert dessen, was man als Geschenk bekommen hat. Wenn menschliche Beziehungen „monetarisiert“ werden, schwächt das die Gefühlsbindung, die im Gabentausch immer mitschwang. Der Stadtmensch lernt, den vielen Fremden gleichgültig zu begegnen. Für die Waren, die gehandelt werden, ist es egal, wer sie produziert hat, sie bekommen ein Eigenleben. Das Produkt der Arbeit wird dem Produzenten entfremdet. 

Die „kommunistische“ Idee des 19. Jahrhunderts, ein Produkt des Idealismus, war davon ausgegangen, dass man Gemeinschaft auf alle Weltbürger ausweiten könnte: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ (Friedrich Schiller, 1785), davon haben große Geister geträumt. Es war eine Anleihe beim Reich der Himmlischen, also im Kern religiös gedacht. Karl Marx wollte die Arbeiter und die Arbeit in diese idealistische Gemeinschaft einbeziehen. Der Menschheitstraum scheiterte in den blutigen politischen Experimenten des 20. Jahrhunderts.

Das, was sich nach dem Ende des Kommunismus weltweit durchzusetzen scheint, hat Norbert Bolz 2002 „Konsumismus“ genannt. Das ist mehr als ein schönes Sprachspiel, dahinter steckt eine Gesellschaftsanalyse.

Gemeinschaft bedeutet Krieg gegen Fremde

Die Gemeinschaft basiert auf Vertrauen im Inneren und auf Misstrauen nach außen. Sie konstituiert sich im Krieg gegen Fremde und sie bereichert sich an ihnen. In dem abgesteckten Innen kann Sicherheit, Vertrauen und Ruhe herrschen, das Innen entsteht durch den Ausschluss des Außen. Das ist die Logik der Gemeinschaft und auch ihrer Kehrseite, des  Fremdenhasses. Es ist die große zivilisatorische Leistung des Geldhandels, dass er dieses Misstrauen in zivilisierte Bahnen lenkt. Zunächst waren es die Juden, die man brauchte, um den Handelskontakt mit Fremden zu organisieren. Wer handeln will, darf den Fremden nicht mehr ausrauben, sondern muss Fremde als „Partner“ betrachten. „Geld entlastet den Menschen von Hass und Gewalt“, so formuliert das Bolz. Krieger werden zu Kaufleuten.

„Gemeinschaft“ ist keine friedliche Idylle. Sie ist nicht nur nach außen im Zweifelsfall brutal gegen Fremde, sie ist nach innen eine Zwangsgemeinschaft. So verlogen die Formel „bis dass der Tod euch scheidet” auch war, sie versprach in dieser kleinsten Zelle der Gemeinschaft Sicherheit und Sinn. Darüber wachte die gegenseitige Kontrolle der Dorfgemeinschaft und theoretisiert wurden solche Fragen in der Kirche. Aber die Kirchen haben sich geleert und die Konsumtempel, die ihren Platz eingenommen haben, gefüllt.

Auch die Gewalt, die nach innen in dem Vertrauensverhältnis der „Communis“ steckt, wird durch den Zerfall der Gemeinschaft zivilisiert; Gewalt wird schließlich auch in der Familie zum Skandal. Der Mann verliert das Recht zur Züchtigung, also zur Gewaltausübung über seine Gemeinschaft. Die Ehe, der kleinste Nukleus der Vertrauensgemeinschaft, wird vertraglich geregelt und in den modernen Eheverträgen werden, bevor das „Ja“-Wort gesprochen wird, die Konditionen der Beendigung gleichberechtigt und auf Augenhöhe ausgehandelt. 

Wenn die aus ihren Gemeinschaften freigesetzten Individuen sich freiwillig auf einer gesellschaftlichen Ebene zusammenschließen, nennt man das Demokratie. Aber Demokratie bedeutet, dass die große Gemeinschaft die Menschen weitgehend in Ruhe lässt. Demokratie muss die Bedingungen dafür garantieren, dass jede/r seines Glückes Schmied werden und am gesellschaftlichen Reichtum „gerecht“ teilhaben kann. Demokratie wird so zum Versprechen „Konsum für alle“. Denn gleichberechtigt sind die Menschen vor allem als Konsumenten, und im Konsum erleben sie sich als Besondere. Das ist ein amerikanischer Traum, 1923 hat Hazel Kyrk die Theorie des Konsums formuliert. Im Weimarer Nachkriegs-Deutschland haben zuerst die Frauen, die sich nicht über ihre Arbeit definieren konnten, die Chance ergriffen, ihr „Gesicht“ durch den Konsum von Kosmetika zu formen und sich in einer Gesellschaft der Fremden als unverwechselbares Individuum zu präsentieren. Die Weimarer Republik ist gescheitert, als sie das Konsum-Versprechen für alle nicht einhalten konnte - in ihren Wirtschaftskrisen (1923, 1929). In diesem Sinne ist die Bundesrepublik der zweite, erfolgreichere Versuch.

Der Konsumismus der schwachen Bindungen und der Reiz der fiktiven Werte

Im Unterschied zu den starken Bindungen der Gemeinschaft kennt die liberale Gesellschaft nur schwache Bindungen. Diese schwache soziale Bindung begreift Bolz als Stärke dieses Systems. Wenn in der globalisierten Welt auch die nationalen Grenzen fallen, wird der Konsumismus zum einzigen denkbaren Lebensstil. „Diese Welt ist — mit Max Webers Lieblingsvokabel — temperiert, und heiße Herzen empfinden sie als zu kalt. Doch heiße Herzen denken schlecht. Sie begreifen nicht, daß wir den Frieden genau so wie die Freiheit gerade der Entfremdung verdanken.“ (Bolz)

In der modernen „konsumistischen“ Gesellschaft ersetzt das Streben nach Geld die ewige Suche nach Sinn. Es gibt keine Wahrheit mehr und keine „Häretiker“. Nur wenn ich den anderen in seinem Anderssein respektiere, kann ich mit ihm in Austausch treten – und den gerechten Austausch vermittelt das Medium Geld und nichts anderes. Der Konsumismus gibt uns den Rahmen für Sicherheit und Vertrauen, er wird zur Ersatz für die Religion und die einzige Hoffnung gegen den religiösen Fanatismus: „Der Konsum integriert die postmaterialistische Gesellschaft durch Verführung. Das gemeinsame Angebot der postmodernen Märkte lautet: Wiederverzauberung der entzauberten Welt.“ (Bolz) Während die traditionelle Kulturkritik die Fetischisierung der Waren als Grundübel betrachtete, setzt Bolz darauf alle Hoffnung.

Das Glück, das Geldhaben genießen zu können, tritt an die Stelle der Suche nach dem richtigen Leben. Wer Geld hat, ist frei. Das Geld ist nicht nur die Garantie dafür, dass die profanen leiblichen Bedürfnisse befriedigt werden. Darum geht es fast nicht mehr, zumindest nicht in den modernen europäisch Ländern. Die profane Welt ist auf Dauer langweilig, wenn die dringenden leiblichen Bedürfnisse befriedigt sind.

Werbung gibt es nicht für einen überschaubaren Markt von bekannten lebensnotwendigen Gütern bekannter Produzenten oder Händler. Werbung beginnt dort, wo das Angebot unüberschaubar ist, die Händler fremd sind und die Produkte möglicherweise etwas luxuriös. Die Werbung verzaubert uns mit vielem, was wir uns noch nicht leisten können, sie lockt mit den  Konsumwunsch-Träumen der Zukunft. Der Kredit scheint eine kleine Brücke in diese Zukunft zu sein.

Wer die Fiktionen der Werbung genießen will, kann sich übrigens auf Friedrich von Schiller berufen. Das Interesse am ästhetischen Schein bedeutete für ihn „eine wahre Erweiterung der Menschheit“, eben „Kultur“. Das sollte natürlich nur für die gehobene Schicht der Gebildeten gelten, nicht für den Pöbel. Der Katholik Maurice Talmeyer klagte 1896 in der „Revue des deux mondes" angesichts der neuerdings öffentlich zu bewundernden Plakat-Medien: „Das Plakat … flüstert uns zu: Amüsier Dich, putze Dich heraus!“ Die „gesamte Kultur und Ästhetik“ arbeite für „die Erregung des Wohlergehens und den Kitzel der Triebe“. Das Plakat sei „vibrierende Sinnlosigkeit“ und „fast die einzige Kunst dieser Epoche des Fiebers und Gelächters, des Ringens und des Ruins, der Elektrizität und der Vergessenheit." 

Peter Paul Zahl hat den Kitzel, der von der Werbung ausgeht, in seinem Schelmenroman „Die Glücklichen" (1979) wunderbar formuliert: „Werbung verspricht, was Ware und Werbung nie halten können, darauf aber kommt es gar nicht an; sie hält Bilder und Sehnsüchte wach auf das, was hinter den Bildern, Menschheitsträume, Mythen ..." steht. Der Konsument ist kein vernünftig handelnder Mensch, der informiert sein möchte, sondern ein Bündel irrationaler Wünsche. Das ästhetische Erleben der Werbung bedient den Sinnengeschmack und erfüllt genussvoll irrationalen Wünsche. Werbung spielt mit den Emotionen und den Phantasien, unterläuft die Kontrollinstanzen der rationalen Vernunft.

Fiktionswerte haben schon immer über die materielle Dingwelt geherrscht. Die Konsumprodukte und die Kreationen der Kulturindustrie sind in den modernen, reichen Gesellschaften zur  Quelle von Emotionen und Fiktionen für alle geworden, wie beim weißen Hochzeitskleid ist der materielle Gebrauchswert nur Nebensache. Wer konsumiert, konsumiert Ästhetik und das lockt nicht nur die Reichen und Gebildeten. Wenn die meisten Menschen das unmittelbar Lebens-Notwendige haben, kann die Werbung auch bei den Produkten des täglichen Gebrauchs nicht mehr auf den Gebrauchswert setzen, sie muss „spirituellen Mehrwert“ versprechen. „Wenn man in ein Café geht, ist man nicht primär am Kaffee interessiert, sondern an den Leuten, der Atmosphäre, der Gelegenheit zum Gespräch.“ (Bolz) Das Auto wird zum Lustobjekt, das Wegfahren wird zur Flucht vor der Langeweile. In den 1950er Jahren war das Buch über die „Hidden persuaders“ noch eine Enthüllung, weil es als verderblich galt, der Werbeindustrie ausgeliefert zu sein. Heute genießen die Menschen die Werbung und tragen gern und kostenlos T-Shirts mit Aufdrucken der Werbewirtschaft. Die Werbung bietet Formulierungshilfen für Rollen-Identitäten. Nachhaltig, biologisch und fair sollen Produkte sein – weil die Konsumenten kein schlechtes Gewissen haben wollen. „Conspicuous consumption" nennt das die amerikanische Werbeindustrie nach Thorstein Veblen (1899), Geltungs-Konsum. Der Konsum ist das Medium einer Kultur des Selbst geworden. Das Genießen des Konsums spielt sich im Kopf ab. 

Auch die „einfachen“ Menschen, die einmal arbeitende Klassen genannt wurden, wollen sich bezaubern lassen, der Kampf um das Lebensnotwendige füllt sie nicht mehr aus. Dem dient eine ausufernden die Unterhaltungsindustrie, die sogar echte Risiko-Abenteuer anbietet, wo das Leben vor lauter Versicherungen kein Risiko mehr bietet. Und wo das Familiäre „outgesourct“ ist, wo die Dienstleistungsindustrie der Fürsorge dem Einzelnen alle Sorge um seine „Angehörigen“ abnimmt, entsteht das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Auch dafür bietet der Markt Produkte verschiedener Art an: Die Menschen kümmern sich um die Natur, um die Armen, um ihr Haustier, um ihr Tamagotchi. Da werden sie noch gebraucht.

Der große Genuss im Zeitalter des Konsumismus, so Bolz, liegt in der „Unbefriedigung, die das Begehren neu entflammt“. Allein das Streben macht glücklich, nicht die Erfüllung. Das Begehren ist die Triebkraft für die unaufhörliche Produktion neuer Anreize, und diese Unruhe wird zur „Stabilitätsbedingung sozialer Systeme“.  Das ist Konsumismus.

Nach der Arbeitsgesellschaft

Der moderne Mensch unterwirft sich den Zwängen der Arbeit, um Geld zu verdienen und in der Sphäre des Konsums und der Freizeit „frei“ zu sein. Es wird gleichgültig, woher das Geld kommt. Arbeit wird zum Job, also zu einer Betätigung, von der man im Zweifelsfall keine Befriedigung von Sinnfragen mehr erwarten kann. Voraussetzung der Konsum-Freiheit ist das, was Kulturkritiker nach Karl Marx „Entfremdung“ nennen – der Arbeitsprozess ist aus der Sphäre der Selbstbestimmung und der Freiheit ausgeklammert. Das gilt für die modernen Angestellten-Fabriken, aber auch für die scheinbar freie Sphäre der „freelancer” in ihrem „home-office“. Nur der Ort der Arbeit ist da frei wählbar. Es gibt keinen Anspruch mehr, über die Produkte der eigenen Arbeit zu verfügen – sie sind Waren, die für den Markt produziert werden, also für Fremde. An der eigenen Arbeitskraft ist vor allem interessant, wie viel Geld sie bringt, also welchen Lohn sie wert ist und dass die „flexibel“ ist beim Angebot eines besseren Lohnes. Moderne Arbeitskraft wird für „Projekte“ eingekauft und verkauft sich beliebig für Projekte. Weil kaum ein Mensch stundenlang jeden Tag eine Tätigkeit verrichten kann, in der er keinen Sinn sieht, neigen viele Menschen dazu, sich mit ihrem jeweiligen Job zu identifizieren, beim Jobwechsel wird dann über den letzten Job um so schlechter geredet, die Identifikation mit dem Job ist narzisstisch motiviert und flüchtig.

Die philosophisch-politischen Auseinandersetzungen der Neuzeit und der Moderne haben sich über Jahrhunderte um die Organisation der Arbeit gedreht und um den Besitz der Produktionsmittel, es ging um Enteignung und Aneignung: Die Bauern wollten ihr Land besitzen, um die Abgaben zu sparen, die Arbeiter ihre Fabriken, weil sie den Profit für das Problem hielten. Der reale Kommunismus wollte vor allem die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln neu organisieren - und scheiterte daran, dass die Produktivität der wesentliche Faktor auch für den konsumierbaren Reichtum einer Gesellschaft ist. Und die Verstaatlichung behinderte die Entwicklung der Produktivität. Die Ziele der Sozialdemokratie waren bescheidener und realistisch, sie wollte die kapitalistische Arbeitsorganisation „humanisieren“ und den Anteil der Löhne an der Produktivität erhöhen und die  Freizeit vermehren. In der konsumistischen Gesellschaft steht die Humanisierung der Arbeit nicht mehr im Zentrum der gesellschaftspolitischen Diskussion, die großen Auseinandersetzungen drehen sich um die Menge und die Art des Konsums. Es sei das „Versagen der Intellektuellen“ des 20. Jahrhunderts, schreibt Thomas Hecken, dass sie den Konsum (in seiner Form als Wunschtraum und als Verzichtsangst) sowie die Glücks-Potentiale der Kulturindustrie diskreditiert haben, anstatt in ihm die Triebfeder der Geschichte zu erkennen.

Freiheit und Narzissmus

Den Verlust der traditionellen Gemeinschafts-Bindungen erlebt der aufgeklärte Mensch als Gewinn von Freiheit, er begreift sich als „freischwebendes Subjekt“, als „Ich” ohne „Wir”. Dieses Subjekt hat sich aus seinen symbolischen und kulturellen Bedeutungszusammenhängen befreit, es hat die Freiheit gewonnen, sich kulturell neu zu orientieren und beliebig und befristet zu binden. Der neue soziale Raum des freischwebenden Subjektes war die Stadt, in der das vereinzelte Mensch mit „Fremden“ neue kommunikative Freizeit-Gemeinschaften bilden konnte. In der Stadt kann man sich mit Fremden austauschen, man tritt ihnen aber nicht zu nahe. Im Unterschied zum Dorf, wo es kaum eine „Intimität“ gibt, weil alle alles über alle wissen, entsteht in Abgrenzung zu der städtischen Öffentlichkeit ein Bereich der Intimität, der als „privat“ aus der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen werden muss.

Der Verlust des Gemeinschaftssinns betrifft auch die Hausgemeinschaft (oikos), „flexibel“ wird der Mensch auch im Hinblick auf persönliche Bindungen, die binden nur für „Lebensabschnitte“. Familie ist Kleinfamilie zum Zwecke der Aufzucht der unmündigen Kinder, die pragmatische Ehe muss also maximal 15 Jahre halten, auch wenn Eheverträge keine Ablauf-Fristen haben. Familie ist nicht mehr prioritär ein unkündbarer Generationenzusammenhang, dessen Bindungen von dem Gedanken leben, der Mensch könne in seinen Kindern fortleben. Es gibt nur das Hier und Jetzt, der moderne, freischwebende und flexible Mensch sorgt sich um seine Gesundheit, um seine Konsum-Chancen und um die hedonistische Gestaltung seiner Freizeit.

Der medial vermittelte Bilder-Konsum liefert das Reservoir für die Stütze der personalen Identität. Die Beliebigkeit des Konsums prägt auch die Rahmenbedingungen der kollektiven Identität. Die medial angebotenen und konsumierten virtuelle Sinn-Angebote sind austauschbar, sie bieten für die Ich-Identität nur flüchtige Verankerung an der theatralischen Oberfläche der Person. Ich kann mich heute mit einem Filmstar identifizieren und morgen bei einem indischen Guru Halt und Orientierung suchen. Während junge Menschen in traditionellen Gesellschaften durch ihre familiären und religiösen Einbindungen ein Leben lang geradezu schicksalhaft geprägt wurden, kann die Prägung durch die beliebig wechselnden Angebote der Konsum-Kultur keine tiefgreifende Bindungskraft entfalten. Der Sinn des Lebens war in traditionellen Einbindungen prägend vorgegeben, ein Mensch konnte sich nur konflikthaft davon frei machen. Der Preis der Freiheit des Konsumismus ist die schwache Bindung - ich kann den Job genauso wechseln wie das Rasierwasser, die Lebensabschnittspartner oder die Weltanschauung. Alles wird mit einem hohen Image-Faktor angeboten und mit einem flüchtigen Sinn für die Persönlichkeit.

Dieser vereinzelte Mensch kann nicht anders als eine narzisstische Subjektivität entwickeln, seine Identität entfaltet sich im Konsum. Daher der Konsumfetischismus. Nur „flexibel“ und flüchtig ist das narzisstische Subjekt in übergreifende kulturelle Bedeutungszusammenhänge verstrickt, es ist ungebunden und kann sich nicht als Gemeinschaftssubjekt „erfahren“. Der Konsumfetischismus prägt auch das Verlangen nach erotischer Verschmelzung mit einem anderen Körper. Die Wirklichkeit erlebt das narzisstische Subjekt in den projizierten Bildern des eigenen Selbst, Gemeinschaft wird dort als bedeutungsvoll erlebt, wo sie das Ego widerspiegelt und verdoppelt.

Digitaler Konsumismus

Die Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens vollendet die Auflösung von sozialen Zusammenhängen, in denen die Schwerkraft der Körper eine Rolle spielte. „No sens of place” (Joshua Meyrowitz) kündigte sich schon als die neue Wirklichkeit in der Fernsehgesellschaft an. Der digitale Einzelmensch muss lernen, ohne „Territorien des Selbst“ (Erving Goffman) auszukommen, ohne die Räume und Gegenstände des persönlichen Eigentums, die noch den Stadtmenschen Heimat gab. Es wird keine Bibliotheken mehr geben in den flüchtig angemieteten Wohnungen, keine persönlichen Schallplattensammlungen und für die Fortbewegung macht Car-Sharing flexibel. Das Auto als Statussymbol hat ausgedient. Die neuen Objekte des Konsums sind flüchtig, wo sie nicht vollends virtuell sind, sollen sie zumindest leicht entsorgbar sein, sie sollen nicht mehr binden. Das digitale Netz ermöglicht eine perfekte und vollendete Flexibilität der Subjekte - frei schwebend, ortlos, flexibel sogar in ihrer Identität.

Das flexible narzisstische Subjekt fühlt sich einsam? Auch dafür soll es auf dem Markt digitale Lösungen geben. Es gibt nicht nur die Angebote nach dem Motto „rent a friend“, sondern zunehmend Kommunikations-Roboter mit Streichel-Modus. So wie Gläubige selbstverständlich vor dem Marienbild niederknien und mit der Mutter Gottes reden, wie Kinder selbstverständlich ihre Stoffpuppe trösten oder Angehörige ihre Verstorbenen am Grab besuchen, so lassen sich Menschen in ihren Single-Wohnungen von ihren Kommunikations-Robotern begrüßen oder abends von ihren auf Körpertemperatur gebrachten Sex-Puppen in den Arm nehmen. Die Firma Paro bietet diverse solche „therapeutische“ Roboter an. 

Die menschliche Einbildungskraft hat immer schon mit dem Bild des Anderen gespielt. Fetischfiguren entstehen immer schon durch Mystifizierung, wieso sollen die Roboter nicht durch inszenatorische Praktiken als quasi-soziale Akteure ihren Zauber entfalten?  Menschliche Kultur besteht in der Überschreitung der materiellen Existenz durch die Kreationen des Geistes. In der Einbildungskraft wird der Fremde zum Feind und Monster, aber auch die Liebe lebt von dem Projektion eines inneren Bildes auf das Gegenüber. Zivilisationsgeschichte bedeutet die Ersetzung von Elementen der überkommenen natürlichen Ordnung durch eine kultivierte, künstliche „Natürlichkeit“. Auch das, was der moderne Mensch für die jeweilige Natürlichkeit hält, ist dabei immer eine kulturelle geformte und interpretierte, also künstliche Natürlichkeit.

Vielleicht erfordert ein virtuelles Gegenüber mehr phantasievolle Immersion als eine Statue, ein Abbild oder ein Buch-Text, aber es ist dafür auch weniger sperrig gegen die Projektion. Die Informatiker arbeiten daran, die Roboter mit den grundlegenden menschlichen Affekten auszustatten und einer Oberfläche, die sich wie Haut anfühlt. Die konstruierten Körper des Roboters sollen zu Partnern des gespürten Leibes (Plessner) werden, in der Begegnung mit dem Roboter-Körper könnte dann der eigene Leib gespürt werden. „Vorstellbar wäre also, dass ich mich mit einigen Freundinnen zum virtuellen Sex verabrede, um gemeinsam etwas zu erleben, was wir im realen Leben nicht ohne Weiteres wagen würden“, fragt Sophie Wennerscheid. Hinter dem „nicht Trauen“ im wirklichen Leben steckt das Problem, dass der Andere, auf den ich meine Wünsche richte, eine sperrige eigene Identität mit eigenen Wunsch-Bildern hat und sich nicht einfach in der Begegnung „konsumieren” lässt. Bolz formuliert locker: Der andere ist Sexualobjekt, „was denn sonst“. Wenn das von einer Feministin erklärt würde, wäre es vielleicht weniger provozierend. Jugendliche in Japan, sagt man, haben sich an das problemlose Konsumieren der Roboter-PartnerInnen so sehr gewöhnt, dass sie den Kontakt mit eigenwilligen,sperrigeren körperlichen Menschen als anstrengend empfinden.

 

    Literaturhinweise:
    Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest (2002)
    Undine Eberlein, Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne (2000)
    Thomas Hecken, Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums
       gegen seine deutschen Verächter (2010)
    Hans-Peter Müller, Wie ist Individualität möglich? in Zeitschrift für Theoretische Soziologie 01/2015
       online verfügbar  Link  (Zugriff 01-2021)
    Sophie Wennerscheid, Sex machina. Zur Zukunft des Begehrens (2019)
    Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit (2009)
       online verfügbar
    https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_2_1_wirsching.pdf


    siehe auch meine Blog-Texte über
    Der kapitalistische Sozialcharakter: Das moderne „Ich“ ohne „Wir“    MG-Link 
    Individualität und Sozialität   MG-Link
    Die Erfindung der Einsamkeit  MG-Link
    Vom Scheitern des Marxismus  MG-Link
    Konsum statt Arbeit  MG-Link
    Zukunft - Ängste, Hoffnungen. Utopien und Dystopien als Selbstbilder einer Gesellschaft
    MG-Link
    Wahrheit und Krise - über die komplexitätsvergessene Vernunft  MG-Link