Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien-
Theorie

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

3 AS neu 200

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at)wolschner.de

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im „Jahrhundert des Auges“

3 VR neu 200

ISBN 978-3-7375-8922-2
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at) wolschner.de

Vorsicht Kinder IV:

Gute Schule – Lernen lernen

2013

Der Marburger Gehirnforscher Henning Scheich hat nach dem ersten Pisa-Schock die Frage aufgeworfen, wie es sein kann, dass nach Jahrzehnten der Bildungsreform das deutsche Schulsystem „zu wenig Spitzenleistungen und eine hohe Versagerquote“ produziert: „Ein Organismus, der die unterschiedlichen Interessen, Motivationen, Lernfähigkeiten und Begabungen heutiger Schüler integrieren kann, ist diese Schule kaum.“ Offenbar, so Scheich, stimme etwas nicht mit der „Lernsituation in der Schule".

Pädagogen und Psychologen haben unterschiedlichste Erfahrungen formuliert und verallgemeinert. Viele der Erfahrungen wurden nur unzureichend umgesetzt – das beginnt bei dem ganz offensichtlichen Thema Schularchitektur. Jeder weiß, dass der Lernraum der „dritte Lehrer“ ist. In Kindergärten und in vielen Grundschulen werden solche Erkenntnisse berücksichtigt – in den meisten weiterführenden Schulen nicht. Was Raumgröße, Licht, Akustik und Farbgestaltung angeht sind die meisten Schulräume da immer noch ignorante alte Pauker.

Pädagogische Erfahrungen sind oft kontrovers. Da geben Kognitions-Psychologie und Gehirnforschung neue Kriterien an die Hand, um zu bewerten, um die Plausibilität solcher Erfahrungen zu bewerten. Zum Beispiel bestätigen sie, dass kognitive und emotionale Faktoren beim Wissenserwerb eng zusammenwirken. Gänzlich falsch wäre die Vorstellung vom Lernen als reiner Informationsverarbeitung oder vom Gehirn als Datenspeicher, dem das didaktische Konzept „zuerst kommt das Grundlagenwissen“ explizit oder implizit folgt.  

Warum wir lernen

„Ohne Emotionen und Motive gibt es kein Lernen.“ (Roth) Kinder lernen, was ihnen eine Belohnung verspricht – durch eine der emotionalen Bezugspersonen oder eine selbst fabrizierte intrinsische Belohnung. Sie lernen, was Nachteile oder Strafe vermeiden hilft. Sie lernen, was nützlich ist und glücklich macht. Wichtig dabei ist die Vertrauenswürdigkeit der  Bezugsperson – aber auch der Prozess der individuellen Bedeutungskonstruktion. Nichts ist so erfolgreich wie Erfolg. Die Zuschreibung der Kausalität des Erfolges ist entscheidend für die Motivation – der Mensch ermutigt sich selbst. Entscheidend ist Belohnungserwartung – dass sie „als verdient empfunden“ wird. Durch „Früchte, die einem in den Schoß fallen“, wird das Gehirn kaum motiviert.

Das Gehirn lässt sich nicht nur von Belohnungserwartung motivieren, besonders effektiv auch von etwas Stress: „Leichter Stress ist notwendig, um Körper und Gehirn für die Auseinandersetzung mit und Bewältigung von Problemen und Gefahren zu rüsten“ (Roth), milder Stress erhöht die synaptische Plastizität bei der Einspeicherung neuer Gedächtnisinhalte.

Die Grenze ist nicht starr zu definieren. Wer sich ständig überfordert oder überfordert sieht, frustriert durch ständige Misserfolge sein internes Belohnungssystem. Nichts motiviert gleichzeitig so sehr wie das Überwinden von Misserfolgen. Mindestens genauso wichtig für den späteren Lernerfolg wie die Intelligenz sind Durchhaltevermögen und Fleiß, die Selbstmotivation, das  Zielbewusstsein.

Das Besondere der menschlichen Kultur liegt darin, dass sie Heranwachsenden einen ganzen Kanon systematischen Faktenwissens vermittelt, das über Generationen gesammelt wurde und keine individuelle Relevanz zu haben scheint. „Dies steht im Widerstreit zu den biologischen Randbedingungen, unter denen die Lernsysteme des Gehirns entstanden sind und für die sie optimal ausgelegt sind.“ (Scheich)

Wie wir lernen

Schon in den letzten Wochen der Schwangerschaft vermitteln sich „emotional-affektive Zustände der Mutter in das Gehirn des Fötus“ (Roth), der Fötus nimmt auch die mütterliche Intonationsweise auf. Schon der Säugling bevorzugt Gesichter, sein erstes Lächeln signalisiert seine Kommunikationserwartung. Ein Kleinkind lernt in einem ungeheuren Tempo – nichts davon bleibt in dem Bereich des Langzeitgedächtnisses, der später dem Bewusstsein zugänglich ist. Insbesondere die emotional prägenden Erfahrungen verbleiben unbewusst. 

Das Arbeitsgedächtnis („working memory“) ermöglicht die vorübergehende Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Die Effektivität des  Arbeitsgedächtnisses ist eine wesentliche Komponente der Intelligenz, denn das Arbeitsgedächtnis stellt den zentralen Faktor bei praktisch allen komplexen kognitiven Leistungen dar.

Schon ab dem zweiten Lebensmonat bildet sich das Arbeitsgedächtnis – mit einer Aufmerksamkeits-Spanne von bis zu drei Sekunden. Das Arbeitsgedächtnis hat auch beim Erwachsenen eine sehr begrenzte Kapazität. Entscheidend ist daher, welche Inhalte wie aus dem Arbeitsgedächtnis in das Langzeitgedächtnis übergehen. Das Ausmaß des „Vergessens“ ist u.a. abhängig von emotionaler Besetzung und Sinnhaftigkeit des Gelernten. Folgt auf eine Lektion von trockenem Faktenwissen ein emotional aufregender Filme, so kann man davon ausgehen, dass die Inhalte des Arbeitsgedächtnisses regelrecht „überschrieben“ werden.

Aufmerksamkeit

Das Gehirn muss sich schützen vor der Überfülle von Informationen. Informationen werden auf ihre Bedeutung hin fokussiert: Was ist wichtig, was gefährlich? Was weicht vom Erwarteten ab? Ein Sinnesreiz verschwindet nach 5 Sekunden aus dem Kurzzeit-Gedächtnis, wenn er nicht die Aufmerksamkeit erregt – d.h. aktiv fokussiert wird. „Aufmerksamkeit ist ein Mittel unseres Gehirns bzw. unseres Geistes, mit der großen Fülle von Informationen fertig zu werden“. (Roth)

Dabei ist auch Aufmerksamkeit eine beschränkte Ressource:  „Je mehr Dinge und Ereignisse wir gleichzeitig beachten, desto geringer ist die Detailauflösung“. (Roth)  Aufmerksamkeit reicht wenige (3-5) Minuten – dann verschafft sich das Gehirn eine Pause. „Intelligentere Menschen haben ein effektiveres Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis“ (Roth)

Nur aufmerksam Erlebtes kann bewusst wahrgenommen werden. Aufmerksamkeit ist situationsbedingt – und Persönlichkeitsbedingt. Es gibt eine Disposition zu mehr oder weniger „innere Aufmerksamkeit“, die sich als Neugier äußert.

Kinder können früh Aufmerksamkeit und Zielorientierung lernen. Zum Beispiel beim Memoryspiel schlagen sie oft ihre Großeltern, weil ihre Kurzzeit-Gedächtnisleistung denen von Erwachsenen überlegen ist. Kinder, die früh Schach spielen gelernt haben, bleiben ihren Klassenkameraden, die später anfangen, deutlich überlegen in der Fähigkeit, Muster zu erkennen. Das Schach-Spiel ist dabei besonders effektiv, weil es immer Handeln einfordert und unmittelbare Erfolgskontrolle des Handelns ermöglicht.

Gedächtnis und Bewusstsein

Neue Informationen werden zunächst für wenige Stunden im Kurzzeit-Arbeitsgedächtnis gespeichert. Die Übertragung ins Langzeitgedächtnis passiert über molekulare Signalketten in Nervenzellen, die schließlich eine Verstärkung von Kontaktstellen zwischen den Zellen, das heißt der Synapsen, bewirken. Das Speichern ins Langzeitgedächtnis ist aufwändig, weil neue Nervennetzwerke angelegt werden müssen. Es braucht Zeit, Stoffwechselenergie und ausreichende Plastizität.

„Diese unbewussten Prozesse laufen in mehreren Wellen innerhalb eines Tages ab. Während der Kurzzeitspeicher für neue Informationen immer wieder frei gemacht werden kann, überlagern sich die nachfolgenden molekularen Langzeitprozesse für alle Informationen eines Tages.“ (Scheich)  Wird ein Thema nach einigen Stunden wiederholt, konsolidiert sich das Gelernte im Arbeitsgedächtnis – und hat größere Chancen, ins Langzeitgedächtnis übertragen zu werden. Das Gehirn braucht also Wiederholung, Strukturierung – und fächerübergreifende Problematisierung („Einbettung“ des neuen Wissens in bekannte Wissensstrukturen). Besonders effektiv ist die aktive Verwendung neu zu lernendem Wissens: „Die Übertragung ins Langzeitgedächtnis ist selektiv besser für neue Erfahrungen, wenn sie angewendet werden. Die dabei auftretenden Konsequenzen Erfolg oder Misserfolg sind beide nicht nur wichtige Motivationsfaktoren, sondern beeinflussen auch die Verankerung im Gedächtnis.“ (Scheich)

Neue Informationen können die Langzeitverankerung einer Information fördern – oder stören. „Verstärkend wirkt die Beschäftigung mit denselben oder ähnlichen Informationen nach einer längeren Pause. Dies ist wahrscheinlich der Mechanismus, der anspruchsvollen Hausaufgaben oder einer entsprechend organisierten Ganztagsschule einen tiefen Sinn gibt. Konkurrieren umgekehrt zu viele unterschiedliche Informationen, die wahllos im Laufe des Tages aufgenommen wurden, um die Abspeicherung, so verwässern sie sich gegenseitig. Eine solche negative Auswirkung hat wahrscheinlich ungebremster Fernsehkonsum.“ (Scheich)

Erlebnishaft-episodisch erfahrenes Wissen bleibt schneller und nachhaltiger hängen als reines Faktenwissen. „Das Arbeitsgedächtnis versucht, das Neue mit bereits Bekanntem zu einem sinnvollen Ganzen  zusammenzufügen“. (Roth) Verfügbarkeit einer intelligenten Wissensbasis ist daher die Voraussetzung für effektives Lernen. Kinder, die zu Beginn eines Kindergarten- oder Schuljahres viel (Vor-)Wissen mitbringen, haben bessere Chancen, Neues dazuzulernen.

Und: Auch in Schlafphasen konsolidieren sich Gedächtnisinhalte. Das gilt natürlich nur für Inhalte, die bewusst (explizit) gelernt worden sind. Das Gehirn komprimiert das Wissen, sofern es nicht erneut aktiviert wird. Und konfabuliert Kontexte. Ein Mittagsschlaf ist als Erholungsphase nützlich, und guter Nachtschlaf unerlässlich für das Lernen. Auch Ganztagsschulen müssen echte Pausen ermöglichen und nicht nur gruppendynamische Stress-Phasen auf dem Schulhof.

Viele Informationen werden unbewusst verarbeitet. Vieles ist der sprachlich-bewussten Beschreibung nicht zugänglich. „Unser aktuelles Bewusstsein – also das, was wir im Augenblick ‚präsent’ haben - ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem, was wir insgesamt erleben und in unserem Langzeitgedächtnis niedergelegt ist.“ (Roth)

Bewusstsein ist etwas, das zu ganz unterschiedlichen Inhalten hinzutritt, ein Typ der Verarbeitung dieser Inhalte.

Praktische Schlussfolgerungen für die Schule (nach Roth)

Wenn Wissen elektronisch überall und umfassend verfügbar ist, ist eine neue „Priorisierung von Wissen“ notwendig. „In der Flut von unverbindlichen Informationen scheinen zurzeit bei vielen Kindern Motivationen und interne Belohnungsmechanismen leer zu laufen.“ (Scheich) Der Förderung der Schülerpersönlichkeit kommt „mindestens ebenso große Bedeutung zu wie der Wissensvermittlung“ (Roth).

Entscheidend für die Lernmotivation sind:
- Beherrschung der Sprache als Basis für fachliche und emotionale Kommunikation (null Sprachtoleranz in der Früherziehung)
- Die Vertrauenswürdigkeit des Lehrenden. (Lehrer müssen in Lehrerteams kooperieren.)
- Die Umwelt-Bedingungen des Lernortes (Raumbedingungen).
- Die Lern-Persönlichkeit.
- Das Interesse am Lerninhalt.
- Die Aufmerksamkeit (Didaktik)
- Regelmäßige persönliche Aussprache mit SchülerInnen unter vier Augen
- Reduktion der Unterrichtsinhalte
- Überprüfung des Vorwissens der Schüler
- Frontalunterricht ja – aber nicht länger als 30 Minuten
- Projektunterricht hilft den Begabten mehr als den weniger Begabten
Eigenständiges Lernen

„Nichts enthüllt … die eigenen Lerndefizite so sehr wie der Zwang, die Ergebnisse anderen vermitteln zu müssen.“ (Roth)
Wichtig ist: Wechsel der Lernformen

Wegen der Begrenztheit des Arbeitsgedächtnisses kommt es an auf
- auf eine systematische Wiederholung des Stoffes,
- auf die Strukturierung und Gliederung des Lernweges, Zusammenfassungen,
- auf ein visuelles Arrangement der Lerninhalte

„Jedes Gehirn lernt nur dann bereitwillig, wenn es den Sinn des Lernens begreift und wenn es eine Belohnungserwartung damit verbindet. Dabei geht die stärkste Belohnung von der Erfahrung der Selbstwirksamkeit aus.“

    s.a. die Texte

1. Frühpädagogik - wie Kinder lernen

2. Frühkindliche Erziehung und Persönlichkeitsbildung

3 Vorsicht Bildschirm - Kinder brauchen medienfreie Zonen

    Literaturhinweise:
    Henning Scheich, „Biologische Randbedingungen optimalen Lernens: Die Rolle von Erfolg und Misserfolg", Vortrag vor dem Hanse Wissenschaftskolleg 8. März 2002
    Gerhard Roth, Bildung braucht Persönlichkeit (2011)
    Gerhard Roth, Lehrerakademie. Wie lernen gelingt (2010)