Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Meine Studienbücher:

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online kommt

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Selbst:
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Krisendiskurs „Warenhaus“ um 1900

Am Ende des 19. Jahrhunderts entfaltete sich im Streit um die großstädtische Konsumkultur
und speziell um ihr Symbol „Warenhaus“ eine internationale gesellschaftliche Debatte um die Gefahren der Modernisierung

Die Bedeutung der großstädtischen Konsumkultur, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts im Warenhaus symbolisierte, wird verständlich vor dem Hintergrund der sozialen Kleiderordnung, die in der frühen Neuzeit geherrscht hatte.

In traditionalen ländlichen Gemeinschaften findet der Austausch von Waren in einem engen Netzwerk sozialer Beziehungen statt. Den Rahmen setzen soziale Vorschriften, die über Gebräuche, Abhängigkeiten und Traditionen verbindlich sind. Ausgetauscht mit Verwandten und Bekannten wird zudem nur das, was lokal produziert werden kann.
In den frühneuzeitlichen Städten gerät diese alte Ordnung durcheinander, mit erlassen versuchen die Stadtherren, die sichtbare Ordnung der Stände aufrecht zu erhalten. Mehr und mehr schien das aufstrebende Bürgertum danach zu streben, es dem prunkversessenen Adel gleichtun zu wollen. Auch wohlhabende Bauern konnten mit ihrer Kleidung versuchen, Standesgrenzen zu überwinden.
Neben der ständischen Ordnung wurde durch die Kleidung auch die Ordnung der Geschlechter beschrieben und Minderheiten, insbesondere die jüdische Bevölkerung, sollte durch Kleiderzeichen kenntlich gemacht und stigmatisiert werden. Auch Bettler und Arme, Prostituierte, Leprakranke und andere als „unehrenhaft“ geltende Personen und Personengruppen sollten sich über ihre Kleidung sichtbar machen. 

„Policeyordnungen“ für standesgemäße Kleidung

Um 1530 legte die für den Raum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verbindliche „Reichspoliceyordnung“  fest, welchem Stand welche Kleidung zustand. Bürger durften demnach weder Samt noch Seide tragen. Maximilian I. von Bayern vertrat noch im 17. Jahrhundert die Ansicht, zu viel Eitelkeit stehe den unteren Ständen nicht zu. „Vorwitzige Frauen und Jungfrauen“, die es trotz der Kleiderordnung wagten, gegen ihren Stand seidene Schürztücher zu tragen, sollten bestraft werden. Offenbar waren die Policey-, Luxus- oder Kleiderordnungen aber wenig erfolgreich. Sie mussten laufend neu beschlossen  und verkündet werden.

In der Augsburger Kleiderordnung von 1530 etwa heißt es:
„Nachdem ehrlich, ziemlich und billich, daß sich ein jeder, weß Würden oder Herkommen der sey, nach seinem Stand, Ehren und Vermögen trage, damit in jeglichem Stand unterschiedlich Erkäntüß seyn mög, so haben Wir Uns mit Churfürsten, Fürsten und Ständen nachfolgender Ordnung der Kleidung vereiniget und verglichen, die Wir auch bey Straff und Pön, darauff gesetzt, gänzlich gehalten haben wöllen.“
„Die gemeine Bürger, Handwerker, und gemeine Krämer, (sollen) kein Gold, Silber, Perlin, Sammet oder Seyden, noch gestickelt, zerschnitten, oder verbremte Kleider, deßgleichen kein Biret, auch kein Marder, oder dergleichen köstlich Futter tragen, sonder sich mit ziemlicher gebührlicher Tracht, auch von rauhen Futtern, mit geringen Möschen, Füchsen, Iltes, Lämmern, und dergleichen, begnügen lassen sollen.“
„Ihre Haußfrauen (dürfen) ein gülden Ring, nicht über fünff oder sechs Gülden werth, ohn Edelgestein, ein Kragen mit Seyden verneht, ein Schleyer mit einem gülden Leistlein, nicht über zween Finger breit, ein Damasten oder Atlaß Roller, ein Gürtel nicht über zehen Gülden werth, den sie mit Silber, doch unvergüldt beschlagen, deßgleichen die Jungfrauen ein Sammet Haarbändlein mit Silber, unvergüldten Beschlägs, tragen mögen.“
„Handwerksknecht und Gesellen (dürfen) kein Gold, Silber, Seyden oder Straußfedern tragen“
Schließlich: „Die Jüden (sollen) einen gelben Ring an dem Rock oder Kappen allenthalben unverborgen, zu ihrer Erkäntnüß, öffentlich tragen“.

Die Nürnberger Kleiderordnung legte 1568 fest: „Es sollen hinfür die jungen Gesellen und Mannsbilder keine Hosengesäße machen lassen mit langen, plundernen Schnitten und Unterfuttern, die ihnen über die Knie und Waden hinabhängen; sondern welche zerschnittene und unterzogene Hosen tragen wollen, die solllens nicht länger machen lassen, als das die Schnitte samt Unterfutter eine gute Handbreit oberhalb dem Knie ihre Endschaft haben und darüber nicht herabhängen.“
„Keine Weibsperson noch Jungfrau soll eine goldene, samtne, Atlas-, Damast- oder Seidenkleidung (außer Samatin) tragen.“

Solche Kleiderordnungen gab es in allen Herrschaftsgebieten Europas zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert verloren sie vollends ihre Bedeutung. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine öffentliche Debatte über die Frage, was es bedeuten würde, wenn vor allem in den Großstädten die überholten sozialen Grenzen mit Kaufkraft überwunden werden können.

Sombart, Simmel - zeitgenössische Soziologie der Modernisierung

Der Soziologe Werner Sombart (1863-1941) beschrieb die Modernisierung vor allem als Niedergang und Zerfall. Reklame als typischer Ausdruck der Moderne führe zur Verwüstung des Stadtbildes und zur Verrohung des Geschmacks: „Die Kunst im Dienste der Reklame ist eine der vielen gründlichen Verirrungen unserer Kultur.“

Dagegen polemisiert der Karikaturist, Plakatmaler und Werbetexter Edmund Edel, die Reklame sei ein „Kulturfaktor“ und Ausdruck moderner Urbanität: „Ist ein rauchender Fabrikschlot nicht ebenso wertvoll für unsere Kultur, wie die polierten Fingernägel oder die seidenen Unterbeinkleider eines Westenschnittästheten?“

Der Kulturphilosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) hat schon früh die Frage nach der durch Konsum induzierten Individualisierung gestellt. Schon Jahre vor seiner „Philosophie des Geldes“ (1900) hatte Simmel unter dem Pseudonym Paul Liesegang einen Essay über die „Infelices possidentes“ veröffentlicht (Zeitschrift „Die Zukunft“, 1893).  Er beschreibt die neuen Unterhaltungs- und Konsumangebote Berlins, den „hohlen Prunk modernster Vergnügungen“. Warenautomat und das Warenhaus sind die Sinnbilder einer Vergnügungskultur, die die Menschen, die aus ihren alten Bindungen herausgelöst worden sind, überfordert.  „Wechselnde Rollenanforderungen, die Lösung von Traditionen und sozialen Bindungen und das Verschwinden eines einheitlichen Erfahrungsraums sind für Simmel die negativen Konsequenzen der Moderne.“ (Lanz)  Diese Menschen müssen ihre Identität selbst finden. Und sie suchen Identität in dem Warenangebot.

Gefährliche Freiheit der Frauen

Die Warenhäuser und die seit der Jahrhundertwende entstehenden Lichtspielhäuser waren auch Thema populärer Kritik – in Fachzeitschriften und in Romanen.  Warenhaus und Kino waren die öffentlichen Orte, an denen sich moderne Frauen ohne ihre männliche Begleitung treffen konnten – sie waren eine willkommene Abwechslung vom häuslichen Alltag und boten Teilhabe an der großen Welt. Im Warenhaus konnten Frauen sich wie in einem großen Spiegel mit anderen Kundinnen vergleichen, es waren Bühnen des Schauens. Auch der Stummfilm war in den ersten Jahren „weiblich“, wie Heide Schlüpmann beschreibt, und lockte vor allem ein weibliches Publikum. Die Konsumindustrie verkaufte mit den Waren auch Illusionen, Träume und Geschichten.

Viele Groschen- und Heftromane des frühen 20. Jahrhunderts spielten im Filmmilieu und bedienten die Phantasien von jungen Mädchen, die davon träumten, selbst auf der großen Leinwand zu erscheinen. Sie thematisieren Aufstiegsphantasien und gleichzeitig die Kritik an der modernen Konsumgesellschaft, in der der Mensch konsumierbar und somit austauschbar wird. Als Schauspielerin konnte die junge Frau ihr schönes Gesicht verkaufen, als Verkäuferin ihre Kundinnen mit ihrer Schönheit locken. Die neue Freiheit der Frauen betraf auch ihr Liebesleben, das in den Groschenromanen beschrieben wurde.

Die männlichen Kritiker sahen in den beiden Institutionen vor allem die Verführbarkeit und Beeinflussbarkeit der Frauen.
In Emile Zolas Roman ‚Im Paradies der Damen‘, erschienen schon 1884,  werden die Verkäuferinnen als „elende Geschöpfe, genauso käuflich wie ihre Waren“, bezeichnet. Auch das Thema Diebstahl zieht sich wie als roter Faden durch den Roman. Paul Göhre lässt (1907) den Warenkönig Whiteley auf die Frage, ob er auch Frauen besorgen könne, antworten: „Ich habe auch Bräute auf Lager.“ Angeblich zwingt der geringe Lohn die Warenhausverkäuferinnen in die Prostitution. Andere männliche Autoren unterstellen den Verkäuferinnen eine Mischung aus Habgier und Langeweile. Anfällig für die neue Krankheit „Kleptomanie“ sind vor allem schwangere Frauen.
Der Kriminologe Hans Gross erläuterte (1905): „Wenn wir zugeben, dass sich die Frau zur Zeit der Menses in einem erregteren und minder widerstandsfähigem Zustande befindet, so wird uns auch klar, dass sie dann von den Verlockungen schöner Gewandstücke und sonstigen Tandes leichter überwältigt wird.“ Paul Möbius spricht in seiner Schrift ‚Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes‘ (1905) gar von rauschhaften Zuständen, in die Frauen in Zeiten der Menstruation und Schwangerschaft geraten könnten und die den Warenhausdiebstahl physiologisch erklären würden. Der Roman ‚Arbeit‘ (1912) von Oscar T. Schweriner beschreibt den Kaufrausch filmreif: „Langsam füllten sich die Räume mit Menschen. Meistens Damen, die gekommen waren, um ›etwas‹ zu kaufen; – ganz gleich was. Als handele es sich um die Befriedigung irgendeiner sinnlichen Begierde. […] Wie ein Heuschreckenschwarm  überfluteten sie die Gänge. (…) Gesehen von der oberen Galerie machte es den Eindruck, als ob riesige Bienenschwärme sich den Blütenstaub einer einzigen Blume streitig machten; drängelnd, hastend, lüstern.“

National-sozialistische „Lösung“ des Modernisierungs-Konfliktes

Die Verbindung von Liebe, Käuflichkeit und Konsum zieht sich auch durch den Kinoroman ‚Die Kinoprinzess. Geschichte eines armen Mädels‘ von Franz Scott (1913). Das arme Mädchen Grete erfährt, dass jedes Geschenk, jede Leistung, sei es eine neue Pleureuse für den Hut, ein Essen oder ein Kinobesuch eine Gegenleistung erfordert.

Aufgrund der großen Zahl jüdischer Kaufleute ließ sich das Thema leicht mit dem Antisemitismus verbinden - Juden sind die Verführer. Die Warenhaus-Trivialliteratur schildert sie als „Spekulanten“, die „auf orientalische Art“ Raubzüge unternehmen. Theodor Fritsch kontrastierte 1887 in seinem „Handbuch der Judenfrage“ den „ehrlichen deutschen Kaufmann“ mit dem „Warenhausjuden“, der insbesondre mit Reklame die Käufer verführe.

Insbesondere in dem populären Trivialroman ‚Der Warenhauskönig‘ (1912) von Max Freund kommt gleichzeitig die Faszination zum Ausdruck: „Was für Hallen! Welche Pracht! Gewaltige Marmorpfeiler schnellen empor. Die Kuppeln blitzen und funkeln in wunderbarer Beleuchtung. Das Licht ergießt sich breit und gewaltig über die Räume. Man kann es kaum fassen, daß diese wunderbaren Lichthallen zu prosaischen Verkaufszwecken ausersehen sind.“ Freund propagiert dabei einen deutsch-nationalen Sozialismus, der erreichbar sei, wenn die Macht der Juden und die der Banken gebrochen werde. 

    siehe auch meine Blog-Txte
    Konsumismus   MG-Link
    Arbeit und Konsum   MG-Link
    Soziologie der frühen Massenpsychologie  MG-Link
    Massenpresse - Medialisierung der Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert 
    MG-Link

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    iehe zum Thema auch meine Blog-Texte:
    Sensationsjournalismus  MG-Link
    Gerüchte-Kommunikation  MG-Link
    Illustrierte fremde Welt - Welt der Illustrierten 
     MG-Link
    Lese- und Kino-Lust – das ästhetische Vergnügen der Massen  MG-Link
    Fotografie - Verzauberung durch ein neues Medium   MG-Link
    Film - Faszination der bewegende Bilder am Ende des 19. Jahrhunderts   
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    Vor dem 18. Jahrhundert - Hören-Sagen-Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit M-G-Link
    Über die populistische Schelte „der Journalisten“   MG-Link
    Journalismus am Ende   MG-Link
    Zur Pressefreiheit
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    Lit.:
    Andrea Haller und Thomas Lenz, Warenhauskönig und Kinoprinzessin. Konsum- und Kulturkritik in den Warenhaus- und Filmromanen der Kaiserzeit
    aus: Überfluss und Überschreitung: Die kulturelle Praxis des Verausgabens (Hg. Christine Bähr u.a., 2009)
    Thomas Lenz,  Konsum und Großstadt. Anmerkungen zu den antimodernen Wurzeln der Konsumkritik (aus: Ambivalenzen des Konsums und der werblichen Kommunikation, Hg. Michael Jäckel, 2007)
    Heide Schlüpmann, Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos (1990)