Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Auszug aus: Roger Chartier und Guglielmo Cavallo, Die Welt des Lesens  Seiten 26-30


Die Kultur des Lesens im römischen Reich

(…) Vor dieser Zeit (2. Jahrhundert vor Christus) muss man den Umgang mit der Schriftkultur in der römischen Welt im wesentlichen auf die Priesterkaste und die Schicht der Patrizier beschränkt sehen, und deshalb dürfte es außer den von den Priestern verfassten annales maximi, den commentarii augurum, das heißt den Büchern der Deuter, und den libri Sybillini sowie wenigen anderen in loca secreta aufbewahrten libri reconditi kaum Bücher gegeben haben. Was die Adelsschicht angeht, so sind in diesem Bereich eher Archivdokumente als Bücher bezeugt, etwa commentarii zu den bekleideten Ämtern und laudationes auf Verstorbene. Man darf also von einer Lesepraxis ausgehen, die über öffentlich zugänglich gemachte Inschriften oder Dokumente wahrscheinlich nicht hinausging.

Vom 3. bis 2. Jahrhundert v. Chr. an wird in einer nun im Wandel begriffenen Gesellschaft vom Buch aber ganz offensichtlich ein umfassenderer und differenzierterer Gebrauch gemacht. Doch handelt es sich dabei weitgehend um griechische Bücher, wie etwa jene, die die Komödienschreiber benutzten, um daraus Inspiration und Scherze zu ziehen, also zu professionellen Zwecken. Sogar die Entstehung einer lateinischen Literatur ist zu dieser Zeit an griechische Vorbilder und daher Bücher gebunden.

Zunächst ist die Praxis des Bücherlesens auf die oberen Schichten beschränkt und ganz privat. Im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. kommen griechische Bücher als Kriegsbeute an: Im Jahr 168 bringt Aemilius Paullus Bücher aus Mazedonien mit, im Jahr 86 Sulla aus Athen, in den Jahren 71/70 Lucullus vom Pontus. Aufbewahrt in den Wohnhäusern ihrer Eroberer, bilden diese Bücher bald private Lesebibliotheken, in denen und um die herum sich der kleine Kreis der Gebildeten trifft: Polybios erinnert sich der Jahre seiner Freundschaft mit Scipio Aemilianus und Aemilius Paullus und bringt sie mit  Buchausleihen und Gesprächen in Verbindung, die durch diese Ausleihen angeregt wurden; später macht sich Cicero die Bibliothek des Faustus Sulla zunutze, des Sohns des Diktators, und Cato Uticensis versenkt sich in der Bibliothek, die der junge Lucullus von seinem Vater geerbt hat, in die Lektüre der Stoiker. Die nach hellenistischem Vorbild errichtete römische Bibliothek ist mit einem Garten und Säulengängen verbunden, doch als exklusiver und reservierter Raum schickt sie sich an, zu einem „Lebensraum“ zu werden.

Die Kaiserzeit markiert bei den Lektürepraktiken einen neuen Wendepunkt, der vor allem damit zu tun hat, dass die Alphabetisierung zunimmt. Die nunmehr griechisch-römische Welt ist - wenn auch mit Unterschieden zwischen den einzelnen Perioden,  zwischen Zentrum und Provinzen, einer Gegend und der anderen und innerhalb ein und derselben Gegend zwischen Stadt und Land und den Städten untereinander - eine Welt mit einer stark zirkulierenden Schriftkultur. Neben Inschriften verschiedenster Art - von öffentlichen Epigraphen bis hin zu Graffiti - ist eine große Zahl schriftlicher Erzeugnisse in Umlauf: Schilder, bei Umzügen in die Höhe gereckt und auf Votivgaben oder siegreiche Feldzüge bezogen, Heftchen oder Flugblätter in Versen oder Prosa, zu polemischen oder verleumderischen Zwecken an öffentlichen Orten verteilt, Münzen mit Legenden, beschriebene Stoffe, Kalender, Beschwerdeschriften, Briefe, Nachrichten. Zu berücksichtigen sind außerdem die zivilen und militärischen Urkunden sowie Schriftstücke aus der Rechtsprechungspraxis. Es handelt sich um eine immense Produktion von Schriftlichem, auch wenn sie sich nur zum geringsten Teil direkt oder indirekt belegen läßt. Vor diesem Hintergrund einer verbreiteteren Lesefähigkeit und daher auch Zirkulation von Schriftstücken steigt die Nachfrage nach Büchern und Lesestoff, die auf dreierlei Weise befriedigt wird: durch die Schaffung öffentlicher und die Zunahme privater Bibliotheken sowie die damit einhergehende Blüte von Abhandlungen, die den Leser bei der Auswahl und beim Einkauf von Büchern anleiten sollen; das Angebot neuer (oder umgearbeiteter) Texte für neue Leserschichten; die Herstellung und Verbreitung eines anderen Buchtyps, des Kodex, der den Ansprüchen der neuen Leserschichten und den Erfordernissen veränderter Lesepraktiken besser entspricht.

Über die Funktion der öffentlichen Bibliotheken in Rom als Orte der Lektüre ist nur wenig bekannt. Mit Sicherheit waren sie keine reservierten Bibliotheken wie die hellenistischen; eher muss man von »Bildungsbibliotheken« sprechen, in dem Sinne, dass sie jedem offen standen, der Zugang suchte. Tatsächlich handelte es dabei um ein Lesepublikum der Mittel- bis Oberschicht, demselben, das - jedenfalls zumeist – auch über Privatbibliotheken verfügte. Aus diesem Grund kann ihre Zunahme nur bis zu einem gewissen Grad mit bestimmten gestiegenen Lesebedürfnissen in Zusammenhang gebracht werden. Wurden sie auf Wunsch des Princeps eingerichtet, handelte es sich eher um zu feierlichen Anlässen erbaute Denkmäler, in denen Geschichtszeugnisse aufbewahrt wurden (tatsächlich dienten sie auch als Archive) und das überkommene Schrifttum sortiert und kodifiziert werden sollte. Auch wurden öffentliche Bibliotheken durch private Wohltätigkeit als urbane Stätten gepflegter Unterhaltung errichtet.
(…)
Die Zunahme privater Bibliotheken hing zweifellos von gestiegenen Lesebedürfnissen ab. Auch in den Fällen, in denen diese Bibliotheken nur der eitlen Zurschaustellung wirtschaftlicher Macht und der Bildungsheuchelei dienten (man denke nur an die Buchsammlungen eines wenig gebildeten Emporkömmlings wie des Trimalchio bei Petronius oder an den Bücher anhäufenden Unwissenden, über den sich Lukian lustig macht), zeigen sie, dass Bücher und Lektüre in der auf Repräsentation bedachten Welt der griechisch-römischen Gesellschaft jener Zeit zu den Annehmlichkeiten und Verhaltensweisen eines begüterten Lebens gehörten. Auch Trimalchio schlug das eine oder andere librum auf und las darin den einen oder anderen Satz; und Lukians Unwissender hatte immer ein Buch in der Hand und konnte sehr gewandt lesen, auch wenn er vom Sinn des Geschriebenen nicht sehr viel begriff. Auf griechisch abgefasste Abhandlungen aus der Kaiserzeit, die verloren sind, von denen man aber Kenntnis hat, darunter Die Bücher kennen von Telephos von Pergamon, oder Über Erwerb und Auswahl von Büchern von Herennius Philon, oder auch Der Bücherfreund von Damophilos von Bithynien zielten offensichtlich darauf ab, dem Leser bei der Auswahl und Sammlung von Büchern Orientierung zu geben. Dies lässt überdies vermuten, dass es sowohl eine verwirrende, da im Verhältnis zu früheren Zeiten größere und vielfältigere Buchproduktion gab als auch, spiegelbildlich, ein nicht mehr nur elitäres und deshalb oftmals wenig sachverständiges oder in seinen Entscheidungen unsicheres Publikum.

Eine weitere Antwort auf den gestiegenen Bedarf an Lektüre war das Aufkommen neuer Texte. Dabei handelte es sich um eine komplexe Operation, wie uns wiederum Ovid bezeugt: Mit der Sensibilität eines Autors, der stark auf die Veränderungen bei seinem Publikum, auf dessen Bedürfnisse und Stimmungen achtet, fügt der Dichter seiner zunächst zweiteilig angelegten Ars amatoria ein drittes Buch nur für Frauen hinzu. In der Kaiserzeit emanzipieren sich die Frauen allmählich. Zumindest einige von ihnen erobern die Welt des geschriebenen Wortes und können so den libellus lesen, den Ovid an sie richtet.

Andeutungsweise vom klassischen Griechenland vorweggenommen, wird die »Leserin« vielleicht erst zu dieser Zeit eine wirkliche Figur in der antiken Welt. Ovid erwähnt aber auch Bücher, die leichte Kost boten, die etwa Gesellschaftsspiele und andere Arten des Zeitvertreibs lehrten. Und wenn solche Bücher bei gebildeten und vielleicht hochgelehrten Menschen in Umlauf waren, so gab es auch Schriften für ein größeres, weniger differenziertes und manchmal auch recht wenig gebildetes Publikum, Texte, die für neue und intellektuell weniger geschulte Leserschichten geschaffen (oder gezielt zurechtgestutzt)  waren.

Einer größeren Nachfrage nach Lektüre entspricht schließlich der Kodex, die Buchform, die sich von der Schriftrolle unterscheidet und seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. allmählich an deren Stelle rückt. Er wird zum bevorzugten Buch für die christlichen Schriften und deshalb auch der christlichen Leser. Vor allem seit der Zeit des Commodus und der Severer hatte diese breitere Nachfrage nach Lektüre nämlich dazu geführt, dass zwischen dem Bedarf an neuen Texten - darunter die des sich ausbreitenden Christentums - und den Mechanismen der Buchproduktion und -Verteilung, wie sie der traditionellen, auf der Schriftrolle basierenden Kultur eigen waren, ein Missverhältnis entstand. Die Schriftrolle blieb an Sklavenarbeit gebunden, an mehr oder weniger kostspielige Werkstätten, an den Papyrus, das aus Ägypten importierte Schreibmaterial. Der Erfolg des Kodex - des »aus Seiten bestehenden« Buchs - war durch verschiedene Faktoren gewährleistet: vor allem durch die geringeren Kosten, denn das Schreibmaterial wurde beidseitig genutzt. Außerhalb Ägyptens benutzte man normalerweise Pergament als Grundlage, ein tierisches Produkt, das sich überall herstellen ließ. Die praktischere Form des Kodex war besser geeignet für eine nicht professionelle Fertigung, eine Verteilung über neue Kanäle, eine in ihren Bewegungen freiere Lektüre und für die geistig konzentrierten (christlichen, juristischen) Kommentare, die in der Spätantike allmählich in den Vordergrund rückten.

Veränderungen des Buches und Veränderungen der Lesepraktiken konnten gar nicht anders als parallel zueinander erfolgen.

 

aus: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm
Herausgegeben von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo (dt. Frankfurt, 1999)
In dem Band findet sich der Aufsatz von
Guglielmo Cavallo: Vom Volumen zum Kodex: Lesen in der römischen Welt