Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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Texte zur Religion

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:
Kulturgeschichte
des Sehens, Mediengeschichte
der Bilder
Augensinn
und Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges
Virtuelle Realität
der Schrift
ISBN 978-3-7375-8922-2

POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1

Cover WI

Das Selbstverständnis, der Mensch sei vor allem
unteilbar, „Individuum“, ist kulturgeschichtlich jung. Ist es mehr als eine „Ich-Illusion“? Das „Wir“ des Ich wird  von digitalen Kommunikations-Medien zunehmend neu geprägt. Was bedeutet das? Was macht die neue digitale Medientechnik mit dem Menschen?
Neue Medien, neue Techniken des Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754975-94-7

Das christliche Mittelalter – 
Schriftkultur als Herrschaftsinstrument

 2019

Auch am Anfang der griechischen Antike waren die Gottesvorstellungen von Geheimnissen umhüllt. Der „mystes“ ist der Eingeweihte. Eleusis war neben Delphi der Ort größter religiöser Ausstrahlungen. Das Heilige befindet sich in einer Erdhöhle, die den Eingang zur Unterwelt symbolisiert. Spezifisch für die griechischen Kulte sind die Orakel, geschützt durch Reinigungsriten und Zugangs-Tabus. Dämpfe aus der Erdspalte setzten die Empfänger der göttlichen Botschaft in Trance. In Delphi ist die Pythia, eine Frau, die höchste Eingeweihte, „prophetes“ legen ihre Sprüche aus. 

Das waren körperlich gelebte und gefühlte Überzeugungen. Unterwerfung unter die Allmacht der Natur und die Schöpferkraft der fruchtbaren Erde war die Geste der alten Mythen.
Die moderne Vorstellung gedachter „Wahrheit“ beginnt da, wo die Erdhöhle verlassen wird. Erst dann wird nach Platons ‚Höhlengleichnis' die Schau der ‚absoluten Wahrheit' möglich – und bedeutet die Überwindung des „mythos“ durch den „logos“ der Schriftkultur. Für die klassischen griechischen Philosophen verletzte Wissbegierde der Menschen die Sphäre der Götter nicht mehr: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", formulierte Aristoteles zu Beginn der Metaphysik. Darin lag eine ungeheure Herausforderung.

In den neuen Mythen des „logos“ geht es um Herrschaft über die Natur durch Wissen – versinnbildlicht aber in dem himmlisch-männlichen Schöpfergott. Zu den neuen Kulten gehörten der Kult des Himmels und die Hierarchie der männlichen Priester. Das Wissen lag letztlich bei dem Herrscher, also „Gott“. Wer Zugang zu dem Heiligen hatte, unterlag einem Schweigegebot – das Geheimnis musste gewahrt bleiben. In Konkurrenz zu alten Kult-Statuen traten die heiligen Schriften. Zugang zum Heiligen hatte, wer lesen konnte.

Das christliche Mittelalter

In der Übermittlung der griechischen Tradition an das entstehende Christentum kam es zu einer großen Debatte der Frage nach dem Wissen. Der jüdisch-hellenistische Philosopph Philo von Alexandria (10 vor bis 40 n.u.Z.) kritisierte die Wissbegier als Neugierde, er spricht von „Gottes Hoheitsrecht über das Geheimnis seiner Schöpfung". Die Begründung ist ein willkürliches Konstrukt: Gott habe den Menschen „als letztes der Geschöpfe" geschaffen, weil „der Mensch nicht Zeuge des Schöpfungswerks und seiner Geheimnisse werden durfte."

Für die Zerstörung der antiken Kultur und die ersten tausend Jahre Geschichte des christlichen Abendlandes wird wesentlich, dass Augustinus (354-430) die Neugierde in den Lasterkatalog aufnimmt. Auf die Frage: „Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?" zitiert Augustinus den bösen Spaß: „Er hat Höllen hergerichtet für Leute, die so hohe Geheimnisse ergrübeln wollen.“ Augustinus will das Geheimnis nicht ergrübeln: „Was ich nicht weiß, das weiß ich eben nicht.“ Augustinus verdammt die Augenlust des Theaters wie die Wissenskultur der Rhetorik. Die „vielen und ungeheuer großen Bücher“ erscheinen ihm als „scheinschöne Attrappen“ (phantasmata splendida), die Wissbegierde der Philosophie als gottloser Hochmut. 

„Die Confessiones sind das Gründungsdokument der christlich-abendländischen Lesekultur.“ (Martin Andree)  Augustinus formuliert: „Mag der Mensch außerhalb der Heiligen Schrift gelernt haben, was er will: dieses sein Wissen wird dort verurteilt, sobald es schädlich ist; ist es aber nützlich, dann findet es sich auch in der Heiligen Schrift. Und während er dort alles wieder findet, was er anderswo zu seinem Nutzen gelernt hat, wird er in noch viel reicherem Maße dort auch noch das finden, was er nirgendwo anders, sondern nur in der wunderbaren Tiefe und Demut jener Schriften lernen kann.“

Tief war der Bruch zwischen Spätantike und christlichem Mittelalter. „An die Stelle Lesens als literarisches otium (Muße), das sich in der Welt der Antike zumeist zwischen Gärten und Säulengängen abspielte, aber auch auf Plätzen und Straßen der Stadt die Ausstellung und Lektüre von Schriften vorsah, traten im abendländischen Frühmittelalter Lesepraktiken, die sich auf den geschlossenen Raum von Kirchen, Zellen, Refektorien, Kreuzgängen, religiösen Schulen, manchmal von Höfen konzentrierten“ (Chartier/Cavallo). Nur innerhalb der monastischen Räume erklang das Loblied auf das Buch. 
Für das Seelenheil musste man vor allem noch ein Buch lesen, und das immer wieder, um den (allegorischen) verborgenen geistigen Sinn zu erfassen. Das Buch wird zum kostbaren sakralen Schatz und zum Zeichen des Heiligen und seines Mysteriums. Die „Neugier“ sollte sich nicht auf immer mehr, sondern immer wieder das Eine richten. Der eine Text ist ,unausschöpflich', und er enthält alle Wahrheiten. Das christliche Mittelalter wurde zur Zeit der wenigen Bücher. Die unendliche Tiefe der Heiligen Schrift erfordert die unendliche Wiederholung der Lektüre, der gläubige soll es endlos meditierend geradezu wiederkäuen („ruminatio“). Dieser Stil prägt heute noch gewöhnliche Predigten: Sie argumentieren nicht, sondern „meditieren“ ein Thema. 

Die Beendigung aller Kommunikation, das Schweigen, ist der Beginn der Kommunikation mit Gott. Die „memoria“ ist das innere Organ, welches mit Gott kommuniziert. Meditation ist die Form dieser innerlichen Kommunikation, zu der auch kontemplativen Lektüre gehört.

Der Schritt vom Lesen als lautem Vorlesen zum stillen Lesen ist größer als es das gemeinsame Wort „Lesen“ suggeriert. Lesen in der Antike und auch in der monastischen Kloster-Kultur bedeutete vor allem, sich selbst und anderen aus Papyrusrollen Texte laut vorzulesen. Das laute Lesen derselben Texte diente vor allem der Erinnerung an etwas, das man im Grunde wusste.

Stilles Lesen eröffnet dagegen die Chance, sich ungestört in einen Text zu versenken. In den Bekenntnissen erzählt Augustinus fasziniert, wie er in einem Mailänder Garten den Bischof Ambrosius in stiller Lektüre versunken sah. Stilles Lesen bezog sich da auf heilige Schriften oder Schriften von Heiligen und bedeutete offenbar, sich anrühren und verwandeln zu lassen. Stilles Lesen bedeutete, sich in Nachdenken, Hinterfragen und Assoziieren einzuüben – von neuen Sätzen, die nicht Gedächtnis waren. Die Neugier auf den Geist Gottes erscheint hier als Vorbotin der profanen Neugier. In dieser Neugier steckte eine Gefahr für den Herrschaftsanspruch der Kirche, auf dem Schriftgeheimnis aufbaute. Die Geheimnisse der schrift zu entdecken war das Privileg der kirchlichen Elite. Die Verdammung der curiositas“ war bis in die Renaissance das Argument, mit dem Gelehrte, die sich eigene Gedanken machten, der Inquisition ausgeliefert wurden.

Es ist kein Zufall, dass die Beschäftigung mit Aristoteles und dem Gedanken, dass das Streben nach Wissen legitim ist, am Angang der Entwicklung einer neuen Zeit steht.

 

    Lit.: 
    Martin Andree, Archäologie der Medienwirkung: Faszinationstypen von der Antike bis heute (2005) 
    Roger Chartier / Guglielmo Cavallo (Hg), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm (dt.1999) 
      darin uu Details der monastischen Lesekultur insbesondere der Text:
      Malcolm Parkes, Klösterliche Lektürepraktiken im Hochmittelalter