Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Texte zur Religion

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Warum nicht der Islam? Warum Europa?

2015

Warum gibt es weder eine islamische Reformation noch eine islamische Aufklärung?
Warum gab es im islamischen Kulturbereich keine Kräfte, die an die „Renaissance“ des alten griechischen Wissens anschließend den alten, fundamentalistischen Islam überwinden konnten?
Warum konnte genau das im christlichen Europa passieren?
Diese Frage stellt sich insbesondere in diesem Vergleich.

Der in München lebende türkisch-stämmige Schriftsteller Zafer Senocak diagnostiziert einen „unaufhaltsamen Niedergang des Islam“: Die islamisch geprägten Länder finden keinen eigenen Anschluss an die wissenschaftlich-technische Revolution, Geistesleben und Alltagskultur sind erstarrt. „Selbst ein Land wie die Türkei findet keinen Weg in die Moderne“, schreibt Senocak (2015). Was sich dagegen ausbreite, sei ein „Discount-Islam“, der die zivilisierte Welt erschreckt.  Der Ägypter Hamed Abdel-Samad, ein ehemaliger Muslim-Bruder, fasste seine Enttäuschung in seinem 2010 erschienen Buch über den „Untergang der islamischen Welt“ so zusammen: „Was von der islamischen Geschichte des Denkens übrig geblieben ist, ist meines Erachtens der intellektuelle Schaum einer unversöhnlichen Orthodoxie, und der kann nicht länger in der modernen Welt bestehen. Ein letztes Mal wird der Schaum mit dem Mut der Verzweiflung mit seiner Wut die Oberfläche überziehen, bevor er verschwindet.“ Die arabisch-islamische Welt hat nicht nur die Aufklärung verpasst, sondern auch die industrielle Revolution. Selbst die Waffen und die Informationstechnologie, mit denen islamische Fundamentalsten heute Krieg führen, importieren von den verhassten Feinden - sie sind nicht in der Lage, vergleichbares selbst zu produzieren. Islamische Länder gehören übrigens auch zu den großen Abnehmern westlicher Pornografie.

Vor tausend Jahren war das anders. Während in Europa eine archaische christliche Religion mit ihren Vorstellungen von Erbsünde und Höllenangst die Alltagskultur prägte, hatten islamisch geprägte Länder das Erbe der Antike bewahrt: Damaskus, Bagdad, dann Cordoba waren die Kulturhauptstädte der Welt rund um das Mittelmeer. Al-Andalus war das Land, wo die Essenz der griechischen Tradition und des daran anknüpfenden arabischen Denkens an das christliche Europa weitergegeben wurde. Drei Jahrhunderte nach Bagdad war das maurische Toledo „das international wichtigste Zentrum der Wissensbewahrung und Wissensweitergabe durch Übersetzungen (geworden). Nirgendwo sonst war der Kontakt zwischen den Kulturen intensiver als in Spanien, nirgendwo sonst (das normannische Sizilien unter Friedrich II. vielleicht ausgenommen) herrschte eine solche Weltoffenheit, nirgendwo anders wäre eine solche Zusammenarbeit zwischen Muslimen, Christen und Juden vorstellbar gewesen. Toledo, an der Nahtstelle zwischen dem christlichen und dem muslimischen Spanien gelegen und Sitz einer starken jüdischen Gemeinde, war eine kosmopolitische Stadt, wo nicht nur Angehörige der drei spanischen Kasten zusammenlebten, sondern auch wissenshungrige Scholaren aus ganz Europa zusammenkamen.“ (Georg Bossong) 
Niemand hat im 10. Jahrhundert ahnen können, das ausgerechnet das - aus der Perspektive der damaligen arabischen Welt barbarische - christliche Europa zur Wiege der modernen Kultur würde.

Warum Europa?

Über diese Frage zerbrechen sich Mediävisten wie Michael Mitterauer oder Altertumswissenschaftler wie Christian Meier (Lihre Köpfe. Offenbar gibt es keine monokausale Erklärung. Wenn von „Europa“ die Rede ist, dann sind in den Jahrhunderten wechselnde Zentren der Innovation gemeint, Spanien etwa im 16. Jahrhundert, dann die Niederlande, später Frankreich und England. Nicht erst im 20. Jahrhundert übernahm in vielerlei Hinsicht „Amerika“ – die Vereinigten Staaten der Auswanderer (USA) - die Leitbild prägende Rolle.  Massenwohlstand, große individuelle Freiräume, Pressefreiheit und die westliche Konzeption der Menschenrechte entstanden dort.
Die einzelnen Merkmale, die zum Erfolg dieses „Europa“ beigetragen haben, finden sich in der Geschichte auch andernorts – das Besondere kann nur in der glücklichen Kombination liegen.
Der Reichtum der Handelsstädte stand am Anfang.  Ein wichtiger Faktor des europäischen Erfolges war aber, dass es nicht bei der Abschöpfung von Handelsgewinnen und den Abgaben aus der Landwirtschaft blieb. Die Dynamik der Entwicklung kommt aus dem produktiven Sektor der Wirtschaft. Es gab meist genug Wasser, Bodenschätze, Eisen, Wald und damit Holzkohle. Größere technische Flussregulierungen waren nicht erforderlich, so konnten Siedler in kleineren Gemeinschaften ihr Überleben sichern. Das ist viel Raum für örtliche Initiativen in den mittelalterlichen Städten, in denen sich Bürgerstolz und Autonomie – gegenüber fürstlichen und kirchlichen Autoritäten - entfalteten konnte. Auch gegenüber Lehnsherren – Stadtluft machte frei. Für die Gelehrten der Zeit war die lateinische Sprache eine europaweit gültige gemeinsame Kommunikationsbasis.
Ein Flickenteppich kleinteiliger Herrschaften bietet einen günstiger Nährboden für innovative Entwicklungen. Er bietet vielfachen Anlass für Rivalitäten und Konkurrenz. Zensur ist schwerlich durchzusetzen, wenn man nur ins Nachbarfürstentum umziehen muss, um sich dem hoheitlichen Zugriff zu entziehen. Die Hamburger Pressevielfalt verdankte sich noch im 18. Jahrhundert auch der kaum zu kontrollierenden Grenze zum nahen dänisch beherrschten Altona.
Vielleicht waren die Kräfte der Beharrung weniger stark als in anderen Regionen, weil die politische Macht zerteilt war und zudem das Verhältnis von religiöser und politischer Macht meist von großer Rivalität gekennzeichnet war. Das unterscheidet jedenfalls die europäischen Regionen von den islamisch dominierten Hochkulturen des Mittelalters, die am südlichen Rand des Mittelmeeres von Toledo bis Bagdad reichten.
In einer anderen  Phase der europäischen Geschichte war es aber ausgerechnet die Idee vom starken Zentralstaat, der tributäre soziale Strukturen zerschlug, um dem Fortschritt seinen Weg zu bahnen – auch der europäische „Absolutismus“ hat in seiner Zeit Europa geformt und letztlich auch zur Befreiung des Individuums aus seinen spätfeudalen und familiären Bindungen beigetragen.
Und warum nicht China, fragt Christian Meier. In Europa wurde das Wasserrad erfunden, die Brille, die mechanischen Uhr und der Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Aber China kannte lange vorher Verfahren zur Eisenverhüttung, das Schießpulver, den magnetischen Kompass, das Papier.  Die Chinesen hatten um 1420 eine Flotte, die 1.350 Kriegsschiffe zählte. Kolumbus verfügte dagegen nur über drei Caravellen. Offenbar war das politische und soziale Klima in China nicht so, dass aus einzelnen Erfindungen eine Kette von Entwicklungen wurde. Einzelne Neuerungen wurden sogar in ihrer Anwendung vom Kaiser verboten, die Flotte verrottete. Der Buchdruck war eine herrschaftliche Technik, keine wirtschaftliche.
Man darf von dem Altertumswissenschaftler Meier nicht erwarten, dass er die Vorgeschichte des modernen Europa im antiken Athen für unbedeutend erklärt. Die Tradition mag zwar abgerissen sein im christlichen Mittelaltetr, das nicht weniger theokratisch war als islamische Machtbereiche, aber die Erneuerung des Antiken Wissens – Renaissance – war überall in Europa eine große Sensation. Sie erregte Aufsehen und das zeigt, wie großartig den Zeitgenossen das neue, an das Alte anknüpfende Denken erschien. Nicht nur in Toledo, sondern auch in Paris ereiferten sich die Gelehrten über Aristoteles und stritten bis aufs Messer. Diese Dynamik gab es im islamischen Kulturbereich nicht.
Den alten Griechen verdanken wir ein Denken, das die Götter, die politische Ordnung und jedes vorgebliche und tradierte wissen infrage stellt und damit den Bürger „frei“ macht.
Conditio sine qua non“ für den europäischen Aufbruch war Athen, sagt Meier und räumt gleichzeitig ein, dass die Kenntnis der Alten in den islamisch beherrschten Zentren im 9.-13. Jahrhundert mehr noch vorhanden war als in Europa - ohne diesen „Europa“-Effekt: Warum brach die kulturelle Blüte in den islamisch beherrschten Regionen ab in der Phase, in der Europas Aufstieg deutlich wurde? Selbst programmatische Titel wie „Der Untergang des Morgenlandes" (Bernard Lewis) geben keine schlüssige Erklärung. Ähnliches gilt für Bassam Tibis „Krise des modernen Islams“, den tunesisch-französischen Autor Abdelwahab Meddeb („Die Krankheit des Islam“) oder die Paderborner Islamwissenschaftlerin Hamideh Mohagheghi. Über die Faszination des Islam heute geben die Vorträge konservativ gebildeter moderner Konvertiten wie „Murad“ Wilfried Hofmann („Den Islam verstehen“) genauso wenig Auskunft wie die Tagebücher von freiwilligen Kämpfern, die aus Europa kommend  in den archaischen Krieg für den „Islamischen Staat“ ziehen.

Die christliche Kultur hat keinen Anlass, auf den Islam herabzusehen - vor tausend Jahren riefen die christlichen Machthaber Europas die jungen Männer zu den Kreuzzügen auf, die nicht weniger brutal waren. Da ging es nicht nur um die Eroberung Jerusalems, sondern auch um die Zerstörung der maurischen (islamischen) Kultur Spaniens – letztlich mit den Mitteln der christlichen Intoleranz und Inquisition.
Die Geschichte von der Blütezeit islamischer Kultur auf spanischem Boden in einer Zeit, für die in Bezug auf das Verbreitungsgebiet des Christentums das „finstere Mittelalter“ sprichwörtlich wurde, ist im Gedächtnis der christlichen Sieger erfolgreich verdrängt worden – und damit die Idee davon, welche alternativen Entwicklungs- Möglichkeiten es hätte geben können.

Der amerikanische Historiker David Levering Lewis geht so weit, die Abwehr der Muslime durch die Franken im 8. Jahrhundert verantwortlich zu machen für die „die Entstehung eines wirtschaftlich unterentwickelten, balkanisierten und brudermörderischen Europas" im Mittelalter. Während in den Ländern nördlich der iberischen Halbinsel religiöse Intoleranz und Analphabetismus herrschten, blühten im arabisch-islamischen al-Andalus Kultur und Wissenschaften auf Grundlage einer erstaunlich weit reichenden Zusammenarbeit von Muslimen, Christen und Juden.
     (siehe zu den Bedingungen dieser Blütezeit der maurischen Kultur in Spanien  
         meine Zusammenfassung zu  Al-Andalus M-G-Link

An den Religionen selbst scheint es also nicht zu liegen, sie haben so oder so ihre Dienste getan, je nach dem historischen Kontext, und als Rechtfertigungslehre auch für Barbarei „funktioniert“. Insbesondere diese „andere“ Geschichte des Islams in der Phase, die aus christlich-europäischer Sicht als „Mittelalter“ bezeichnet wird, wirft verschiedene Fragen auf.

Was unterscheidet die Jahrhunderte der arabischen Hochkultur, die mit den Eroberungen der von  Mohameds Islam zusammengeschweißten arabischen Stämmen begann und mit dem Fall Sevillas 1248 und Bagdads 1258 ihren Höhepunkt überschritten hatte, von der fränkisch-germanisch-angelsächsischen Aufschwungphase seit dem 14. Jahrhundert, die zu dem heutigen Europa führte?
Welche Bedeutung hat die religiöse Motivation für die politischen Strukturen in jener Zeit, und wie kommt sie zustande?

Warum nicht der Islam? Was sind die Hintergründe für die Offenheit der frühen arabischen Herrschaft für die alte griechische Kultur, die sich auch in Damaskus, Bagdad oder Palermo zeigte? 

Worin bestand die Faszination der syrisch-arabischen Kultur
für die Bewohner des spanischen Westgoten-Reiches?

Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Westgoten 200 Jahre zuvor bei ihrer Eroberung Spaniens den dortigen christlichen Glauben in seiner arianischen Form übernommen hatten – mit der alten, dort vorhandenen griechisch-römischen Kulturtradition.
Wie kam es zum Niedergang geistiger Innovation in der islamischen Welt durch fanatische orthodoxe Anhänger des Islam, während es im fränkischen und germanischen Europa erste Zeichen für eine neue Zeit gab?
Wie konnte es passieren, dass sich die Wissenschaft an den Höfen von al-Andalus mehr und mehr um Mystisches, Skurriles und Bedenkliches kümmerte und nicht um Themen, die geeignet gewesen wären, die fundamentalistische Rückbesinnung des Islam zu verhindern und die Fruchtbarkeit des Landes und den Reichtum seiner Städte zu erhöhen?

Auffallend ist vor allem in diesem Vergleich, wie wenig sich die arabische Kultur in den Jahrhunderten ihrer Blüte fortentwickelt hat. Die landwirtschaftliche Produktion der arabischen Blütezeit machte kaum einen Wandel durch und der Reichtum der Städte beruhte auf dem Handel, nicht auf städtischer Produktion. Seit dem 15. Jahrhundert war aber der Handel von den italienischen Städten beherrscht, die arabische Südseite des Mittelmeeres war nur als Lieferant von Rohstoffen interessant. Neue politische Regimes konnten sich im Schatten des Osmanischen Reiches nicht bilden. Der Islam überlebte den Bedeutungsverlust der arabisch-islamischen Staaten nur als eine Ausdrucksform der Rückständigkeit der gesamten arabischen Region.

Es waren die Fortschritte der handwerklichen und maschinellen Produktion und schließlich der darauf aufbauenden militärischen Technik, die die Überlegenheit Europas begründeten und die arabischen Regimes im 19. Jahrhundert zu Objekten kolonialer Strategien werden ließ - als politische Machtzentren waren sie für die Kolonialherren nicht mehr ernst zu nehmen. Die äußere Kolonisierung konnte aber nicht zu einer inneren Kolonisierungen führen - Religion, islamische Kultur vorindustrielle Produktionsformen erwiesen sich als unbesiegbare beharrende Kräfte.
Die Versuche arabischer Militärregimes, die europäische Entwicklung nachzuholen, führte auch nicht zu überzeugenden Erfolgen, selbst in der Türkei nicht. Am beginnenden 21. Jahrhundert steht der Slogan „islamischer Staat" für eine radikale Rückorientierung an den Ursprüngen der mohammedanischen Bewegung und stößt weltweit in der muslimischen Bevölkerung auf erstaunliche Sympathien. Selbst in den arabischen Ländern ist heute das geistige Erbe der großen Zeit des Orients kaum noch präsent.

Die maurische Kultur des 8.-12. Jahrhunderts konnte nicht zum Auftakt einer islamischen Erfolgs-Entwicklung für den Islam werden, weil dem Islam selbst die Kraft für eine säkulare Wissenskultur fehlt, erklärt Vilmos Czikkely: Im kulturellen Umfeld Mohammeds gab keine Herausforderung, sich mit der Frage von Wissen außerhalb religiösen Strukturen zu befassen. „Weder in Mekka noch in Medina gab es Zentren der spätantiken weltlichen oder monastischen Gelehrsamkeit, Kunstschaffens oder Technologie.“ (Czikkely) Im Hintergrund von Wissen steht für den Islam immer Offenbarungswissen, Versuche, über eine „doppelte Wahrheit“ geistige Spielräume zu schaffen, sind – wie im christlichen Kulturbereich – schnell in Konflikt mit der Orthodoxie gekommen – unter Verweis auf die Traditionen der Urgemeinde.

Ein Beispiel für den Niedergang der osmanischen Kultur ist das Schicksal von Taqi al-Din, einem universalgelehrten Autor mehrerer Schriften über Astronomie, Optik und mechanische Uhren. Er gilt als Erfinder der Dampfturbine: Die Kolbenpumpe beschrieb er als ein nützliches Instrument, um Fleisch-Spieße im Feuer zu drehen. In Istanbul wurde er 1571 Chefastronom (und -astrologe) am Hofe des Sultans. Er konnte dort ein Observatorium aufbauen, eines der größten  der damaligen Welt. Seine  astronomischen Tabellen übertrafen teilweise die seiner abendländischen Zeitgenossen an Genauigkeit. Kurz nach der Einweihung erschien der große Komet von 1577. Der Sultan bereitete gerade einen Feldzug gegen Persien vor und fragte seinen Hofastrologen al-Din, was das Erscheinen des Kometen bedeute. Der Feldzug endete mit einer Niederlage – der Sultan ließ sich davon überzeugen, dass die Beschäftigung mit den Sternen den Lehren des Islam zuwiderlaufe, das Observatorium wurde dem Erdboden gleich gemacht.

Phasen von Blüte der Wissenschaften konnten sich nur da entfalten, wo es Herrscher gab, die ihren Wert zu schätzen wussten und sie förderten – vor allem im Bereich der Höfe. Dies gilt für den persischen Kulturbereich Bagdads, für die frühen Fatimiden in Ägypten und die syrischen Ummayyaden in Cordoba. Gelehrte konnten – oft unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung - eine Anstellung als Mediziner, Astronomen, Geologen oder Mineralogen erreichen. An Höfen konnte es übrigens auch zu Lockerungen des strengen Bilderverbots kommen. Der Gedanke, dass die höfische Kultur zu einer Kultur für das Volk werden könnte, war den Herrschern wie den Philosophen aber fremd. Die Staatsgebilde basierten auf militärischer Gewalt und persönlicher Loyalität von Gefolgsleuten und stammesähnlich organisierten Bevölkerungsgruppen. Die Philosophen erklärten, warum die vernunftsgeleitete Philosophie nichts für das dumme Volk ist, das mit der Bildersprache des Korans angemessen bedient sei.
Die Repräsentations-Kultur an den Höfen wurde von strenggläubigen Schriftgelehrten nicht als Impuls zur Modernisierung aufgegriffen, sondern fundamentalistisch-kritisch beobachtet. Es gab keine dauerhaft relevanten Strömungen eines „Reform-Islam“.
Insbesondere wenn die Schlussfolgerungen der Wissenschaft oder Philosophie in Konflikt zu geraten drohten mit dem Buchstaben der Offenbarung im Koran, etwa bei Fragen der Entstehung der Welt, wurden die Grenzen deutlich. Der bedeutende persische Arzt Muhammad ibn Zakarīyā ar-Rāzī kritisierte im frühen 10. Jahrhundert den Koran als zusammengewürfelte Mischung aus absurden und widersprüchlichen Legenden, der Text sei weder stilistisch noch inhaltlich ein Wunderwerk. Al-Razi wurde wegen seiner Kritik als Direktor des Krankenhauses in Ray abgesetzt und starb um das Jahr 925 als verarmter Mann.
Astronomische Werke wurden nicht nur in Bagdad, sondern auch in Cordoba verbrannt. Es gab immer wieder Fälle von Verfolgung, Verbannung, Gefangennahme, Flucht und Verschleppung von Gelehrten.
Die Wertschätzung von Philosophie, Wissenschaft und Malerei in Kreisen der höfischen Elite stand in einem Gegensatz zur öffentlich wirksamen Orthodoxie und zur volkstümlichen Religiosität. Eine Verallgemeinerung des profanen Wissens fand nicht statt, berufliche und wissenschaftliche Bildung waren in den islamischen Städten Privatsache. 


Nach der Vertreibung der Mauren aus Andalusien kam es in keinem islamisch beherrschten Land zu Entwicklungen, die an den dort erreichte Stand der wissenschaftlichen und kulturellen Bildung anknüpfen konnten oder diesen Stand auch nur wertschätzend konservierten. Offenbar fehlen im Islam selbst Triebkräfte für solche Entwicklungen.

Für die Entwicklung der Kultur und Wissenschaften gilt, was für das Zusammenleben verschiedener Religionsgruppen in Andalusien auch gilt: Von einer programmatischen Neugier, Offenheit und Toleranz kann keine Rede sein. Kernfrage einer islamischen Toleranz wäre das Recht gewesen, eine andere Religion anzunehmen. Es gab Phasen der „convivencia“, des geduldeten Nebeneinanders verschiedener Stammes- oder Gruppenidentitäten. Auch die großen Kulturförderer unter den maurischen Herrschern haben auf die Trennung der verschiedenen Religionsgruppen Wert gelegt und genauso auch darauf, dass die offenen Kultur am Hofe ein Distinktionsmerkmal ihrer Macht blieb.

So überzeugend diese zusammenfassenden Erklärungen von Vilmos Czikkely auf den ersten Blick erscheinen – so unbefriedigend müssen sie bleiben, wenn man sich klar macht, dass das Verhältnis des Christentums zu Philosophie, Wissenschaften und Künsten im Mittelalter genauso so ablehnend gewesen war. Auch dem Christentum selbst fehlte die Kraft für eine säkulare Wissenskultur, es hat sie bekämpft.
Warum gibt es weder eine islamische Reformation noch eine islamische Aufklärung? Warum gab es im islamischen Kulturbereich keine Kräfte, die an die „Renaissance“ des alten griechischen Wissens anschließend den alten, fundamentalistischen Islam überwinden konnten?
Warum konnte genau das im christlichen Europa passieren? Diese Frage stellt sich insbesondere in diesem Vergleich.

    s. auch den Text
    Über die Bedeutung der Kommunikation für den Übergang von der agrarischen zur industriellen Kultur M-G-Link

    Literatur:

    Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs (2003)
    Christian Meier, Von Athen bis Auschwitz  (2002)
    Jacques Le Goff, Die Geburt Europas im Mittelalter (2004, frz. 2003)
     
    Zafer Senocak, Der unaufhaltsame Niedergang des Islam (2015)
       online http://www.welt.de/debatte/kommentare/article144278938/Der-unaufhaltsame-Niedergang-des-Islam.html
    David Levering Lewis, God's Crucible. Islam and the Making of Europe (2008)
    Bernard Lewis, Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor (1985/2002)
    Abdelwahab Meddeb, Die Krankheit des Islam (2002)
    Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter (1981)
    Hamed Abdel-Samad: Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose (2010)
    Murad“ Wilfried Hofmann, Den Islam Verstehen - Vorträge 1996-2006 (2007)
             siehe auch:
     https://de.m.wikipedia.org/wiki/Murad_Wilfried_Hofmann#Schriften_zum_Islam