Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Orale Götterkultur:
Klangrede und leichte Trance

2007

Die elementaren Formen der Poesie sind alle älter als die Schrift - ob Mythos oder Märchen, Legende oder Hymnus, lyrisches Lied, epische Erzählung oder dramatisches Theater. Es waren die Formen, in denen das kulturelle Gedächtnis tradiert wurde. Still rezipierte Dichtung gab es in den frühen Jahrtausenden der Menschheit nicht. Analphabeten erfanden die Poesie, nicht die Dichter (dictare) und nicht dichtende Schreiber.

KlangredeDer Analphabet hat nur seine Stimme. Poesie war live, ein Klang-Ereignis im Bannkreis von Hörern. Die  Rhythmen und der Sprachmelodie als Darstellungsmittel der Verse erzeugten durch ihre gleichmäßige Monotonie ein Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit. Verse sind ursprünglich nicht in Zeilen gebrochene Texte, wie wir sie heute wahrnehmen. Verse sind  ursprünglich erlebte, innerlich bewegende Wirklichkeit, ein rhythmisches Zaubermittel, das älteste Tiefenschichten in uns zum Schwingen bringt, das begeistern, das göttlich inspirierte Bilderwelten evozieren kann.

Orale Gemeinschaften nutzen sensomotorische Hilfsmittel, ihr soziales Gedächtnis ist eine Art Körpergedächtnis. Die Techniken der körperlichen Mitteilung sind gleichzeitig Speicher- und Nachrichtentechniken, mit deren Hilfe Informationen über und durch die Körper fließen und sie in sozial eingeübten Haltungen, Gesten und Gebärden verfestigen.

Leichte Trance in rhythmisch gesungener Poesie

Die alten Verse wirken ermüdend. Sie wurden von einer „helltönenden Leier", der mit vier Saiten bespannten Phorminx, recht monoton begleitet, und so sollten sie auf ihre Weise ermüdend wirken. Dem heutigen stillen Leser bleibt nur noch das leichthin Einschläfernde der Verse, denn er hört nicht mehr den einst hypnotisch wirkenden eindringlichen Ton des Sängers. Durch den unablässigen, schwingenden Singsang verfielen die Hörer einst nicht in Schlaf, sondern in eine leichte Trance, die das Tagesbewusstsein ausblendete und eine innere Bilderwelt heraufbeschwor. Der Erzählkreis verdrängte die Alltagswelt und schloss mit seiner Klangrede auf geheimnisvolle Weise, das heißt auf rhythmischem Wege, die Welt der Helden und Götter auf.  

Erlebt wurde die Trance meist abends, wo jeder ohnehin empfänglicher ist und die sichtbare Umwelt verdämmert. Der Weg in die leichte Trance gleicht dem Verlöschen des Tageslichts. In diesem Schwebezustand ist man nicht ganz bei sich, sondern in anderen Sphären. Ein solcher Zustand kann unter anderem durch Drogen, Atemtechniken, Hypnose, aber auch Tanz, Musik und Psalmodieren herbeigeführt werden. Darin liegt auch das Geheimnis des Beats in der Popmusik.

In der rhythmisch erzeugten leichten Trance kommt es zu einer anderen Art der Informationsverarbeitung im Gehirn. Regelmäßige Geräusche synchronisieren physiologische Funktionen. Sämtliche Lebensvorgänge im Körper werden durch rhythmisch ablaufende Aktivitäts-Veränderungen in unserem Nervensystem gesteuert. Akustischer Rhythmus setzt an im Bereich des Zwischenhirns, wo die rhythmischen vegetativen Funktionen von Herzschlag und Atmung reguliert werden. Trance ist auch ein bildgebendes Verfahren. Die erzählten Inhalte werden in einem Teil des Großhirns, im meist linksseitig gelegenen Sprachzentrum rezipiert. Die Wahrnehmung von Rhythmen dagegen ist in einem älteren Hirnteil, dem Zwischenhirn wie auch im Stammhirn, lokalisiert. Die Rhythmisierung von Sprachklängen stellt demnach eine ganz eigene Verbindung zu Tiefenschichten unseres Gehirns her.

Die Göttin Mnemosyne

Die Macht des Gedächtnisses muss in den frühen Zeiten der Menschheit tatsächlich weit größer gewesen sein als wir uns das heute überhaupt vorstellen können. 
Homers Ilias enthält rund 16.000 Hexameter, die Odyssee rund 12.000.  Entsprechende Textmassen müssen insgesamt zuvor von mündlichen Sängern im Gedächtnis bewahrt und - in  „Liederfolgen" - über Jahrhunderte durch Vortrag tradiert worden sein.
Pythagoras (etwa 570 bis 500 v.u.Z.) Lehren wurden geheim gehalten und nur mündlich weitergegeben, unter dem Siegel der Verschwiegenheit.
Sokrates (ca. 470 - 399) hat mündlich gelehrt. Schriftliche Aufzeichnungen gelten ihm nur als Gedächtnisstütze für den, der längst weiß, wovon das Geschriebene handelt. So erzählt er gegen Ende von Platons „Phaidros", der ägyptische Gott Theut (Thot), der Erfinder der Schrift, habe dem König Thamos seine Erfindung mit der Begründung empfohlen, sie werde die Ägypter „weiser und erinnerungsfähiger machen". Der König aber habe ihn zurückgewiesen mit den Worten: „Vergessen wird dies in den Seelen derer, die es kennen lernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, da sie nun im Vertrauen auf die Schrift durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus und aus sich selbst schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar." Sokrates fährt fort: „Wer also glaubt, eine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen und andererseits wer diese annimmt, so als ob aus Buchstaben etwas Deutliches und Zuverlässiges entstehen werde, der dürfte wohl von großer Einfalt sein.“ Denn nur das ins Gedächtnis eingeschriebene Wissen werde „in der Seele des Lernenden aufgezeichnet“.

Aus heutigen noch weitgehend illiteraten Kulturen in Teilen Afrikas, Asiens und Südamerikas berichten Ethnologen, dass dort Menschen leben, die unvorstellbare Mengen an Informationen, d.h. von Erzählungen und Liedern, im Gedächtnis bewahren und tage- und nächtelang singend frei vortragen können. In vormodernen Kulturen wird das Gedächtnis der Kinder für Höchstleistungen trainiert (während es heute durch Informationsüberflutung blockiert wird). Doch auch jetzt noch lernen hinduistische, buddhistische, jüdische, muslimische Schüler - im Sitzen den Oberkörper wiegend - den Inhalt ganzer Bücher wortgetreu auswendig. Warum? So besitzen sie die tradierten heiligen Texte by heart, par cœur - nicht auswendig", sondern „inwendig".

In der griechischen Mythologie ist „die Erinnerung" eine Urgöttin: Mnemosyne, eine titanische Tochter des Himmels (Uranos) und der Erde (Gaia). Wer könnte sich gewaltigerer Eltern rühmen? Nach Hesiod gehört Mnemosyne, die „Göttin Gedächtnis", zu den großen göttlichen Mächten der Weltordnung. Mit ihr zeugte der Göttervater Zeus die Musen. Diese teilten dann den Schatz des Wissens unter sich auf, den ihre Mutter „Gedächtnis" seit jeher insgesamt besitzt.

In verschiedenen Kulturen gab es eine bewusste Ablehnung der Verschriftlichung der jeweiligen Erzählungen oder Lehren. Einerseits sollten sie Geheimwissen im Kreise der Eingeweihten bleiben, andererseits gab es geradezu einen Kult des Gedächtnisses: ein Vertrauen die unmittelbare und weiter reichende Wirkung des gesprochenen Wortes.

Das später mit Schriftzeichen festgehaltene Wort wurde normalerweise laut gelesen. Jedes Schriftzeichen trug in sich einen bestimmten Klang - wie eine Seele. Das volle Verständnis der heiligen Schriften erforderte nicht nur den Einsatz der Augen, sondern den des ganzen Körpers: Er musste sich im Rhythmus der Sätze wiegen. In der alten jüdischen wie in der muslimischen Kultur ist der ganze Körper am Lesen der heiligen Texte beteiligt. 

Hans Ulrich Gumbrecht hat den „Abschied vom Körper“ (orig. The Body vs. the Printing Press, 1985) beschrieben. Bis zum Beginn des Buchdrucks ist die 'Literatur' an die Stimme gebunden, die handschriftlichen Manuskripte sind Hilfsmittel für mündliche Kommunikationsverhältnisse, die sie dokumentieren. „Literatur” entsteht, wenn (tote) Schriftzeichen wieder in die körpergebundene Aufführung (performance) überführt werden.

Die Schrift entwickelt sich im Spätmittelalter als mediale Erweiterung und Fortsetzung von personellen Möglichkeiten. Die erzählenden Texte höfischer Epik zeigen noch die eine hoch entwickelte Szenenregie oder Schaubildtechnik, nutzen aber auch schon die Möglichkeit der Sprache, um unsinnliche Sachverhalte sprachlich so vor Augen zu führen, als wären sie sinnlich wahrnehmbar (in den Allegorien etwa: frau minne, frau êre wie in der Kunst Justitia, Ecclesia, Synagoga). Das neue Medium Schrift „beobachtet“ die körpergebundene Kommunikation, und dementsprechend wird auch die beginnende Selbstwahrnehmung der Literatur in den Kategorien der körpergebundenen Rede thematisiert. 

Wo aus der Poesie des Sängers - einem Klang-Ereignis - Literatur wird, Schriftstellerei, da tritt an die Stelle des gebannt lauschenden Hörerkreises die anonyme Leserschaft, das stille, einsame Lesevergnügen - manchmal auch beim Lesen von Versen. 

Exkurs: Auch Buddhas Botschaft konnte nur mündlich weitergegeben werden

Zur Lebenszeit des Buddha (ca. 4. Jh. v.u.Z.) war es in Indien nicht üblich, Vorzutragendes schriftlich niederzulegen; solches taten nur Händler. Religiöse Überlieferungen wurden üblicherweise durch Auswendiglernen tradiert, und dies geschah über Jahrhunderte hinweg mit großer Genauigkeit. 
Erleuchtung, so hatte Buddha gelehrt, führt über die Leere, das Wunschlose und das Zeichenlose. Dis diskursive Vernunft ist eine Täuschung. Das Schauen des Unendlichen kann nicht in Schriften gelehrt werden, sondern nur durch die gesungenen Worte, die auf das Herz des Menschen wirken.
Noch während der Verbrennungsfeierlichkeiten des Buddha wurden die anwesenden fünfhundert „Heiligen" aufgefordert, sich in der nächsten Regenzeit zu treffen, um die mündliche Überlieferung dessen, was der Buddha mit seiner „Löwenstimme" gelehrt hatte, miteinander zu vergleichen. Das erste Konzil dauerte sieben Monate, die Redetexte wurden auswendig gelernt und rezitierend ausgeglichen.
Rund hundert Jahre später, also etwa 390 v.u.Z., kam es dann zu einem zweiten Konzil. Acht Monate lang wurden dort Redetexte aufgesagt und miteinander verglichen. Differenzen in der Tradition trafen aufeinander, die Lehre wurde vereinheitlicht. Wieder hundertdreißig Jahre später, also etwa um 260 v.u.Z., wurde ein drittes Konzil abgehalten.
Wenn im Chor gesprochen werden soll, kann dies nur rhythmisch geschehen. Die Sätze der Überlieferung waren rhythmisch formuliert, damit sie im Chor gesprochen und sich dem Gedächtnis einprägen konnten.
Weshalb aber wurden die drei Konzilien zum gewaltigen Memorieren und nicht zu großen Schreibaktionen genutzt? Palmblätter als Schreibmaterial standen doch längst zur Verfügung. Aber Schriftzeichen galten als künstliche Zeichen, die Wirklichkeit nur vorspiegeln. Die Wörter bekommen ihre Bedeutung nicht als diskursive, fixierbare Zeichen, sondern als Elemente der körpersprachlichen Kommunikation zwischen Menschen.
Erst im ersten  Jahrhundert v.u.Z. wurde, die Lehre des Erhabenen auf Ceylon im Pali-Kanon aufgezeichnet. Hier beginnt jeder Bericht - das ist aufschlussreich - mit der stereotypen Formel: „Evam me sutam": So habe ich gehört. 
Die Botschaft Buddhas ist ein Aufbäumen gegen die diskursive Vernunft. Eine solche Lehre kann nur durch eine Verklärung der persönlichen Autorität tradiert werden.

Veden - Geheimlehren im Kopf

Die ältesten religiösen Texte Indiens sind die Veden. (Das Sanskritwort „veda" bedeutet „Wissen", gemeint ist Geheimwissen.) Der Rigveda, „das aus Versen bestehende Wissen", ist die älteste und reichhaltigste der vier vedischen Sammlungen. (seit 1200 v.u.Z.)
In der altindischen Religion waren die Götter anfangs sterblich. Um dem Tode zu entgehen, „hüllten sie sich in die Metren", die daher „chandas" (metrische Preislieder) heißen. Und sie „flüchteten sich in den Klang" der Silbe „Om". So „wurden sie unsterblich und furchtlos". (Die Veden. Chandogya Upanishad, 4. Khanda 2-4) Der Rhythmus der Metren und das Klingen der Silbe „Om" erzeugen Ewigkeit.

Die vedischen Hymnen sind 700 Jahre von Rischis, hinduistischen Weisen, ausschließlich in mündlicher Tradition weitergegeben und im Gedächtnis der Brahmanen bewahrt worden. Die Überlieferungstreue gilt als außerordentlich. Die Entstehung der ältesten Teile wird auf die Zeit zwischen 1300 bis 1000 v.u.Z. datiert. Wohl erst im dritten vorchristlichen Jahrhundert wurden die heute vorhandenen Texte niedergeschrieben. Die verschriftlichte Sammlung der Veden übertrifft den Umfang der Bibel um das Sechsfache.

Keltische Geheimlehren”

In der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v.u.Z. waren die Kelten oder Gallier das mächtigste Volk in Europa, dessen Herrschaft sich vom Atlantischen Ozean bis in das Herz Kleinasiens und an die Küste des Asovschen Meeres erstreckte. Aber ein geeintes keltisches Reich hat es nie gegeben. Allein durch die Institution der Druiden, einer Priesterkaste, hatten sie das Gefühl soziokultureller Zusammengehörigkeit.
Das sagenumwobene Volk der Kelten hinterließ trotz seiner hohen Kultur keine schriftlichen Zeugnisse, obwohl man die Schrift kannte. Wie konnte das geschehen? Die höchst umfangreichen religiösen Texte der Druiden und die Gesänge der Barden wurden über Generationen mündlich weitergegeben. Von der nur oral tradierten Poesie der Festlandkelten blieb daher nichts erhalten.

Die schriftgewohnten Römer staunten über solche Zustände.  Cäsar beschreibt in „De bello Gallico" (VI,14), wie im 1. Jahrhundert v.u.Z. die Priesterkaste der Druiden ihr Herrschaftswissen als Geheimlehre absicherte. In ihren Schulen, so heißt es bei Cäsar, lernen die Druiden „eine große Menge von Versen auswendig. Daher bleiben manche zwanzig Jahre lang in der Schule. Es ist nämlich streng verboten, ihre Lehre aufzuschreiben, während sie in fast allen übrigen Dingen, im öffentlichen und privaten Verkehr, die griechische Schrift verwenden. Dies scheinen sie mir aus zwei Gründen so zu halten: Sie wollen ihre Lehre nicht in der Masse verbreitet sehen und zudem verhindern, dass die Zöglinge im Vertrauen auf die Schrift ihr Gedächtnis zu wenig üben.“

Die großen Lehrer der Menschheit - redend, nicht schreibend

Mose, Buddha, Kungfutse, Sokrates, Jesus, Muhammad -
sie waren große Lehrer der Menschheit. Und doch hat keiner von ihnen seine Lehre schriftlich fixiert. Sie alle lehrten nur mündlich, meist im direkten Gespräch mit einer kleinen Gruppe von Schülern und Jüngern. Fürchteten sie nicht, dass ihre wahrhaft weltbewegenden Lehren mit dem Verklingen ihrer Stimme, mit dem eigenen Tod und dem Tod ihrer Jünger aus der Welt verschwinden würden? Offenbar nicht. Und in der Tat wurden ihre Worte von den Schülern verkündet und memoriert - teilweise in fast unermesslichem Umfang -, bis schließlich eine bestimmte Interpretation aus machtpolitischen Gründen fixiert werden sollte und daher aufgeschrieben wurde.

In der kurzen Blütezeit der griechischen Schriftkultur als Speicher- und Transport-Medium entstand eine neue Kultur des Denkens, aber erst mit der mentalen Kulturtechnik des leisen Lesens veränderte sich der Sinn der Schrift: Als Text können Schriftzeichen nicht mehr nur gehört, sie können gesehen werden. Erst seit dem 13. Jahrhundert fand jener epochale Umbruch statt, den Ivan Illich als den entscheidenden Schritt „vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens" bezeichnet. Der Mensch begann, Texte im Inneren zu denken. War „Denken” bis dahin vor allem personengebunden war und in Dialogform oder in Erzählform aufgezeichnet worden, so lernten die Schrift-Gebildeten nun, in Form von Texten nachzudenken - Akkumulation von Wissen wurde möglich unabhängig vom Gedächtnis eines Lehrers.