Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen
ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges
ISBN 978-3-7375-8922-2
 

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt
ISBN: 978-3-752948-72-1
 

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
ISBN 978-3-746756-36-3
 

 

Die Erfindung der Hieroglyphen
oder:
Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten

2017

Man darf unterstellen, dass im alten Ägypten Palmblattrippen als Gedächtnisstütze mit Kerben versehen wurden, man hat vermutlich auch auf einen Baum bzw. auf dessen Blätter Zeichen geschrieben. Für die Verwendung der gekerbten Palmblattrippen gibt es Indizien. Alle Spuren davon sind aber wegen der Vergänglichkeit der Materialien im feuchten ägyptischen Fruchtland verrottet und verloren gegangen. Erhalten geblieben sind nur Zeichen, die im trockenen Wüstensand die Jahrtausende überdauern konnten, also vor allem Zeichen auf Stein. Und Zeichen in den versteckten Grabkammern, Schriftzeichen aus einem Alltagskontext auf „billigen“ Materialien also eher nicht.

semenech

Semenech „belebt den Namen“
seines Bruders Mekimontu
und dessen Frau und stiftet ein Totenopfer

 

 

Auffallend ist, dass ein Teil der überlieferten Bild- und Schriftsymbolen an Stellen angebracht war, an den sie selbst für die Menschen, die sie entziffern konnten, unlesbar waren. Die Zeichen waren hoch an Säulen und Wänden angebracht, in Särgen, in unzugänglich verschlossenen Grabkammern. Solche Zeichen waren nur für Götter lesbar – in der Vorstellung der Menschen, deren Mehrheit allerdings sie sowieso nicht hätte „lesen“ können. In den Gräbern sind auch „Briefe an die Toten“ gefunden worden, zum Teil auf Papyrus geschrieben, auch in kultischen Opfergefäßen gab es Schriften. Vermutlich war die Einbringung eines solchen Textes auch ein ritueller Akt – nur die Priester wussten von den Schriften, die eine performative Bedeutung im Rahmen eines Rituals hatten. „Die Schrift war dazu gedacht, die Stimme des Priesters, der diese Sprüche zu den Ritualen der Einbalsamierung, der Beisetzung und des Opferkults zu rezitieren hatte, einzufangen und auf Dauer in die Grabkammer zu bannen, so dass der tote König nun in seinem Sarkophag für immer im Raum dieser Stimme und der Wirkungskraft ihrer Sprüche verbleiben konnte.“ (Jan Assmann)

Nicht zufällig kommt der Name „Hieroglyphen“ aus dem Altgriechischen und müsste als „heilige Steinschriftzeichen“ übersetzt werden. Nach der altägyptischen Überlieferung hat der Gott der Weisheit Thot die Hieroglyphen geschaffen. Die Ägypter nannten sie „Schrift der Gottesworte“.

Aber aus der Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends sind in den Gräbern der vermögenden Oberschicht auch Aufzeichnungen erhalten, die aus Sätzen und Satzfolgen bestehen: Texte, die Auskunft über die Besitzer und die Herkunft der Grabbeigaben geben, die sich mit Schenkungen oder mit Abmachungen zwischen Grabbesitzer und den Totenpriestern befassen, Texte, in denen sich der Tote an die Passanten wendet mit der Bitte, das Grab nicht zu entweihen oder zu zerstören, und quasi „biografische“ Texte. Aus dem Totenkult stammen die meisten der erhaltenen Texte – hier bediente man sich dauerhafter Schriftträger bzw. Schriftträgern, die unter den Bedingungen der Gräber dauerhaft waren. 

Stele der Nefertiabet

 

Stele der Nefertiabet
in Gizeh  (um 2500 v.u.Z.)
 

 

 

Diese Opfertafel zeigt, welche Speisen und Getränke regelmäßig im Rahmen des Grabkultes für die Verstorbenen als dargebracht werden sollten. Die Darstellung der Speisen in Hieroglyphenschrift garantiert die Versorgung des Verstorbenen auch dann, wenn die Opferungen unterbrochen werden.

 

Die Texte in den Grabkammern behandeln nicht nur speziell kultische Themen, sondern Themen der Alltagswelt –  es sind eher verwaltungsmäßige Inhalte, die da festgehalten werden sollen. Etwa Aktenauszüge, die den Erwerb von Besitz dokumentieren oder Dienstleistungsverträge. „Es handelt sich um organisatorische Kennzeichnungen diverser Art, um Besitzmarken und um sonstige Hilfsmittel für die Durchführung einer ordnungsgemäßen Verwaltung, z. B. die Jahresangaben der Jahrestäfelchen.“ (Wolfgang Schenkel) Die Anwendung der Hieroglyphenschrift betraf also offenbar  Bedürfnisse des Alltags, soweit die Verteilung der Güter rechtlich geregelt oder bürokratisch verwaltet werden musste. Buchhalter im Lande zwischen Euphrat und Tigris hatten die Zahlenschrift erfunden, um Reichtum zu verwalten. Die ältesten bekannten Schriftformen von Zahlen sind auf Tontäfelchen entdeckt worden, die vor 3.000 v.u.Z. am Persischen Golf im unteren Mesopotamien und im Lande Elam geprägt wurden. Elam lag auf dem Gebiet des heutigen Iran im Osten des Landes Sumer. Die ägyptischen Hieroglyphen entstanden wenig später, vielleicht angeregt durch die Kunde aus Elam, aber in ihrer form jedenfalls unabhängig.

Den ägyptischen Hieroglyphen sieht man ihren Ursprung in der Bild-Kommunikation an. In den Tempeln und an Grabwänden hatten sie die Form einer Monumentalschrift, d.h. einer Zeichenschrift mit reichhaltigen ausschmückenden Elementen. Schriftzeichen werden visuell „gelesen“ - wie Bilder. Die Hieroglyphen der ägyptischen Schrift sind der Form nach eine „Bilderschrift", sie sind auch eine Laut- und Begriffsschrift. So kann das Bild eines Beines auch „gehen“, „laufen“ oder „fliehen“ bedeuten. Die Sonnenscheibe stand für „Tag“, „Wärme“, „Licht“ oder den Sonnengott. Ein Zeichen konnte metaphorische Bedeutung bekommen, die mit dem Bild assoziiert wurde. Offensichtlich war die Mehrdeutigkeit der Zeichen ein Problem, daher wurden Begriffszeichen am Ende eines Wortes hinzugefügt, die ohne Rücksicht auf einen Lautwert den Gegenstandsbereich anzeigten, im dem die Hieroglyphen interpretiert werden sollten: Ein Vogel-Zeichen zum Beispiel klassifizierte das ganze Wort und machte es lesbar als „etwas, das fliegt“ – eben Geier, Schwalbe, Gans oder sogar als Heuschrecke.

Schon die ältesten Hieroglyphen (um rd. 3.000 v.u.Z.) sind auch visuell dargestellte Konsonantenzeichen. Hieroglyphen, die einen Gegenstand bezeichnen, können daher auch zur Schreibung anderer Wörter mit gleichem Konsonantenbestand verwendet werden. Wenn dieses Prinzip auf die deutsche Schrift angewendet würde, könnte „Ebene" mit denselben Zeichen wie „Biene" oder „oben" schreiben. „Eine solche Übertragung macht das Abstraktionsvermögen der Ägypter deutlich, ja diese Fähigkeit zur Abstraktion ist die grundlegende Voraussetzung zur Erfindung der Schrift.“ (Brunner-Traut)

Die Entwicklung der Hieroglyphenschrift (1) ist nicht aus den Bedürfnissen des Kultes erklärbar. Die Schriftzeichen wurden in einem kultischen Kontext benutzt, hatten jedoch nicht primär kultischen Inhalt. Die ältesten ägyptischen Zahl-Zeichen lassen erkennen, dass sie die Aufhäufung von Kieselsteinen oder anderen Gegenständen direkt auf die schriftlichen Symbole übertrugenSchriftkundige waren die Beamten. Die Bezeichnung „sesch“, „Schreiber“ war im Ägyptischen lange synonym mit „Beamter“. Die Kenntnis des Schreibens wurde zu einer Grundvoraussetzung für alle Arten einer Laufbahn im Staat.

Dieses komplizierte ägyptische Schriftsystem wurde immer wieder ergänzt durch neue Bild-Zeichen, aber innerhalb der ägyptischen Kulturtradition nicht vereinfacht oder systematisiert etwa durch eindeutigere Konsonantenzeichen. Auch als die phönizischen Kaufleute es vereinfachten und die Griechen es für ihre Sprachelaute zum Alphabet weiterentwickelten, das zum Erfolgsmodell für den mittelmeerischen Kulturraum wurde, passte sich die ägyptische Schriftsystem nicht an. Es geriet in Vergessenheit.

    vgl. dazu besonders auch die Texte:

    Altägyptische Kultur des Erkennens 
    M-G-Link
    Schrift-Denken: Phonetische Schrift und die Ursprünge des griechischen Denkens
        M-G-Link
    Denken mit Zahlen  
    M-G-Link
    Das mythisch tickende, phantastische Gehirn    
    M-G-Link


    Literaturhinweise:
    Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten (2001)
    Wolfgang Schenkel, Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten
      in: A. und J. Assmann und Chr. Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen
      Kommunikation I, (1983) 
    Martin Fitzenreiter
    , (Un)Zugänglichkeit. Über Performanz und Emergenz von Schrift und Bild
      in: Annette Kehnel u.a. (Hg.)  Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften (2014)

    Anmerkung:
    1) Das Verhältnis der sumerischen und der ägyptischen Schriftentwicklung untersucht Schenkel auf dem Hintergrund einer Typologisierung der Entwicklungsschritte einer Schriftentwicklung:
    Stufe I Wortschreibung: Für Wörter zeichnet man einfach das „Objekt" hin oder ein Symbol. Zwei Striche stehen nicht für Striche, sondern für „zwei”.
    Stufe II Lautliche Worte: Für ein Wort werden ein oder mehrere „Objekte" gezeichnet, deren Bezeichnung ähnlich lauten, z. B. könnte man für „Rhetor" ein „Reh" und ein "Tor" "schreiben".
    Dieses „Rebus”-Prinzip kann schrittweise systematisiert werden: Ein Satz von Zeichen deckt die vorkommenden Lautformen ab. 
    Die frühesten erhaltenen Schriftzeugnisse aus dem Beginn der dynastischen Zeit in Ägypten (um 3000 v. u.Z.) „zeigen alle Merkmale der Wortschreibung“ (Stufe I). 
    Um ca. 2700 v.u.Z. „ist der systematische Ausbau eines Satzes von Lautzeichen (nach dem Rebus-Prinzip) belegt“ – also in Zeiten, in denen die sumerische Schriftsystem dies nicht kannte.
    Schenkel schließt daraus: „Die Schriftentwicklung ist ein komplizierter Prozess, der parallel, aber asynchron in Sumer und Ägypten ablief.“