Lese-Vergnügen, Kino-Lust
2020 / zu AS7
Am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten die Unterschichten in Deutschland im Zusammenhang mit den illustrierten „Massenmedien“ ein Vergnügen am Lesen. Gekauft wurde einfacher Lesestoff, der den Traum vom Schönen im Leben nährte. Groschenhefte boten für wenige Pfennige regelmäßig „Süßes für die Psyche“. Diese neue Lese-Lust ging in die Kino-Lust über. Lauter „Schund“ und „Kitsch“, schäumten die Verteidiger der bildungsbürgerlichen Kultur-Privilegien.
Kommunikation aus Austausch sinnenhafter Gefühle
Menschliche Kommunikation dient dem Austausch von Nachrichten, viel bedeutsamer aber ist der „Subtext“, der Austausch sinnenhafter Gefühle, der kommunikative Ersatz für das Kraulen. Wenn wir tratschen, machen wir deutlich, dass wir uns mögen, und das fördert die sinnliche Glückseligkeit. Deswegen „Tratschen“ wir so gern. Sinnliche Kommunikation als Vergnügen „ohne Zweck“ stiftet Gemeinschaft, in der Aufmerksamkeit des Anderen genießt es sich daher mehr als in der kommunikativen Einsamkeit. Sogar der elitäre Kunst-Bürger kann schlecht genießen in einer Gruppe proletarischer Fußball-Fans, er braucht dazu Ruhe - und Gleichgestimmte. Auch da, wo einsames sinnliches Wahrnehmen um seiner selbst willen als angenehm empfunden, gesucht und genossen wird, geht es weniger um einsames als um gemeinsames Vergnügen, das auf Anschlusskommunikation setzt nach der Art: „Wie war es in der neuen Ausstellung?“
Der bäuerliche Traum vom guten Leben
Der „Hunger nach Schönheit“ im Leben ist durchaus ein Phänomen der Massenkultur. Die Vergnügungen des bäuerlichen Pöbels galten in der Kulturgeschichte als „unästhetisch“ und körperlich-roh – aber nur aus der Perspektive derer, die die Ordnung des Wissens darüber festlegen wollten, was schon „Kultur“ ist und was noch zivilisiert werden muss. Der Luxus der Reichen beflügelte im „christlichen“ Mittelalter die Phantasien der armen Bauern. Deren imaginiertes Schlaraffenland kannte vor allem Müßiggang, Völlerei und vor allem die Trunksucht. „Gebratene Schweine wandern mit Messern im Rücken umher, um das Tranchieren zu erleichtern, gegrillte Gänse fliegen einem direkt in den Mund, gekochte Fische springen aus dem Wasser und landen zu den Füßen. Das Wetter ist immer mild, der Wein fließt in Strömen, Sex ist leicht zu haben, und alle Menschen genießen die ewige Jugend“, so fasst Herman Pleij die mittelalterlichen bäuerlichen „Träume vom Schlaraffenland“ zusammen. Vom Himmel regnet es Käse, auf Erden gibt es sexuelle Freiheiten und die Demütigung von Autoritätspersonen durch ihre Untergebenen – Karneval. Eine frühe schriftlich überlieferte Version ist das satirische Gedicht von 1350 mit dem Titel „The Land of Cockaygne“. Solche Geschichten wurden im 14. Jahrhundert im ganzen mittelalterlichen Europa erzählt. Das Volksfest war die Gelegenheit, die Sorgen des Alltags zu vergessen und Sinnesfreuden zu erleben, die im Alltag unmöglich und verboten sind. Die Geschichte der Volksfeste, ist die Geschichte des realen und virtuellen Vergnügens. Das ganze Dorf kam zusammen, um zu feiern, zu tanzen, zu essen – und vor allem zu trinken. Da gab es Zauberer und Wahrsager, Puppenspieler und Pantomimen, Bärenführer und Komödianten, Jongleure und Seiltänzer, Bänkelsänger und Moritatenmaler. Der Weltreisende Peter Mundy zeichnete 1620 in seinen Tagebüchern ganz ähnlich einen Festplatz im Osmanischen Reich - mit Schaukeln, Karussellen und Riesenrädern. Volksfeste gab es auch am Rande von Viehmärkten. Für junge Menschen war das Volksfest eine Dating-Börse. Goethes Faust pries die Freiheit des Volksfestes mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz: „Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet Groß und Klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ In der bäuerlichen Alltagskultur konnte die Idee des schönen Lebens nur in den zyklischen Volksfesten der Dorfgemeinschaft gesucht und gefunden werden, alle sechs Wochen unterbrachen solche Feste mit ihren sinnlichen Vergnügen den Rhythmus der Jahresarbeit (Robert Muchembled). Solche Feste fanden meist auf den Kirchplatz statt. Als „Überbau“ bot die Kirche ihre Ordnung des Wissens an – weitgehend sublimierte Vergnügungen, die phantastischen Versprechungen der Religion forderten wenigstens der die Stunde des „Gottes-Dienstes“ den Verzicht auf die populären leiblichen Vergnügungen. Diese Kultur der Dorfgemeinschaft hat den Umzug in die Großstadt nicht überlebt, die Genüsse und Vergnügungen des Volkes haben sich andere Vergemeinschaftungen und andere Objekte suchen müssen, andere Praktiken für ihr Streben nach sinnlicher Befriedigung.
Proletarische Massenkultur in der Großstadt
Verlockend für das Volk waren die neuen medialen Techniken. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird das in der Ökonomie der Massenmedien deutlich – die illustrierten Geschichten boten Anreize für die ästhetische Einbildungskraft. Was von der bürgerlichen Kultur als „Schund“ diskreditiert wurde, war für das Volk attraktiv als Möglichkeit einer „Ästhetisierung des Alltags", bei der Vorstellungen vom schönen Leben genussvoll entwickelt und ausgetauscht werden konnten.
Die neue Massenkultur des späten 19. Jahrhunderts ist ein Element einer kulturellen Demokratisierung. Schon bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag (1871) hatten alle Männer ab 25 Jahren ein allgemeines gleiches Wahlrecht erhalten, das hatte große symbolische Bedeutung. Während im bürgerlichen 19. Jahrhundert die Kultur der Selbstvergewisserung einer kleinen, homogenen, familiär verbundene Führungsschicht diente und die humanistische Ausbildung den Zugang zu hohen Stellungen ermöglichte, bietet die Massenkultur der Jahrhundertwende den städtischen Unterschichten für die zunehmende Freizeit und Kaufkraft ein Angebot des „ästhetischen Genusses“ (Maase). Der „vierte Stand“ entwickelte einen Anspruch auf Kunst und Vergnügen und löste sich von der Bevormundung der Volksschul-Bildung. Misstrauisch wurde das „von oben“ verfolgt. Kaiser Wilhelm II. warnte in einer Kronratsrede 1890 davor, dass die „Beschränkung der Arbeitszeit auch die Gefahr der Förderung des Müßiggangs“ bedeute.
Der sinnlich-ästhetische Genuss wurde zum Element des Alltags der einfachen Leute, die einen Anteil von ihrem kleinen Reichtum, hart erarbeitet, für kräftige Vergnügungen ausgaben und damit Träume und außerordentliche Gefühle in das alltägliche Leben bringen wollten. In ihrer Freizeit eigneten sich die Unterschichten die neuen Medien an, dazu gehörten in erster Linie Fotografie, bebilderte Massendrucksachen und dann Kino. Da diese neuen Medien als rein kommerzielle Unternehmungen organisiert waren, mussten sich die Verkäufer nach dem Geschmack der Massen richten.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich Kräfteverhältnis zwischen der Kultur der „einfachen Leute“ und der kulturellen Eliten umgekehrt – die populäre Kultur war zur dominanten Kultur geworden. Populären Vergnügungen gehörten seitdem zur kulturellen Grundversorgung aller, alle befassen sich mit denselben Werken und sehen dieselben Filme. Die elitäre bürgerliche Kultur findet sich in hochsubventionierte Nischen abgedrängt, auf Spartenkanäle des Fernsehens und in die späten Abendstunden.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert äußerten sich die Bemühungen, die sozialen Unterschiede zu verteidigen, noch in demonstrativ abwertenden Diskursen gegen Schmutz und Schund. Die Träume der Unterschichten wurden als Kitsch empfunden und verurteilt. Offenbar fanden die Vertreter der elitären Kultur es bedrohlich, dass wachsende Bevölkerungsteile eine ihnen unzugängliche und fremde Praxis des ästhetischen Genusses entwickelten. Noch 1912 stellte ein Pfarrer fest, der durchschnittliche Gebildete komme eher einmal nach Afrika als in die Arbeiterviertel an den Rändern der Großstädte. Aber Arm und Reich begannen sich bei Radrennen und Flugvorführungen zu begegnen.
Massendrucksachen
Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts war die Anzahl derer gewachsen, die über elementare Lesefähigkeiten hinaus einfache kurze Texte regelmäßig und mit Genuss konsumieren konnten, denen das extensive Lesen also nicht nur ein Bildungserlebnis versprach, sondern auch Vergnügen bereitete. Neben der Alphabetisierung war dafür der Zugewinne an freier Zeit entscheidend. Solche Medienangebote waren im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Quelle des Vergnügens, denn sie boten Einblicke in unbekannte Welten, sie waren voller Anregungen für phantasievolle Tagträume im Vergleich mit den eigenen Erfahrungen und Wünschen. Zudem boten sie Gesprächsanlässe mit anderen. Insbesondere die „illustrierte“ Presse gewann einen festen Platz in den Arbeiterfamilien. Der Erfolg von Familienblättern wie der Gartenlaube (seit 1853) dokumentieren die Entwicklung. Ihre Auflage stieg Auflage auf 382.000 mit Jahre 1876. Der Erfolg motivierte Nachahmungen: 1885 wurde die erste - ausdrückliche und vom Titel her exklusive - Frauenzeitschrift gegründet: „Dies Blatt gehört der Hausfrau“. Dem steigenden Lesebedürfnis entsprach die neue Generalanzeigerpresse, die nicht mehr politisch motivierte Parteipresse sein wollte und rein kommerziell auf eine möglichst große Leserschaft ausgerichtet war. Die Tour de France ist 1903 von der Zeitschrift L’Auto initiiert worden, große Berliner Zeitungen stifteten Fußballpokale und veranstalteten Autorennen. Wenn die Auflage der deutschen Zeitungen im Jahr 1910 auf 15 bis 18 Millionen geschätzt wird, dann bedeutet das bei einer deutschen Bevölkerung von 68 Millionen Menschen, dass praktisch alle erwachsenen Männer und viele Frauen erreicht wurden. Große Bedeutung unter den Massendruckwerken hatten auch die Groschenhefte. Sie boten für wenige Pfennige regelmäßig „Süßes für die Psyche“ (Maase). Insbesondere Heranwachsende sammelten und tauschten solche Groschenhefte, tauschten sich darüber aus und übernahmen spielerisch Rollen von Serienfiguren. Sie identifizierten sich mit ihren Heldenfiguren wie Nick Carter oder mit den Luftpiraten.
Film und Kino
Der Film begann 1895 als visuelles technisches Wunder-Medium und machte zunächst Karriere in der Subkultur der Varietés. Schon die ganz frühen Kurzfilm-Streifen zeigten, dass Phantasiereisen besonders beliebt waren. Der Stummfilm „Die Kohlfee“ zeigt 1896 virtuelle Realität - die Fee zaubert unter den Kohlköpfe Babys hervor. Die „Versuchung des Heiligen Anthonius“(1898) oder die „weiße Sklavin“ („Den hvide Slavinde“, 1906) führten sexuelle Phantasien vor Augen, die „Reise zum Mond“ technische Phantasien. Schon im Stummfilm entwickelte sich eine Kultur der Filmstars. Die bürgerliche Kritik an dem Vergnügen des „Pöbels“ an den Filmvorstellungen in abgedunkelten Räumen zeigt, wie sehr diese „Suche nach dem Schönen“ auch immer eine unsublimierte körperliche Komponente hatte. (MG-Link)
Schon nach wenigen Jahren entwickelte sich angelehnt an das Theater das Format des „Spielfilms“. Als erzählender Film wurde das neue Medium zum Massenmedium auch für bürgerliche Kreise. Bereits 1914 war die die Zahl der Sitzplätze in den neuen „Lichtspieltheatern“ pro Kopf der deutschen Bevölkerung mit der heutigen Kino-Dichte vergleichbar. Der russische revolutionäre Leo Trotzki hat 1923 festgestellt, dass einzig die Fantasiereisen des Films für sein proletarisches Klientel eine Konkurrenz zu denen der Kirche bieten könnten. Das was noch vor den Durchbruch der Tonfilms (1927) und den Farbfilms (1941). In der Fernsehgesellschaft seit den 1950er Jahren genießen die auf ihren Sofas festgestellten Augentiere die Massen- oder Populärkünste – und das, jedenfalls statistisch gesehen, fünf Stunden täglich. Die Virtual-Reality-Brille vervollkommnet die körperliche Einsamkeit und verlegt die aufregendsten und schönsten Abenteuer ganz in die Einbildungskraft - nur die Erdnüsse und die Chipsstüte erinnern an das leibliche Hier und Jetzt.
Lit.: Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen: der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970 (1997)
Zur Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts siehe auch die Texte: „Lesesucht“ - Über die Gefahren der „Bücherfluth” und die Kritik des Lesen im 18. Jahrhundert MG-Link Das 19. Jahrhundert - Neuordnung des Hintergrundwissens durch Volksaufklärung und Massenpresse MG-Link Panorama und die Sehnsucht nach virtuellen Welten MG-Link Fotografie - Verzauberung durch ein neues Medium MG-Link Illustrierte fremde Welt - Welt der Illustrierten MG-Link Illustrierte I: Mode als europäisches Medienereignis, das „Journal des Luxus und der der Moden” (1786) MG-Link Illustrierte II: Die Gartenlaube (1853) MG-Link Die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert: Presse und Pressefreiheit, Unterhaltung, Medialisierung und zivilgesellschaftliche Beteiligung MG-Link Bewegende Bilder – zur Frühgeschichte des Films MG-Link
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