Klaus Wolschner

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
und Medien

Wie wir wahrnehmen,
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Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

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„...und doch ist der Deutsche anständig,
gerade als Soldat”

Johannes Agnolis „Frühjahrswind”, 1948

2020
Zur Seelenverwandtschaft von linkem und rechtem totalitären Denken siehe MG-Link

Johannes Agnoli, seit den späten 1960er Jahren ein einflussreicher linksradikaler APO-Politologe, war in seiner Jugend in Italien Faschist gewesen, „Linksfaschist“, wie er selbst sagt – ein glühender Anhänger des Duce Benito Mussolini. Als Mussolini 1943 abdanken musste und Italien aus dem Weltkrieg ausschied, meldete sich Agnoli freiwillig bei der SS, um als Ausländer in der Wehrmacht kämpfen zu können. Er bewunderte Deutschland und die deutschen Soldaten. In Jugoslawien wurde er bei der Bekämpfung der kommunistischen Partisanen eingesetzt.
Nur in Anekdoten und Scherzen hat Agnoli, unter Freunden, Anspielungen auf seine Jugendzeit gemacht. „So dumm war ich“, sagte er 50 Jahre danach in einem Radio-Interview. Wo er im Krieg wirklich eingesetzt war, erfuhr niemand - er weigerte sich, darüber Auskunft zu geben, berichtet seine Frau Barbara Agnoli. Auch in der „Biografischen Skizze“, in der seine Frau nach seinem Tod ihre Erinnerungen aufschrieb, erfährt man daher nichts.
Agnoli hat seine faschistische Vergangenheit zwar nicht verdrängt - er hat sich zeitlebens mit dem Faschismus auseinandergesetzt -, aber er hat sich ihr gegenüber doch einiges vorgemacht“, schreibt sie. Wirklich nachgefragt hatte sie offenbar auch nicht.
 
Aus seiner Schulzeit erzählte Agnoli, dass die Schulreform von Giovanni Gentile, dem „Philosophen des Faschismus“, sehr gut gewesen sei - kein Wort von den faschistischen Ritualen, die andere erlebt haben (1). Er erzählte im privaten Kreise, dass er sich als „Linksfaschist“ verstanden habe. Die Texte aus der Schulzeitung „Tiziano”, die er selbst bis zu seinem Lebensende aufbewahrt hat, zeigen seine Begeisterung für den Krieg, für Mussolini und Hitler - da gibt es keinen Hinweis auf eine „linke” Interpretation des Faschismus.


Nach seinem Abitur im Mai 1943 und nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 hat Agnoli sich freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet - Italien war aus dem Weltkrieg ausgeschieden. Offenbar hat er bei der Wehrmacht seinen Namen eingedeutscht - „Johannes Aknoli”. Über seine anderthalb Jahre im Krieg hat er im Freundeskreis nicht einmal Anekdoten erzählt. In ihren Erinnerungen schreibt seine Frau Barbara: „Agnoli hat … mir gegenüber immer bedauert, dass er in Jugoslawien gegen die Partisanen, also auf der »falschen Seite« gekämpft hat.“ Von seinem Einsatz weiß sie nur zu berichten, dass er sich an seinen „Oberleutnant Ackermann … durchaus positiv“ erinnere. In einem Interview, geführt zu seinem 75sten Geburtstag, wurde er von einem Freund danach befragt (2). In ihren Erinnerungen bezieht sich Barbara Agnoli auf die dürren Antworten aus diesem Interview. Sie untersagte damals übrigens die geplante Radiosendung.
Aus der Erinnerung an die britische Gefangenschaft in Ägypten wusste Agnoli den Ruf des Muezzin nachzuahmen. In seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit  finden sich verschrobene Gedanken über „Ordnung – und Formungsbegriffe“ (1947), nichts über die Verbrechen, an denen er beteiligt war oder die er erlebt hat, nichts über die Nürnberger Prozesse, nichts über Filme über die Konzentrationslager, die die Alliierten ihren Kriegsgefangenen zu zeigen pflegten. Da gibt es übrigens auch keinen Hinweis darauf, dass Agnoli den Faschismus irgendwie „links” interpretiert haben könnte. Auch i seinen späteren Texten über den italienischen Faschismus gibt es keine überzeugten Menschen, sondern nur Strukturen und Bewusstsein als Ausdruck von Klasseninteressen.
„Agnoli hat immer beteuert, er habe die Jahre der Kriegsgefangenschaft als angenehm und anregend erlebt“, berichtet Barbara Agnoli. Bis zu seinem Lebensende weigerte er sich, sich mit dem Holocaust zu befassen - weil er nicht mit seinen marxistischen Kategorien erklärbar sei. (2)

Die These, dass es eine Seelenverwandtschaft zwischen linkem und rechtem totalitären Gedankengut gibt, tat er in seiner „Kommemorativabhandlung 20 Jahre danach“ mit einer Handbewegung ab. Mit dem zeitgenössischen Faschismusforscher Emilio Gentile, dem Namensvetter seines Jugendschwarms, der Kommunismus wie Faschismus als „politische Religion“ beschreibt, hat er sich offenbar nicht auseinandergesetzt.
Agnoli war ein glänzender Rhetoriker, der mit seinem Talent den Zeitgeist 1967 traf und dessen wirre und assoziative Analyse über die „Transformation der Demokratie“ einen klassentheoretischen Erklärungszusammenhang für die die Große Koalition (1966-69) in der BRD zu bieten schien. Wie wenig Agnoli bereit war, sich selbstkritisch mit seiner intellektuellen Biografie und mit seinem Handeln auseinanderzusetzen und wie er mit assoziativer Rhetorik dies zu überspielen wusste, wird an einem Text deutlich, den er auf einer Schreibmaschine der britischen Armee im Kriegsgefangenenlager 1948 tippte: „Frühjahrswind“. (3) Unter diesem Titel träumte er immer noch von einer deutschen „Durchdringung und Eindringung“ Europas. „.. und doch ist der Deutsche anständig, gerade als Soldat“, schrieb er 1948.

Agnoli 0

 

 


 

 

Faksimile

Manuskript „Frühjahrswind“  Unterzeichnet mit „Moascar April 1948“
(3)
 

 

 

Im britischen Kriegsgefangenenlager in Moascar beschäftigte sich der 23 Jahre junge Giovanni Agnoli, der sich da schon mit dem eindeutschenden Vornamen „Johannes“ bezeichnete und das deutsch-lautmalende „k” in „Aknoli“ benutzte, mit deutscher Philosophie. Im „Reeducational Work“ betreute er den Philosophiekurs auf der Grundlage von Wilhelm Windelbands Philosophiegeschichte. Im Sommer 1948 wurde Agnoli entlassen. Kurz zuvor, im April 1948 beendete er einen 31-seitigen Essay unter der andeutungsschwangeren Überschrift „Frühjahrswind“.

Agnoli 01

Der Text beginnt literarisch, streift alle möglichen schöngeistigen Fragen, ohne dass ein roter Faden erkennbar wäre. Insbesondere ist keinerlei Auseinandersetzung mit seiner konkreten Lage zu erkennen – warum gefangen? Was war mit dem italienischen Faschismus?


Hat Agnoli in britischer Kriegsgefangenschaft von den Gräueln der Nazi-Herrschaft gehört?

Agnoli 02
Damit befasst sich der Text nicht, auch andere in seinem Nachlass nicht.
Er schwadroniert über England als Insel.

Agnoli 1

Am Ende des Textes wird es geistig-politisch.

Das „Nebenan“ Englands ist Deutschland, das „Herz der Völker”:

Agnoli 2
Mussoli wurde 1943 abgesetzt, in Italien warfen ihm viele vor, dass er mit Deutschland paktiert hat. Nicht so Agnoli, der kurz nach dem Mussolini-Sturz für die Wehrmacht in den Kampf gegen die jugoslawischen Partisanen zog:

 

Agnoli 31
Was hat Agnoli erlebt in zwei Jahren Kampf mit der Wehrmacht?  „Grausam zur Not, aber anständig“. Agnoli reproduziert die Legende von der sauberen Wehrmacht, zwölf Jahre Nationalsozialismus werden im Sprung überwunden und Agnoli landet beim deutschen Stolz - Preußen. Und bei der rassistischen Kolonial-Legende von der gelben Gefahr, „Asien“.

In dem von seiner Frau dem Amsterdamer Archiv überlassenen Nachlass finden sich unzählige handschriftliche Zettel zu allem und jedem, vorzugsweise zu den großen Namen der Philosophiegeschichte, aber nichts zu den Gräuel der Nazizeit, von denen er als Kriegsgefangener erfahren haben muss, nichts von den Nürnberger Prozessen, nichts von der Faszination, die der Faschismus italienischer Prägung auf Menschen wie ihn ausgeübt hatte.

Agnoli 32Agnoli schrieb als Kriegsgefangener den unfassbaren Satz: „Ich trage nämlich darnach Verlangen, dass der deutsche Wind wieder weht, dass das deutsche Volk wieder die Möglichkeit der Durchdringung und  Eindringung gewinnt.“

Agnoli 4

„Durchdringung und Eindringung“ sind Metaphern für die Kriegspolitik der Nazis. Kein Wort von den Juden. Agnoli schwadroniert über die „ungeistige Situation der Zeit“ und den „Geist“.  Das Gefühl der Unterdrückung „entsteht dort, wo du dich nicht zu ordnen und einzuordnen weisst.“  Das verdoppelte „s“ statt „ß“ ist ein Hinweis darauf, dass er das auf einer britischen Schreibmaschine tippte.


 

Agnoli 5

 

Der Text reproduziert
bis zum Schluss die
NS-Ideologie ohne eine
Spur von Nachdenklichkeit: „Führungsschicht“,
„eine neue Menscheheit schaffen”, O-Ton Mussolini.

Agnoli hat keine Antenne dafür, dass da gerade etwas schiefgegangen war mit vielleicht 80 Millionen Toten, Verbrechen und Kriegsfolgen eingerechnet. 
(siehe Anm. 2 und 3)

 

„Moascar April 1948“ hat Agnoli stolz unter das Manuskript geschrieben  - und es bis zu seinem Tod 2003 aufbewahrt. Ohne Kommentar, sozusagen als Eingangstext für die gesammelten Werke.
 

Anmerkungen:

1) An einer Stelle in der Vorlesung über „Subversive Theorie“ teilt Agnoli mit, dass es auch positive „Errungenschaften“ des Faschismus gibt. Für Deutschland fiele einem da der Autobahnbau ein, für Italien ihm die Schulreform: „Man kann zum Beispiel gegen den italienischen Faschismus sagen, was man will, aber die Schulreform von 1938 war so gut, daß die italienische Republik sie unverändert übernommen hat. Heute gilt sie als demokratische Errungenschaft. Man muss also diese Ängstlichkeit im Umgang mit der Vergangenheit  weglassen, dann ist man eher in der Lage, auch wirklich mit der Vergangenheit fertig zu werden.“

Immerhin ist Agnoli, Jahrgang 1925, über zehn Jahre lang im italienischen Faschismus zur Schule gegangen, hat als überzeugter Anhänger Mussolinis sicherlich aktiv an den Ritualen und der Liturgie im schulischen Alltag teilgenommen, hat faschistische Gebete gesprochen und Lieder gesungen und die Fahne  gehisst. Einer der intellektuellen Väter des Jungen Agnoli war der Philosoph und Hegelianer Giovanno Gentile, der Verfasser des „Manifestes der faschistischen Intellektuellen an die Intellektuellen aller Nationen“ (Manifesto degli intellettuali italiani fascisti agli intellettuali di tutte le nazioni), das am 21. April 1925  in allen Tageszeitungen Italiens veröffentlicht wurde.

Über die Schulzeit in Agnolis Zeit und seinen verehrten Giovanni Gentile liest man etwa in der Umberto-Eco-Biografie von Michael Nerlich Folgendes:

 „Giovanni Gentiles Name ist auch mit dieser ideologischen Gleichschaltung der Kinder und Jugendlichen unrühmlich verbunden. Als Unterrichtsminister des faschistischen Regimes zeichnete er 1923 verantwortlich für eine Schulreform, die von Mussolini „die faschistischste aller Reformen“ genannt wurde. Sie war es insofern, als sie - unter Beibehaltung eines eher konservativen Literatur- und Fächerkanons - strukturell jede weitergehende ideologische Anpassung ermöglichte. Das betraf zum einen den Religionsunterricht, zum anderen die immer intensiver werdende Infiltration mit faschistischer Ideologie selbst über das Nationale Jugendwerk Balilla, dem zunächst die körperliche Ausbildung im Sportunterricht übertragen wurde. Nach und nach wurde sie aber auch über Begleit-Zeremonien wie Fahnenappelle, gemeinsames Absingen faschistischer Lieder und speziell der Parteihymne Giovinezza in allen anderen Bereichen praktiziert. Seit dem Ende der zwanziger Jahre wurde jegliche Zurückhaltung aufgegeben.
War bis dahin die Indoktrination über erläuternde Kommentare der Lehrer erfolgt, was durchaus Formen des Widerstands möglich machte, hielt sie nun Einzug in die Schulbücher selbst bis hin zur Einführung der Staatlichen Einheitstexte, und die Lehrer, die 1931 zum Eid auf den Staat und zum Eintritt in den PNF gezwungen wurden und zum Unterricht uniformiert oder zumindest schwarz-behemdet antreten mussten, hatten nun kaum mehr Möglichkeiten, andere Dimensionen des Denkens als die durch Manuale wie die
Nozioni di cultura fascista vorgegebenen auch nur anzudeuten. Sie hatten die faschistische Ideologie direkt zu vermitteln, wobei vor allem der DUCE-Kult, die Verherrlichung der Faschistischen Partei und ihrer „heroisch- jugendlichen“ Kämpfer aus der squadra-Zeit, der Rom-Mythos und der Marsch auf Rom im Mittelpunkt standen: „Der italienische Staat verlangt, dass sich die Schule an den Idealen des Faschismus orientiert [und) die italienische Jugend auf allen ihren Stufen und in allen ihren Unterrichtsfächern zum Verständnis des Faschismus erzieht, damit sie sich im Faschismus erneuert und in dem geschichtlichen Bewusstsein lebt, das der Faschismus geschaffen hat", hatte Mussolini 1925 verkündet, und 1934 wurde dies der neuen Schulreform als Prämisse vorangestellt. (…)
1938 treten denn auch die Faschistischen Rassegesetze in Kraft, die jüdische Lehrer und Schüler vom Unterricht ausschließen, Schulbücher, die von jüdischen Autoren verfasst wurden, verbieten und später Tausende Italiener - wie Primo Levi - in die Vernichtungslager der Nazis schicken werden. Sie schlagen sich auch im letzten faschistischen Schulreform- Programm nieder, das am 15. Februar 1939 verabschiedet wird und bereits den Einsatz moderner Massenmedien wie des - damals noch unerschwinglichen - Radios vorsieht. Ihm zufolge soll der Unterricht nun auch „von den ewigen Werten der italienischen Rasse und Zivilisation“ bestimmt sein, und in der Tat rechtfertigen die Schulmanuale die italienische Kolonialpolitik als zivilisatorische Hilfe für primitive Völker mit der angeblichen Überlegenheit der italienisch-arischen Rasse.
Damit ist der Höhepunkt der Faschisierung von Schule und lugend- Politik erreicht und gleichzeitig überschritten, denn das faschistische Italien verschwindet im Chaos des Zweiten Weltkriegs.“ (
Michael Nerlich, Umberto Eco: Die Biographie (2010) in dem Abschnitt „Kindheit im faschistischen Italien“  S. 8ff)

2) Der Holocaust kommt auch in neueren Faschismusschriften von Agnoli kaum vor. In der neu geschriebenen Einleitung zu dem 1997 erschienenen Aufsatzband „Faschismus ohne Revision“ hat Agnoli dies eingeräumt und mit der Bemerkung entschuldigt, daß er „nicht in der Lage” sei, „den Völkermord an den Juden mit irgendwelchen rationalen, marxistischen oder sonstigen Kategorien zu begreifen”. Wie blöd für den Völkermord! Agnoli rechtfertigt so die Konsequenz, sich mit dem Holocaust nicht zu befassen - anstatt auf die Idee zu kommen, dass seine holzschnittartigen polit-ökonomischen „Kategorien“ nur begrenzt zum Verständnis der Wirklichkeit des Nationalsozialismus taugen. Agnoli hat über seine jugendliche Begeisterung für den „Philosophen des Faschismus”, Giovanni Gentile, berichtet, in seinen Texten sucht man aber vergeblich nach einer Auseinandersetzung mit Emilio Gentile, dem kritischen Faschismus-Forscher, der schon in den 1960er Jahren die faschistische - wie die kommunistische - Ideologie als Religionsersatz beschrieben hat.  

In einem Interview, dass im Jahre 2000 geführt und erst posthum am 20.6.2003 in der Wochenzeitung  Freitag veröffentlicht wurde, hat Agnoli erstmals öffentlich einen Satz zur Wehrmacht gesagt - und eine typische Alterslegende entwickelt, aber kein Wort zur Waffen-SS, kein Wort über seinen Kriegseinsatz gegen die Partisanen gesagt:
 
„Ich hatte Kant. Fichte, Hegel, Goethe, Hölderlin gelesen - alles auf Italienisch wohlgemerkt. Das war für mich Deutschland. Und dann habe ich einen eigentümlichen Fehler begangen, ich habe etwas gemacht, was die Nazis auch machten: die volle Identifikation zwischen dem Deutschland, das ich kannte - die erwähnten Namen - und Nazideutschland: Deswegen habe ich mich 1943 freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet.
    Du hast dich den Nazis angeschlossen, weil du gedacht hast,
    sie setzen eine dir nahestehende Philosophie der Tat um?

So ungefähr war meine verrückte Vorstellung. Ich habe alles gelesen, internalisiert und gedacht, es seien nationalsozialistische Philosophen. Übrigens auch Jaspers. Erst später, als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich erfahren, dass Jaspers ein Gegner des Nationalsozialismus war. Aber so dumm war ich damals.
   Wann hat bei dir das Umdenken eingesetzt?
Vor allem die Kriegsgefangenschaft war entscheidend; Ich war dreieinhalb Jahre in Ägypten und habe es immerhin bis zum Oberplanierer im  Straßenbau gebracht. Diese Zeit gehört zu den besten meines Lebens, da habe ich ganz normal gearbeitet wie die anderen. Und da fängt man an, über gewisse Dinge nachzudenken. Es ist ja nicht so, dass man ein angenehmes Leben hat, sich an den Tisch setzt und sagt: ’Diese Nazis, wer waren sie?’ Nein, man muss das wirklich erfahren haben, zusammen mit den anderen, und so kam es allmählich zu einer Veränderung, die zum Teil radikal gewesen ist, obwohl ich natürlich in der Rückerinnerung nicht vergesse, dass ich damals als Linksfaschist galt. Ich war A
nhänger von  Hugo (italienisch: Ugo, K.W.) Spirito,  einem etwas verrückten Hegelianer, der im italienischen Faschismus die These vertrat, dass der Faschismus die Fortsetzung des Bolschewismus sei: das, was der Bolschewismus nicht erreicht hätte, müsste der Faschismus erreichen. Er war also für die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Die Orientierung an Spirito hing wahrscheinlich damit zusammen, dass ich wusste, er war ein Hegelianer, und in meiner jugendlichen Dummheit war ich auch ein rigoroser Linkshegelianer.”

Der Interviewer Matthias Bertsch, ein Duz-Freund, kannte „Frühjahrswind” nicht, das war noch unter Agnoli-Verschluss. Sein Interesse galt der Diskussion über das Verhältnis der Linken zur untergegangenen DDR, nicht der Mussolini-Jugend.  Er hat daher nicht nachgehakt und nach den Erlebnissen Agnolis als Kriegsteilnehmer gefragt. In welcher Einheit hat er gekämpft? Wie hat er den mit äußerster Brutalität geführten Partisanenkampf erlebt? Wo war er Opfer, wo Täter? Bereute er die freiwillige Meldung zum Kriegseinsatz? Immerhin hatte er sich bei den Deutschen gemeldet in einer Zeit, in der die Wehrmacht die italienischen Soldaten als „Badoglio-Schweine” behandelte. Wollte er sich mit der Annahme des Vornamens „Johannes” symbolisch mit den Deutschen verbinden? Wann hat er diesen Vornamen angenommen, als Wehrmachts-Soldat, um sich den deutschen Soldaten anzubiedern?? Hatte er im Kriegsgefangenen-Lager nichts von den Nürnberger Prozessen gehört? Fragen über Fragen.
Barbara Agnoli hatte, so berichtet Bertsch, im Jahre 2000 die geplante Radio-Sendung mit dem Interview untersagt mit der Begründung, Agnoli sei enttäuscht” von dem kritisch nachfragenden jugendlichen Freund. Posthum erschien eine Zeitungs-Fassung im Freitag (
pdf-Link), die aber aufgrund einer Intervention von Barabara Agnoli im Archiv des Freitag gelöscht wurde.

3) Das Original von „Frühjahrswind” liegt im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam unter der Signatur ARCH03440 -  885 Fotokopien der Abhandlungen: Von grossen Dingen, Frühjahrswind und In Sünde geboren. 1947-1949”

 

    Literatur und zur Frage nach dem Verhältnis von faschistischer und radikal-marxistischer Demokratiekritik siehe
    Wie Johannes Agnoli Ernst Fraenkel zu Grabe trug   MG-Link