Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


Links zu den Abschnitten

III
Medien-
Theorie

Enzensbergers „Baukasten zu einer
Theorie der Medien“ (1970)


Hans-Magnus Enzensberger knüpft in den frühen 1970er Jahren an Brechts Aussagen aus den 1920er/30er Jahren an. Unter Rückbezug auf Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) formuliert er in seinem Medienbaukasten im kämpferischen 68er-Ton:
„Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseins-Industrie zum Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden“

Ähnlich wie Brecht, allerdings erheblich schärfer, weist er der aktuellen Erscheinungsform der Medien eine repressive Funktion zu:

„Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.
Dieser Sachverhalt lässt sich aber nicht technisch begründen. Im Gegenteil: die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger. Jedes Transistorradio ist, von seinem Bauprinzip her, zugleich auch ein potentieller Sender; es kann durch Rückkopplung auf andere Empfänger einwirken.“
Er meint allerdings, dass den Medien ein erhebliches progressives Potenzial zukomme:
„Das offenbare Geheimnis der elektronischen Medien, das entscheidende politische Moment, das bis heute unterdrückt oder verstümmelt auf seine Stunde wartet, ist ihre mobilisierende Kraft.“

Denn:
„Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen; die Programme selbst sind immateriell und beliebig reproduzierbar. Damit stehen die elektronischen im Gegensatz zu älteren Medien wie dem Buch oder der Tafelmalerei, deren exklusiver Klassencharakter offensichtlich ist. Tendenziell heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien, damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz auf. Hier liegt einer der Gründe für das Ressentiment vermeintlicher Eliten gegen die Bewusstseins-Industrie. Der Geist, den sie gegen »Entpersönlichung« und »Vermassung« zu verteidigen trachten – je schneller sie ihn aufgeben, desto besser.“

In einem – eigentlich verblüffend hellsichtigen – Vorgriff auf die Technologien der späten 1980er Jahre erkennt Enzensberger:
„Hinweise zur Überwindung dieses Zustandes könnten netzartige Kommunikationsmodelle liefern, die auf dem Prinzip der Wechselwirkung aufgebaut sind: eine Massenzeitung, die von ihren Lesern geschrieben und verteilt wird, ein Videonetz politisch arbeitender Gruppen usw.“

Im Jahre 2000 hat Enzensberger seinen eigenen „Baukasten“ für eine Theorie der Medien skeptisch betrachtet: „Wohl gesprochen zu einer Zeit, da vom Internet noch keine Rede war“, formulierte er in seinem Spiegel-Essay gegen das „Das digitale Evangelium“ (10.1.2000).

Enzensberger 2000 über Enzensberger 1970: „Doch führte der Versuch des Verfassers, die Medienpraxis zu überholen, zu allerhand Erwartungen, die heute naiv anmuten. Ganz im Sinn der marxistischen Theorie hegte er ein unbegrenztes Zutrauen in die berühmte ‚Entfaltung der Produktivkräfte’, eine materialistische Variante der christlichen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung. Vielleicht empfiehlt sich 30 Jahre später eine gewisse Nüchternheit.“

Ganz einfach benennt er, was die „emanzipatorischen Kraft der neuen Medien“ begrenzt: „Nicht jedem fällt etwas ein, nicht jeder hat etwas zu sagen, was seine Mitmenschen interessieren könnte. Die viel beschrieene Interaktivität findet hier ihre Grenze.“

Zwar triumphieren auf Tausenden von Homepages Eigenbrötlerei und Dissidenz. Keine Nische, kein Mikromilieu, keine Minorität, die im Netz nicht ihre Heimstatt fänden. Die Veröffentlichung, im Gutenberg-Zeitalter ein Privileg Weniger, wird zum elektronischen Menschenrecht, nach dem Motto: Samisdat für alle. Das erklärt die Angst der Macher vor dem Netz in diktatorisch verfassten Gesellschaften wie Iran oder China.“

Bloße Daten sind keine sinnvolle Information, sagt Enzensberger, die neuen Medien haben überwiegend „Datenschutt und Splitter“ anzubieten – ein „unvorstellbar großer elektronischer Schrotthaufen“.

„Die digitalen Evangelisten werden nicht müde zu behaupten, dass die neuen Medien die Unterscheidung zwischen Realität und Simulation hinfällig gemacht haben. Ein derartiger Grad von Weltfremdheit ist natürlich nur im Seminar, im Labor und im Science-Fiction-Film denkbar.“

„Auch wenn die Gotteshäuser leer sind und die Bauernhäuser sich in Ferienwohnungen verwandeln, spricht manches für den Rat, die Kirche im Dorf zu lassen. Medien spielen eine zentrale Rolle in der menschlichen Existenz, und ihre rasante Entwicklung führt zu Veränderungen, die niemand wirklich abschätzen kann. Medienpropheten, die sich und uns entweder die Apokalypse oder die Erlösung von allen Übeln weissagen, sollten wir jedoch der Lächerlichkeit preisgeben, die sie verdienen. Die Fähigkeit, eine Pfeife vom Bild einer Pfeife zu unterscheiden, ist weit verbreitet. Wer Cybersex mit Liebe verwechselt, ist reif für die Psychiatrie. (…) Es gibt ein Leben diesseits der digitalen Welt: das einzige, das wir haben.“