Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Texte zur Religion

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle Geschichte machen

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Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:
Augensinn
und Bild-Magie


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2 VR Titel

Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

Virtuelle Realität
der Schrift

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POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt


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Die göttliche Vernunft

Mit ihren Göttern konnten die archaischen Menschen trotz aller Schrecken der Natur
 im Einklang leben. Sie unterwarfen sich.
Die Entthronung des Göttlichen bescherte den Menschen lauter Probleme und Selbstzweifel

2019

In archaischen Kulturen war das biologische Leben selbst, insbesondere die Erotik und die Nahrungsaufnahme, für die Menschen mit Geist erfüllt. Mircea Eliade hat für das „Aufscheinen des Heiligen im Profanen“ 1949 den Begriff der „Hierophanie“ geprägt. Es ist auffällig, wie stark das gemeinsame Essen das Gemeinschaftserleben von Menschen prägt. Durch die Vorstellungswelt des Opfers wurde das Gemeinschaftsmahl in archaischen Kulturen zu einem heiligen Mahl.

In der Kulturgeschichte verbannte die menschliche Vernunft das Heilige immer mehr ins rein Geistige. Im „aufgeklärten“ Christentum bleibt vom Heiligen praktisch nur das gelegentlich gemurmelte „Gib uns unser täglich Brot heute“ und vom Sakrament des gemeinsamen Essens bleibt die symbolische Oblate. Auch Erotik wird aus der Sphäre des Heiligen hinausgedrängt, nur noch der formale Rahmen der Treue soll heilig sein und als gänzlich unerotische Pflicht interpretiert.

Woher kam dieses Bedürfnis nach einer Überhöhung des organischen Lebens, das Formen annahm, die im Rückblick an die alten Religionen erinnern?

Alle schriftlichen Zeugnisse archaischer Kulturen, von China bis zu den mittelamerikanischen Kulturen, malten das ungeheuerliche Bedrohungspotential der Natur aus und führten rätselhafte Schicksalskräfte an, mit denen das Ausgeliefertsein an die Naturkräfte benannt und gebannt und damit „erklärt“ werden sollte. Der Sinn dieser Erzählungen war natürlich nicht die Information über ein Ausgeliefertsein an übermächtige Naturkräfte, das die Menschen nicht schon kannten, sondern mit der Benennung war konkret eine Unterwerfung unter die Ordnungen derer verbunden, die solche Botschaften überbrachten. Die Erzählungen hatten meist auch als Pointe einen kleinen Hoffnungsschimmer mit der praktischen Botschaft, wie durch dieses oder jenes Ritual und Opfer die feindlichen Mächte wohlgesonnen gestimmt werden könnten. Indem das alltäglich erfahrene Ausgeliefertsein ausgesprochen und nach Ursache und Wirkung gegliedert wurde, verwandelte sich das natürlich Willkürliche und Chaotische in etwas geistig Geordnetes. Nur das so geordnete Chaos erlaubte die Vorstellung von Hebeln, die die Chance eröffneten, die Bedrohung abzuwenden. Erzählungen, die solche Hebel anbieten, werden bis heute gern geglaubt und angenommen.

So sehr diese Hebel auch „Placebo“-Charakter haben – mit ihnen stellt sich der Mensch den Naturgewalten entgegen, er begehrt auf. In den alten jüdischen Erzählungen wird dies teilweise sehr deutlich, wo besondere Männer – „Propheten“ – ihrem Gott widersprechen oder von ihm ultimativ Wunder einfordern. Solche Erzählungen setzen voraus, dass der Mensch seine Existenz nicht mehr nur als eingebunden in die Naturgewalten begreift, symbolisiert im Donner oder der Schlange.

Auch der archaische Mensch war „mehr“ als sein eigenes organisches Leben - und zwar nur als Teil der Gemeinschaft, der Sippe, des Stammes. Die Gemeinschaft war unsterblich, wie jedermann erfahren konnte bei Geburt. Als der Mensch begann, sich auch als Einzelwesen zu begreifen, musste er darüber reflektieren, wie er als organisches Einzelwesen mehr bleiben kann als eben dieses fragmentarische organische Leben.

Der Übergang zu einer personalisierten Gottesvorstellung bedeutet ja, dass Gott spricht. „Gott“ ist kein Wirkzusammenhang mehr, kein Schicksal, keine dunkle Macht, sondern eine nach dem Bilde des Menschen vorgestellte Figur, eine Person. Gott interpretiert den Menschen und das bedeutet: Der Mensch interpretiert sich selbst durch das Wort Gottes. Der Mensch nimmt mit Hilfe dieses Gottes eine gedankliche „Vogelperspektive zur eigenen Existenz“ ein, wie Michael Tomasello formuliert. Die Personalisierung der Gottes-Idee markiert einen kognitiven Sprung in der Menschheitsgeschichte: Menschen beginnen, mit einem gedanklichen Abstand über sich selbst nachzudenken.

Insofern ist das Bildnis-Verbot des Monotheismus konsequent – die alten Fetische erlaubten (dem Volk) das alte körperlich-sinnliche Verhältnis zu dem Göttlichen. Mit dem Bildnisverbot wollen die Priester die Menschen zu einem im Wesentlichen sprachlichen Verhältnis zwingen: Gott wird zu einer mentalen Operation, und an dem fiktiven Gespräch mit Gott über die Existenz des Menschen schult sich abstraktes Denken, das eine abstrakte Sprache voraussetzt. Weil die Menschen damit überfordert sind und ihre kleinen Götzen lieben, begründet das Bildnisverbot gleichzeitig die Machtposition der Priester. 

In dem Stadium, aus dem Religionen uns Schriftzeugnisse hinterlassen haben, ist dieser Prozess weitgehend abgeschlossen – da denkt der Mensch die Götter nach seinem aufregend neuen individuellen Selbstbild und formuliert das in der Version, dass die Götter den Menschen nach ihrem Bilde geschaffen haben müssen.  Die Personifizierung des ehemals als reine Naturgewalt empfundenen „Numinosen“ spiegelt also die Individualisierung des Selbstbildnisses dieser Menschen, die ihre Unvollkommenheit als Einzelwesen reflektieren.

Das biologische Wesen Mensch erhebt sich mit seinem Geist über die Natur, denkt sich als Einzelwesen, als Individuum und nur dieser Geist kann das Sterben problematisieren. Der Wunsch, unsterblich zu sein, ist nur die sprachliche Kehrseite der Weigerung, sich in die Sterblichkeit zu fügen. Unsterblichkeit wird zum projizierten Attribut der Götter, als deren Bild sich die Menschen verstanden. Solche Götter sind das Muster für Einzelwesen, die ihre Existenz ohne Sippe denken – mit der Konsequenz all der philosophischen Probleme, an denen ein Friedrich Nietzsche verzweifelten sollte.
Der aufgeklärte Mensch „erlebt den Zufall als Stachel im Fleisch seiner Selbstbestimmungsambitionen, weil die schwebende Unberechenbarkeit des Unverfügbaren nicht nur sein Lebensglück, sondern auch seine Freiheit und Wurde bedroht.“ 
(Peitzmann)

Die archaischen runden Zeitvorstellungen haben etwas tröstliches, in sich ruhendes. Erst wenn Zeit linear gedacht wird, stellen sich die Fragen von Anfang und Ende und Sinn. Erst wenn die Verfügung über das eigene Leben individuell gedacht wird, werden alle Einbindungen in die Gemeinschaft zur Last und selbst frühkindliche Traumata müssen abgelöst werden. Erst wenn der Mensch sich nicht mehr als das Kind seiner Mutter fühlt, kann er sich ganz frei begreifen. Aber wo keine Verwurzelung in der Verwandtschaft mehr ist, ist Fremdheit. Nur wo die Selbstbestimmungsambitionen sich aus der Verwurzelung befreien wollen, kann der Verwandte zum „Schicksal“ werden. Und wenn die Götter erst einmal durch das gedankliche Spiel von Zufall und Notwendigkeit entthront sind, hilft kein gedachter „Schicksalsgott“ mehr dabei, sich mit dem, was ist, zu versöhnen. Es gibt kein selbstverständliches gegenseitiges füreinander Einstehen in der Schicksals-Gemeinschaft mehr, sondern das Gefühl, fremdbestimmt zu werden, „Solidarität“ nur von Fall zu Fall zu erfahren oder eben einfach nichts, allein in der Fremde.  In seinem „Mythos von Sisyphos“ formulierte Albert Camus knapp: „Diese Welt (ist) nicht vernünftig – das ist alles, was man von ihr sagen kann.“  Der Zusammenstoß dieser Welt mit dem „heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird“, sei eben das Absurde, aber das ist auch nur ein Wort, das der Vernunft erklären soll, zu kapitulieren: Sie kann über das Leben nicht verfügen.

Diese Freiheit und Ungebundenheit der vernunftgeleiteten Existenz kann den Menschen emotional nicht befriedigen, er möchte „nach Hause kommen“ oder getröstet werden „wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja). Frühkindliche Erfahrungen von Geborgenheit bleiben die Folie, auf der der sich frei denkende Mensch unglücklich fühlt.

Arthur Schopenhauer hat daraus die Konsequenz gezogen, die Vernunft als Weg zur Wahrheit ganz abzulehnen. Im Verhältnis zu dem individuellen „blinden Willen zum Leben“ und den unerschöpflichen Wünschen, die der menschliche Geist als Phantasie vom irdischen Glück produziert, sei das wirkliche Leben eben nur „namenloser Jammer“, Mangel, Sorge, Schmerz, Not, Irrtum und Tod. Schopenhauer spricht von dem „unabänderlichen Charakter“ des Menschen – nicht einmal über sich selbst kann der Mensch verfügen im Sinne seiner geistigen Freiheit.

Es bleibt für Schopenhauer nur der Ausweg, sich gedanklich aus den leidvollen Verstrickungen der Welt zu lösen, den „Schein einer empirischen Freiheit“ zu durchschauen. Von Schopenhauer stammt die Formulierung von der „Euthanasie des Willens“, mit der die „Sucht nach individuellem Daseyn“ beendet werden müsse, um in Askese „die Welt abschütteln“ und „Erlösung“ finden zu können

Aber warum bleiben die Mittel der Vernunft so unbefriedigend, wenn es darum geht, den Willen zum individuellen Leben und die Phantasien vom irdischen Glück im Zaune zu halten? Warum reicht die Vorstellung nicht als Trost, dass der Fortschritt der Erkenntnisse irgendwann die Antworten liefern wird, nach denen wir derzeit noch verzweifelt suchen? Warum tröstet es nicht, wenn man mit Nietzsche feststellt, dass das Leben eben ein Klumpen Lehm ist, eine Prozess voller Biologie, Chemie und Physik, und alles Geistige eine Einbildung auf der stofflichen Basis dieses Klumpens?

In den Frühzeiten der Menschheit drückte sich das schicksalhafte Ausgeliefertsein der Sippen an die Kräfte der Natur im kultischen Tanz aus, sie feierten die Nahrungsaufnahme und die Erotik als ihr höchstes Glück, eben als das „Heilige“. Das Heilige thematisierte diesen Zwiespalt zwischen dem Leben und den überschießenden Ansprüchen der geistigen Imagination der Weltordnung, dieses Heilige konnte man offenbar in der Feier mit besonderen Ritualen irgendwie feiern, sich ihm unterwerfen und es gleichzeitig zu bannen suchen. Schicksalsmächte wurden personalisiert gedacht, in einer Schlange, einer fruchtbaren Frau oder einem alten Mann, um das Schicksal einzufangen in Denkmuster, die aus dem Alltag vertraut waren  - da konnte man Opfer bringen, also Handel treiben nach dem vertrauten Muster des Gebens und Nehmens.

Die Faszination der Vernunft

Was ist das für eine Vernunft, mit denen die Vorsokratiker begannen, die Welt neu gedanklich zu ordnen und auf deren Tradition unsere Vernunft zurückgeht? Die Willkür des Schicksals war mit der Willkür der göttlichen Figuren angemessen „erklärt“, dagegen musste die verwegene Idee, das Schicksal aus der Notwendigkeit von Natur-Ordnungen und damit als „sinnvoll“ zu erklären, zu lauter offenen Fragen führen. Warum suchte Thales von Milet (ca. 624-546), der als „Vater der Philosophie“ gilt, den Grund-Stoff, aus dem alles Seiende hervorgeht, im Wasser? Offenbar war es nicht die Leistungsfähigkeit seiner Grund-These, die faszinierend war, sondern das Prinzip der logischen Einfachheit.

Die Versuche, den einen (göttlichen) Urstoff zu identifizieren, waren offenbar von Anfang an unbefriedigend, der Philosoph Heraklit von Ephesos (um 500 v.u.Z.) machte den Vorschlag, die göttlichen Weltvernunft als „das Gemeinsame in der Verschiedenheit, das Maß des Sichentzündens und Erlöschens im ewigen Werden“ zu verstehen, das sei das „eine göttliche Gesetz, das alles regiert“. Empedokles hat (um 450) die Suche nach dem einen Prinzip aufgegeben, er versuchte die Logos-Konstruktion mit den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Wieder eine Generation später abstrahierte Demokrit von den gegenständlichen Elementen und postulierte „Atome“ als ursprüngliche Substanz alles Seienden. Nichts konnte Demokrit wirklich (im modernen Sinne) erklären mit seiner Atom-Theorie, sie war ein schlichtes philosophisches Postulat, mit dem eine ästhetische Anforderung erfüllt wurde: Es durfte nur einen Ursprung geben. Sogar die „Seele“ muss daher von Demokrit als kugelförmiges Gebilde aus Seelenatomen gedacht werden. Der Urstoff wurde ausgetauscht, die abstrakte Denkfigur blieb.

Für die Pythagoreer war klar, dass die Welt kein undurchschaubares Chaos sein kann, sondern ein – wie auch immer - geordneter Kosmos sein musste. Und da die logische Welt der Zahlen diesem Ideal der schlichten Ordnung entsprach, wurde sie zum Muster der Welterkenntnis: Denn „groß, allvollendend, allwirkend und himmlischen wie menschlichen Lebens Urgrund und Führerin, teilhabend an allem ist die Kraft der Zahl“.

Wer die Welt seiner Vernunft verfügbar machen will, muss jede Empfindung von Chaos und Willkür gedanklich ausschalten. Es leuchtet unmittelbar ein, dass diese Philosophie eine Sache gebildeter Einzelpersonen bleiben musste, die sich in ihren Gedankenexperimenten gefielen und die Chance hatten, so ihren sozialen Rang  zu steigern. Für das Volk waren solche Gedankenspiele nicht attraktiv.
Selbst die Städter im antiken Griechenland liebten daher ihre alten personalisierenden mystischen Göttergeschichten, und im großen römischen Imperium waren alle möglichen Kulte populär, die im Kern archaische Gefühle aufgriffen und sich an den Begriffen der griechischen Vernunft wie in einem Steinbruch für ihre Gedankengebäude bedienten.
Die Attraktivität der phantastischen Gedankengebäude der gnostischen und anderer religiöser Bewegungen zeigt so vor allem, dass die Menschen für ihre Lage nach praktischen Handlungsmöglichkeiten suchten. Der alte Zauber war den Angeboten des griechischen Vernunft-Religionsersatzes offenbar in jeder Weise überlegen.

    Lit.: Stefan Peitzmann, ... damit es nicht nur Schicksal ist.  Hermeneutiken des Unverfügbaren im Spiegel theologischen Denkens (2012)

 

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