Klaus Wolschner                                 Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de

I
Medien-
Geschichte

II
Politik
und Medien

III
Medien-
Theorie

Texte zur

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

AS Cover

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder direkt beim Autor
 
klaus(at)wolschner.de

Über die Mediengeschichte
 der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im
„Jahrhundert des Auges“

2018 VR 46

ISBN 978-3-7375-8922-2
 im Buchhandel oder direkt beim Autor 
klaus(at)wolschner.de

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

2 GG Titel

ISBN 978-3-746756-36-3
im Buchhandel oder beim Autor

 
klaus(at)wolschner.de

Was
machen
Medien
mit
Menschen
?

Topmodel

2017

Eine digitale Medienrevolution verändert die Welt. Kein gesellschaftlicher Bereich, in dem die neuen Kommunikations-Techniken nicht eine schwindelerregend wachsende Rolle spielen würden – in der Liebe wie in der Politik, im privaten Alltagsleben wie in politischen Machtkämpfen. Und das global: in Hongkong, Kairo, Paris, in Bagdad und in Washington.
Und das schon wenige Jahrzehnte, nachdem die Elektronik-Tüftler ihre ersten technischen Innovationen erfunden haben.

Aus ihren Erfindungen sind in einer kurzen Zeit mächtige Weltkonzerne geworden, deren Produkte Strukturen umwälzen. Ray Kurzweil, der „Director of Engineering“ bei Google, prophezeit, dass die Techniken der Computerspiele in zehn Jahren „full-immersion virtual realities“ ermöglichen werden, ein vollständiges Eintauchen in virtuelle Realitäten: „Du kannst zum Beispiel dich mit einer Freundin treffen, die hunderte von Kilometern entfernt ist, du kannst mit ihr an der Mittelmeerküste spazieren gehen, ihre Hand halten und die warme feuchte Luft im Gesicht spüren.“
Ziel der Silicon-Valley-Firmen ist es, „tools" zur Verfügung zu stellen - und Geld zu verdienen. Sie wissen nicht, was sie tun  - ebenso wenig wie Johannes Gensfleisch Gutenberg das wusste, dessen Drucktechnik-„tool" in den 500 Jahren zuvor die Welt verändert hatte.
  

Was Medien mit Menschen machen und schon immer gemacht haben, zeigt die Reise in die Mediengeschichte.

Medien-Revolutionen passieren

Johannes Gutenberg (1400-1468) hatte keine Ahnung, dass seine geniale Erfindung einer preiswerteren Drucktechnik die katholische Kirche entmachten und eine Wissens-Revolution auslösen sollte. Wenn er erlebt hätte, wie Bauern frei nach dem Schlachtruf „sola scripturaden Papst schmähen, Kirchen stürmen und die Heiligenbilder zerstören sollten, hätte er vielleicht aus moralischer Verantwortung seine Erfindung bereut.

Ähnlich radikal revolutionieren das Fernsehen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und das weltweite Computer-Netzwerk seit 1989 die Kommunikation zwischen Menschen und damit die Gesellschaft. In unserem Alltag machen wir etwas mit den Medien - wir kaufen die neuen Geräte und schalten sie ein. Der Prozess der Medialisierung scheint unaufhaltsam voran, und das weltweit - hilflos erscheint der Versuch, hier und da einmal abzuschalten.  Das kommunikationswisssenschaftliche Nachdenken die kulturgeschichtliche Wirkung der Medien stellt sich der Frage: Was machen (neue) Medien mit den Menschen?

Schon Giordano Bruno wusste (De vinculis in genere, 1591), was Hermann von Helmholtz in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen physiologischen Forschungen nachweisen konnte: Unsere visuellen Wahrnehmungen werden im Gehirn konstruiert. Neue Medien schaffen daher neue, ganz andere Wirklichkeits-Wahrnehmungen, Medien sind nicht neutral „Mittel”, mit denen sich Bilder der Realität nur anders fixieren und verbreiten lassen. Medien prägen die Art, wie Menschen ihre Wirklichkeit wahrnehmen und wie sie sich kommunikativ aufeinander beziehen. Der Mensch ist nur als kommunizierendes soziales Wesen denkbar, neue Kommunikationsmittel verändern mit seinen Vergemeinschaftungsformen daher den Menschen selbst.

Der elektronische Umbruch dürfte so weitreichend sein wie der, den Johannes Gutenberg mit seiner Erfindung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert einleitete. Es dauerte vier Jahrhunderte, da waren die oral übermittelten regionalen Mundarten und kulturprägenden Sprechweisen verdrängt durch National-Sprachen, die durch Schrift ihre Normung erhalten - gesprochene Schriftsprachen. Die neuzeitliche  Verbreitung der Schrift ermöglichte eine in der Geschichte beispiellose Entfaltung von Wissenschaft und Vernunft.

Das Buch, vom 17. bis zum 20. Jahrhundert die Grundlage von europäischer Kultur und Bildung, wird nun an den Rand gedrängt von einer multimedialen elektronischen Kommunikation. Die Verdrängung der Kultursprachen, die sich in den letzten Jahrhunderten herausgebildet haben, durch die globale elektronische Kommunikationstechnologie wird nicht Jahrhunderte dauern, sie ist schon erkennbar im Gange. Erkennbar ist auch, dass das globale, von der elektronischen Kommunikation geprägte Amerikanisch-Englisch (globalesisch”) schlichter sein wird - jedenfalls als die Nationalsprachen des gebildeten Bürgertums vergangener Jahrhunderte.

Kommunikationswissenschaften befassen sich also mit Kernfragen der Kulturgeschichte des Menschen. Es gibt kein Wahrnehmen, kein gesellschaftliches Leben außerhalb der medialen Vermittlung von Realität. Mediengeschichte,  Mediensoziologie und Medienphilosophie befassen sich mit der Frage, wie sich der Wandel von Gesellschaft und Kultur in der menschlichen Wahrnehmung, also vermittelt über Medien, darstellt und welche Wirkungen neue Vermittlungstechniken auf den gesellschaftlichen Wandel haben.

Sprache: Mund-Art, Schrift-Sprache

Wie sprachen und wie dachten die Menschen im 7. oder im 14. Jahrhundert über sich?  Wie unterscheidet sich der Mensch des 7. oder 14. Jahrhunderts von dem Menschen des 21. Jahrhunderts? Wir kommunizierten Menschen anderer, früherer Medien-Kulturen? In welcher Sprache, mit welchen Bildern kommunizierten sie über ihr Leben, welche Bilder machten sie sich von selbst?
Wenn man Sprache als das ursprüngliche Kommunikationsmedium des Menschen begreift, dann ist die Entwicklung der Sprachfähigkeit der Primaten ein erstes Beispiel dafür, wie ein neues Kommunikationsmittel den Menschen als soziales Wesen verändert und prägt. Unsere heutige Sprache ist seit der Erfindung der Druckerei-Kunst eine Schriftsprache geworden, sie ist kein wirklich „primäres“ Kommunikations-Medium: Die oral übermittelten Mundarten wurden in der Neuzeit als Kommunikationsmittel abgelöst durch (gesprochene) Schriftsprachen.

Als oral bezeichnet man eine Gesellschaft, in der die Verwendung von Schrift nicht allgemein gebräuchlich ist, und in der die Sprache nicht durch Schriftkultur geprägt ist, die also durch eine ursprüngliche mündliche Kommunikation geprägt ist.
Um uns ein Bild von der oralen Kommunikation zu machen, müssen wir müssen an die Lautkulturen der Kinder denken oder an die Reste der Dialekte im ländlichen Bereich. Oder Ethnologen auf weite Reisen zu „unberührten” Stammeskulturen schicken.

Der Wandel von der nur mündlich gebrauchten Sprache („Mundart”) zu dem Kommunikationsmedium Schrift-Sprache war Teil der Medienrevolution der Neuzeit. Wenn wir heute sprechen, sprechen wir im Bewusstsein von Schrift-Sprache: Wir stoßen nicht Lautfolgen aus, ähnlich vielleicht dem melodischen Gebrabbel von Kleinkindern. Unsere Sprache besteht in unserem Verständnis aus einzelnen Worten, die gewöhnlich zu Sätzen aneinandergekettet sind, Satzteile sind durch Kommata getrennt, am Ende steht ein Punkt - solche Satzteile setzen wir mit Pausen ab. Das alles sind Merkmale von Schrift-Sprache. Was wir uns gewöhnlich nicht klar machen: Unsere Sprache ist davon geprägt, dass wir die einzelnen Satz-Elemente als Schriftbild vor Augen haben. Unsere komplexe Grammatik ist ein Kind der Schrift und ein Programm für Schriftsprache. Man kann sie auch „literale" Sprache nennen.
Die Schrift ist nicht nur die Grundlage unserer Buchkultur, sondern auch unserer Sprachkultur. Der Übergang vom anschaulichen Denken des Mittelalters zum begrifflichen Denken der Neuzeit bedeutete gleichzeitig das Lernen einer neuen Sprache, deren Kennzeichen die Bilderlosigkeit war: „Der menschliche Geist musste erst durch Jahrhunderte lange Erziehung dazu gebracht werden, möglichst ohne Zuhilfenahme des bildhaft Greifbaren folgerichtig zu denken.“ (Leonardo Olschki, 1919).

Schriftsprache und Denken

Der Ethnologe Jack Goody nannte sein bahnbrechendes Buch über die Erfindung der phonetischen Schrift bezeichnenderweise „The Domestication of the Savage Mind” (1977).  Er untersucht die Auswirkungen der grafischen Speicherung von Sprache in der Form abstrakter Schriftzeichen auf kognitive Prozesse.  Für Eric Havelock ist insbesondere die von den Griechen „erfundene“ Alphabet-Schrift die wesentliche Grundlage für analytisches Denken, er spricht von der Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Schrift". (L)

Die neue Sprache wurde in der europäischen Aufklärung zum Medium der Vernunft für alle: Nur wer in der Schrift-Sprache denkt, ist wirklich Mensch - „cogito ergo sum“. Die Vernunft sollte regieren, wahr ist nur, was klar und einsichtig ist. Gott wird letztlich nicht mehr gebraucht in dieser neuen geistigen Welt. Der Leib dient nur als vergängliche Hülle, auch das Gefühl hat bei der Arbeit des Verstandes nichts mehr zu suchen. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein formuliert für diese Form schriftsprachlicher Rationalität, „dass man nicht außerhalb seiner Sprache denken kann“.

Das Nachdenken über das Verhältnis von Schrift-Sprache und Denken (L) führt zu grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragen:
- Wie beeinflussen Medien die Konstruktion von Realität in der menschlichen Wahrnehmung?
- Wie verändert sich der Mensch, wenn er sich neuer Medien bedient? 

Elektrische Medienrevolution

In der geschichtlich äußerst kurzen Phase von nur einem Jahrhundert kamen nicht nur fotografische Abbilder, sondern auch Filme, das Radio, das Fernsehen und der Computer auf den Medienmarkt. McLuhan hat Mitte des 20. Jahrhunderts die These formuliert, dass die elektrisch vermittelten neuen Audiovisualitäten in ähnlicher Weise ein neues Denken hervorbringen werden wie der Buchdruck: Kommunikationsmedien werden, wenn der Mensch sie sich aneignet, zu einer „Erweiterung“ der Sinnesorgane, zu „Ausweitungen“ des menschlichen Körpers, „extensions of man" (McLuhan). Diese Ausweitung des Körpers durch das neue Medium ist das Wesentliche, „the Medium is the message“: Die Technik eröffnet eine neue Medienwelt, die zunächst mit den alten Inhalten gefüllt wird und  dann früher oder später zur Konstruktion von neuen, ihr entsprechenden Kommunikationswelten führt. Niemand hat in den 1950er Jahren sich vorstellen können, mit welcher Intensität und welchen Inhalten das Fernsehen 40 Jahre später die Gesellschaft prägen würde. McLuhan hat es geahnt: „Denn die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.“ 

Wie machen Medien Geschichte? Das Medium Schrift hat die primäre Laut-Sprache verändert. Vernünftiges Denken ist nur in Schriftsprache „denkbar“. Das Speichermedium (Buch)-Druck ist die Voraussetzung für eine kumulative Organisation des Wissens, für die Entfaltung von Wissenschaft und Vernunft. McLuhan stellt in Analogie dazu die Frage an die moderne Geschichte der Medien:  Wie verändert die „elektrische Medienrevolution“ den Menschen?

    Exkurs: Kritik der neuen Medien aus dem Geist der alten

    In der Zeit McLuhans in der Mitte des 20. Jahrhundert dominierte eine skeptische Bewertung der neuen Medien: Bedeutete die elektrische Multimedia-Gesellschaft nicht das Ende des Buches und damit der Kultur?
    „Wir amüsieren uns zu Tode” in dieser schönen neuen Fernsehgesellschaft, befürchtete Neil Postman in den 1980er Jahren. Sein kulturkritischer Pessimismus war fundamental: Kindheit „verschwindet”, das Fernsehen scheint die Techniken der Verführbarkeit des Menschen zu vollenden, die durch die moderne Form totalitärer Diktaturen schon deutlich geworden ist. Am Ende des Zeitalters der Vernunft und der Aufklärung steht für Postman die Barbarei, das organisierte Verbrechen. Mit Adorno wird von „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen. Die Kulturindustrie füllt das menschliche Vakuum. Der Philosoph Günther Anders hat 1980 ein Buch geschrieben mit dem bezeichnenden Titel „Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution". 
    Die Medienkritik ist ein Teilbereich der Technikkritik. Sigmund Freud hat die Skepsis über den technischen Fortschritt der Menschen mit dem schönen Bild festgehalten: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen." (Das Unbehagen in der Kultur, 1930).
    Mit dem technischen Fortschritt macht sich der Mensch frei von den alten Gottes-Vorstellungen, denkt sich gottgleich, sagt Freud, aber der technische Fortschritt macht den Menschen deshalb nicht glücklicher. Prothesen sind für Freud dabei etwas dem Menschen Äußerliches, „nicht mit ihm verwachsen“.
    Es ist heute noch kaum absehbar, was die neuen Medien aus dem Menschen machen werden. Selten haben die Zeitzeugen von Medienrevolutionen schon begriffen, was sich da entwickelte. Der Philosoph Platon, dessen Schriften wir die Kenntnis der klassischen griechischen Philosophie verdanken, kritisierte erstaunlicherweise die Schrift mit dem Argument, dass sie nur „Buchstabengärtchen“ schaffe, in denen „Schein-Weise“ unbeseeltes Wissen fänden. Er kritisiert die Schrift vom Standpunkt der oralen Gedächtnis-Kultur. Ähnlich sind viele moderne Medientheoretiker den Idealen der Buchkultur verpflichtet, wenn sie die zukünftige multimediale Computergesellschaft zu analysieren suchen.
    McLuhan, der spinnerte Prophet eines neuen Zeitalters, sah das 20. Jahrhundert als eine Übergangsphase, in der die Buch-Kultur (Gutenberg-Galaxis) abgelöst wird. Wo alte Wahrnehmungsschemata noch vorherrschen, herrsche ein
    „Rückspiegel-Denken", das versuche, „die Aufgaben von heute mit den Werkzeugen von gestern und den Vorstellungen von gestern zu lösen" (McLuhan).

Für McLuhan verwächst der Mensch mit seinen jeweiligen Medientechniken - in einer ähnlichen Weise wie er mit der körperlichen „Medientechnik” der Sprache in ihrer oralen und ihrer typografischen Ausprägung verwachsen ist. Weil Kommunikation symbolische Interaktion ist, also zwischenmenschliches Handeln, bieten neue Kommunikations-Medien auch immer neue Interaktions-Dimensionen an, in denen das Selbstbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit geformt wird.

Ohne das elektrische Medium Fernsehen wäre die Frauenemanzipation in den 1960er Jahren nicht denkbar, sagt zum Beispiel Joshua Meyrowitz.  Alle Familienmitglieder, so betont Meyrowitz, hatten mit dem Fernsehen denselben Zugang zu den Informationen über die Politik und sahen dieselben Filme über Liebe und die ritualisierten Streitigkeiten unter Männern (Krimis). Zuvor war die Welt Jahrhunderte lang vor allem durch erzählte Geschichten und Geschichten auf bedrucktem Papier erfahrbar gemacht worden. Kinder hörten andere Texte als Erwachsene, Frauen lasen andere als Männer. Die Techniken des Lesens und Schreibens zu beherrschen bedeutete für eine gebildete Elite Einfluss und Macht. Kultur und Gesellschaft waren davon geprägt. „Literalität” bestimmte den Alltag derGebildeten”.

Neue elektrische Medien, also Film, Radio und Telefon, entwickelten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts als neue Kommunikationsmittel, das Fernsehen schließlich revolutionierte nicht nur die Medien-Landschaft, sondern auch die Familienkommunikation und initiierte einen gesellschaftlichen Umbruch: Allabendlich saß die moderne Familie seit den 1960er Jahren im Halbkreis um die Kathodenstrahl-Röhre, aus der die Themen der Unterhaltung vorgegeben werden. Am Lagerfeuer oder am Tisch mussten die Menschen vorher das Objekt ihrer gemeinsamen Aufmerksamkeit selbst konstruieren. Diese Fernseh-orientierte Form der Gestaltung der (zunehmenden) Freizeit war offensichtlich deutlich attraktiver als die tradierte, die in kaum zwei Jahrzehnten verdrängt wurde.

Das Fernsehen der 1950er Jahre eröffnete den Blick in bisher unbekannte fremde Welten, die mit dem Fernsehapparat direkt in die bisher abgetrennte private Sphäre hinein kamen.

In einer zweiten Phase seiner Entwicklung hat das Fernsehen sich zu einer Sozialisations-Institution entwickelt, die Vorbilder für den Alltag liefert und damit klassische gesellschaftlich Normungsprozesse ablöst. Wie frau kocht und wie das mit der Liebe ist, erfahren Teenager heute aus dem Fernsehen von Star-Köchen und „Sex in the City”, die beschränkte Welt der Eltern muss dagegen langweilig wirken.

Was die Politik angeht, ist das Fernsehen über die Phase „Fenster zur Welt” längst hinausgewachsen. Neben der Politik als Verwaltungshandeln hat sich ein ZweigPolitik als Medien-Show” entwickelt, Talkshows  mit ihren Eigengesetzlichkeiten sind für die öffentliche Meinungsbildung wichtiger als Parlamentsdebatten. Wenn Parteien ganz modern sein wollen, dann richten sie ihre Debattenformen nach den Formaten des Fernsehens.
Während konservative Beobachter die „Politiker in den Fesseln der Mediengesellschaft“ sehen, beschrieb der Soziologe Joshua Meyrowitz, wie erst das Fernsehen eine weitreichende Teilhabe des Wahlvolkes an Details der Politik ermöglicht. Demokratie ist am Ende des 20. Jahrhunderts mehr als die Wahl der Führer durch das Volk. Gleichzeitig verschmilzt der politische Prozess durch die Macht der Medien zur „Mediokratie“ (Thomas Meyer).

Wobei die Tage des Fernsehens in seiner Rolle als Motor und Taktgeber gesellschaftlichen Wandels gezählt sind. Heute ist die Welt im Computer: Der Computer ist in der Schule, am Arbeitsplatz, er ist universelles Lexikon, Spiel-Konsole und Kontaktbörse. Mit dem Handy-Kleincomputer kann jeder inzwischen dieses Instrument am Körper mit sich tragen. Es bindet den Menschen in eine universelle kommunikative Struktur ein, in der jeder Einzelne seine Identität erlebt - unabhängig von seinem jeweiligen physischen „Ort”. Inzwischen gucken Menschen auf ihre jeweiligen Smartphones, während der Fernseher im Hintergrund läuft.

Computer-Menschen

Der Computer und das Internet (das McLuhan nicht mehr kennen gelernt hat) vereinen inzwischen die elektrischen Medientechniken des 20. Jahrhunderts mit den Speicher- und Verbreitungsformen der alten Schriftsprache. Wir erleben die Entstehung eines umfassende Mediums, das nicht nur Ton und Bild, sondern auch die Schrift integriert und gleichzeitig beginnt, die für die überkommenen Massenmedien des 19. und 20. Jahrhunderts typische Trennung von „Sender“ und „Empfänger“ aufzuheben.

Das logische (rationale) Denken hat eine zweckgerichtete Minimierung von Wechselwirkung bedeutet, sagt der Medienwissenschaftler Michael Giesecke. Die Schrift eignet sich schlecht, Gefühle oder gar Unbewusstes zu kommunizieren. Die Komplexität der Welt muss reduziert werden, um dem logischen Schrift-Denken unterworfen werden zu können.

Der universelle Computer löst das Papier ab, verschlingt die technischen Hilfsmittel der Schriftkultur. In den neuen Endgeräten verschmilzt die schriftliche mit der oralen Kommunikation, auch der des Alltags. Und diese Geräte integrieren die visuelle Dimension der Kommunikation - „Selfies” prägen die Selbstbilder und Handy-Videos halten alle Szenen fest, Verbrechen, Katastrophen wie Küsse. Die universellen digitalen Netze ermöglichen eine neue, technisch gefilterte Wechselwirkung der oralen und visuellen Kommunikation unabhängig vom physischen Ort.

McLuhan hat in der Morgendämmerung unserer Fernsehkultur (1953) eine provozierende These formuliert: Die neue Audiovisualität breche mit dem historischen Betrug am Potenzial der menschlichen Sinne. Die Druckkultur blende ganze Bedeutungswelten aus. Neue Medien würden das Versprechen einer breiteren (optischen, akustischen und taktilen) Sinnlichkeit in sich bergen.

Wer sagt, dass sich für die neue Generation von Computer-Menschen nicht die vor dem Bildschirm erlebten Erfahrungen und Gefühlsregungen tiefer in die Seele einschreiben als das Wenige, das sie - nach einer überholten Terminologie - als „real" erleben dürfen?

Hier ich AufmerksamkeitUnser leiblich erlebbarer Alltag wird eintönig und grau vor dem globalen, ja galaktischen Medienzauber oder besser: Der Medienzauber bestimmt den leiblich erlebbaren Alltag. Zu dem mehrstündigen täglichen Fernseh-Konsum kommt die permanente Beschäftigung mit dem Handy hinzu. In der virtuellen Welt kann ich endlich direkt mit meinen Stars leiden, kämpfen und gewinnen, und zwar täglich - wo ich gehe und stehe. Ich kann in Wirklichkeit klein, hässlich und ein Versager sein – das schränkt mich in meinem zweiten, virtuellen Leben und meinen „parasozialen“ Beziehungen nicht ein. 

Die Techniken der alle Distanzen überwindenden Telegrafie, die Sigmund Freud noch als „Prothese“ empfand, sind nach 100 Jahren schon vollkommen selbstverständlich für unser Welt-Erleben geworden. Die Besitzergreifung des globalen Raumes ist durch das Handy abgeschlossen – dass mein Partner gerade in München oder Rom ist, hindert mich nicht daran, ganz normal mit ihm oder ihr so über die Banalitäten meines Alltags zu kommunizieren, wie ich das früher über den Gartenzaun tat. Wenn ich von meinem Nachbarn etwas will, gehe ich ja auch nicht mehr rüber, sondern rufe an bzw. schicke eine SMS.

Der „alphabetisierte Mensch“ könne sich historisch als „Episode" (McLuhan) erweisen, meinte McLuhan. Der universelle Computer hat mit der Erfindung der grafischen Oberfläche (Maus) schon begonnen, die Schriftkenntnisse zu entwerten. Musste man vorher in wochenlangen Kursen die Schrift-Codes der „Computersprachen“ erlernen, so ist die Bedienung inzwischen kinderleicht im wörtlichen Sinne – und universell:
Weil die Codes visuell sind, beherrschen japanische Kinder sie genauso schnell wie europäische.

Die Gehirnforscher sagen uns, dass das menschliche Gehirn keineswegs auf sprachliche Codes „geeicht“ ist, sondern eher „multimedial“ Signale aufnimmt und verarbeitet. Und dass das Unbewusste und Gefühlsmäßige für das Gehirn eine viel größere Rolle spielt als der mit der Schrift-Sprache „gebildete“ Mensch denkt.

Das Gehirn funktioniert gerade nicht wie das rationale Denken der Schriftkultur (Minimierung von Wechselwirkung), sondern wie ein Netzwerk, in dem es keine linearen Prozesse gibt, keine Wirkung ohne Rückwirkung. Im Gehirn sind völlig unlogische Ambivalenzen normal, gefühlsmäßige Erfahrung spielt eine große Rolle und lässt sich durch Bewusstheit kaum kontrollieren. Sigmund Freud hätte an den Fortschritten der Gehirnforschung seine Freude  gehabt. Dass der kulturelle Hintergrund, vor dem unser Gehirn unser Medienerleben interpretiert, noch weiterhin von den Jahrhunderten der Schriftkultur geprägt bleibt, steht auf einem anderen Blatt. (L) Und weil der Bauch beim Denken eine so große Rolle spielt, macht es aber weiterhin einen Unterschied, ob Kommunikationssignale von technischen Apparaten kommen oder von Menschen.

Unter dem Stichwort Brain-Computer-Interface (BCI) arbeiten die Gehirnforscher daran, die elektrischen Signale aus dem Gehirn direkt abzuleiten, im Computer zu „entschlüsseln“ und in Kommunikations-Botschaften umzuwandeln – in einen Code, den Menschen mit ihren Sinnesorganen jedenfalls teilweise erfassen können.

Daraus machen Ärzte Prothesen. Die Kommunikationswissenschaft kann an diesen Forschungen studieren, auf welche Weise akustische, visuelle und taktile Kommunikations-Signale im Gehirn und dann - teilweise - auch im Bewusstsein des Menschen „ankommen“.  Noch ist es Theorie und Film-Fiktion, dass eines Tages die Sinnesorgane umgangen, ersetzt - und erweitert werden können. Noch scheint die Schriftkultur das wesentliche Medium, auch bei der Arbeit an den Technologien der Zukunft.

 

Nähere Ausführungen zu diesen Fragestellungen
finden sich in den einzelnen Texten dieser Webseite

I  Texte zur Mediengeschichte

II  Texte zum Verhältnis von Medien und Politik

III  Texte zur Medientheorie