Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien-
Theorie

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

3 AS neu 200

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at)wolschner.de

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im „Jahrhundert des Auges“

3 VR neu 200

ISBN 978-3-7375-8922-2
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at) wolschner.de

Notizen zur Kulturgeschichte der Zahlen

2017

Die Schrift hat sich zu einem gemeinsamen Medium entwickelt für zwei zunächst vollkommen getrennte „orale“ Fähigkeiten: für die Lautsprache einerseits und für das Kopfrechnen mithilfe der Finger andererseits. Offenbar gab es zunächst schriftliche Erinnerungs-Zeichen für Zahlen, die aber keine Rechenhilfe darstellten.

Wichtiger als die praktisch orientierten Ägypter waren für die Geschichte des Zahlenrechnens die Völker, die weiter im Osten zwischen Euphrat und Tigris lebten, die Sumerer, die durch die semitischen Akkader überwältigt wurden um 2.300 v.u.Z., und dann die Babylonier, die die sumerische Tradition des Zahlenrechnens weiterführten.
 

Buchhalter erfanden die Zahlenschrift:
Die ersten Zahlen im Lande zwischen Euphrat und Tigris

Zahlsymbole sind erfunden worden, um Reichtum zu verwalten. Die ältesten bekannten Schriftformen von Zahlen sind auf Tontäfelchen entdeckt worden, die vor 3.000 v.u.Z. am Persischen Golf im unteren Mesopotamien und im Lande Elam geprägt wurden. Elam lag auf dem Gebiet des heutigen Iran im Osten des Landes Sumer. Die Entstehung dieser Schriftzeichen wird auf das Ende des vierten Jahrtausends datiert. Zwei sehr unterschiedliche Schriftzeichen-Systeme  entstanden in zwei benachbarten Regionen mit ähnlichen Kulturen. „In beiden Fällen scheint die Schrift ausschließlich aus Gründen der Nützlichkeit erfunden worden zu sein“, fasst der Zahlen-Historiker Georges Ifrah zusammen. Offenbar reichten für die Bewohner der großen Siedlungen  von Sumer und Elam die mündlichen Verabredungen „unter Zeugen“ nicht mehr aus, um Vereinbarungen dauerhaft zu treffen. Bei diesen Tontäfelchen sind manchmal sogar auf beiden Seiten Vertiefungen unterschiedlicher Größe und Form durch ein Werkzeug in den noch feuchten Lehm eingedrückt wurden, offenbar vor allem Zahlzeichen, deren gegenständlicher Bezug mit schematischen Zeichnungen - mit einer Spitze in den frischen Lehm eingeritzt - erklärt wurde.

Sumerische Zahlentafeln

Mit solchen Täfelchen wurden Menge und Zusammensetzung von Waren erfasst.  (Links: Vorderseite, rechts: Rückseite)

Vorläufer der Art der „Buchführung“ waren Tongefäße, in denen um kleine Gegenstände aus ungebranntem Ton aufbewahrt wurden, die an den verbreiteten Gebrauch von Kieseln zum Zählen erinnern. Anzahl und Form standen offenbar für Zahlenwerte. Das Gefäß mit seinem Inhalt wurde gebrannt und gesiegelt. Wenn die Inhalte dieser Gefäße die Vermögenswerte des Besitzers dokumentierten, dann konnte eine Kontrolle nur durch Zerstörung des Gefäßes stattfinden.  Ausgrabungen, die auf die Zeit zwischen 3500 und 3300 datiert werden, haben die Nutzung solcher Tongefäße für Elam wie für Sumer bestätigt.

Als Zeichen einer zweiten Phase gelten Tongefäße, bei denen zusätzlich außen die im Inneren dokumentierten Zahlen durch Kerben unterschiedlicher Form außen symbolisiert wurden. So wurden die Zähl-Gegenstände im Inneren letztlich überflüssig und konnten durch gesiegelte Ton-Täfelchen abgelöst werden.

Bei diesen Zahl-Zeichen handelt es sich noch nicht um Schrift, sondern um Zahl-Symbole, deren Bedeutung durch beigefügte schematische Piktogramm-Zeichen erklärt wurden und deren Sinn eigentlich durch das mündliche Wissen der Vertragspartner erschlossen werden musste. Die Zeichen lassen nicht erkennen, was gekauft oder was verkauft worden war oder werden sollte oder wer wem was anvertraut hat.

Erst nach der Wende zum dritten Jahrtausend tauchen Zahlzeichen im Kontext von Schrift auf und schließlich nehmen die Schriftzeichen mehr Raum ein als die Zahlzeichen. Die Schriftzeichen nehmen gleichzeitig abstraktere Formen an, die nicht mehr einen eindeutigen Bezug auf Objekte haben. Offenbar wurden mit dieser ur-elamischen Schrift Laute wiedergegeben, diese Schriftzeichen sind  erst bruchstückhaft entziffert worden.

Sumerische Schrifttafel  3000

 

 

 

 

 

 


Sumerische Schrifttafel aus Mesopotamien 
(ca. 3000 v.u.Z.): 
Die in Proto-Keilschrift verfasste Tafel gehört zur Gruppe der ältesten Schriftzeugnisse der Erde. Sie enthält Angaben zur Herstellung verschiedener Getreideprodukte.


 

Im Vergleich zu der elamischen Schrift zeigen die ältesten sumerischen Tontäfelchen einen systematischeren Versuch,  gesprochene Sprache aufzuzeichnen. Aber auch die frühe sumerische Schrift ist nicht mehr als eine Gedächtnisstütze – man muss das Thema und den Kontext kennen, um sie entziffern zu können. So werden  Ochse, Esel, Schwein oder Hund durch Zeichen dargestellt, die zwar den Kopf des Tieres wiedergeben.
Frühe sumerische Schriftzeichen
Die Frau wurde durch die Zeichnung einer dreieckigen Scham wiedergegeben, eine Zeichnung des Penis meinte offenbar „befruchten“.

Frühe sumerische Schriftzeichen

Ein aus einem Stern abgeleitetes Piktogramm stand für Himmel mit der Assoziation auf Gott. Ein Bein konnte für „marschieren“ stehen oder auch für „gehen“ oder „stehen“, die aufgehende Sonne für „Tag“, „Licht“ oder „Helligkeit“. Zwei parallele Striche standen für den „Freund“ oder „Freundschaft“, zwei überkreuzte Linien für „Feind“ oder „Feindschaft“. Solche Schriftzeichen sind nicht entzifferbar für Betrachter, die die keinerlei Kenntnis davon hatten, um welche Vorgang es gehen könnte. Die sumerische Schrift blieb so trotz der Verbesserungen der Lautdarstellungen im mittleren dritten Jahrtausend eine Gedächtnisstütze.

Sumerische Zahlzeichen nach KAPLAN

Die sumerischen Zahlzeichen

 

 

 

 

Ursprünglich hatten die Sumerer ein Zehnersystem. Irgendwann zwischen 3.000 und 2.800 ist dieses System durch ein Sexagesimal-System mit der 60 als Bündelungsgröße abgelöst worden. 60 sumerische Schekel waren ein Mine und 60 Minen ein Talent.

Die akkadischen Eroberer haben das Sexagesimal-System übernommen – es muss große Vorteile geboten haben. Auch die Babylonier hielten dieses Zahlensystem im ersten Jahrtausend noch bei. Sogar Ptolemaios rechnete damit – immerhin um 280 u.Z. Heute übrig geblieben ist die Einteilung der Stunde in 60 Minuten und Sekunden sowie des Kreises in 360 Grad. Was konnte dieses Sexagesimal-System attraktiv erscheinen lassen? Für das Rechnen mit kleineren Zahlen ist das körperlich mit den Fingern repräsentierbare Dezimalsystem praktischer. Für den Evolutions-Psychologen Friedhart Klix liegt das auf der Hand: Wenn man nicht über ein Positionssystem und die „Null“ verfügt, ist das Sexagesimal-System besser geeignet, um große Zahlen darzustellen. 60-er Bündel sind genial einfach teilbar, durch 2,3,4,10, 15, 20, 30. Das Sexagesimal-System schafft „kognitive Übersichtlichkeit“ (Friedhart Klix).
Für die Sumerer bedeutete also 3x60+2   3 x 60 + 2 und  2x60+5  2x60 + 5. Auch die Größe der Zeichen hatte eine Bedeutung: Der Unterschied zwischen   62   und 3 war der zwischen 62 und drei. Der größere erste Keil musste hier als 60 gelesen werden.

Solche Mehrdeutigkeiten haben die schriftliche Darstellung von Zahlen sicherlich mühsam gemacht, aber erst im letzten Jahrtausend v.u.Z. begannen die Babylonier, das Zeichen 0  , das als Trennungszeichen im Kontext von Schrift verwendet worden war, anstelle der Leere zur Trennung von Zahlzeichen zu verwenden: 7205 bedeutet dann 2x60² + 0x60 + 5, also 7205. Solche Positionszeichen für „nichts” machten die Schreibweise von Zahlen weniger missverständlich. Diese Symbole wurden aber nicht am Ende einer Zahlendarstellung verwendet, sie wurden nicht als Zahl verstanden, sie konnten somit die Zahlendarstellung, aber nicht das Rechnen der Babylonier erleichtern.

In ihren astronomischen Darstellungen gingen sie davon aus, dass hinter den Zahlenverhältnissen grundlegende Gesetzmäßigkeiten in der Natur stehen müssten. Damit war klar, dass das Jahr 360 Tage haben muss, um die Abweichung zu erklären, unternahmen sie große Anstrengungen. Zur kalkulierbaren Zahl wurde die Null erst tausend Jahre später in Indien. Dort diskutierten Mathematiker sogar die Frage, ob durch Null geteilt werden könne – und wenn ja, mit welchem Ergebnis. 

Die Zahlzeichen der Ägypter

Die Ägypter entwickelten erst nach den Sumerern ihr Schriftsystem der Hieroglyphen. Ihre frühesten Ziffernsysteme lassen erkennen, dass sie die Aufhäufung von Kieselsteinen oder anderen Gegenständen direkt auf die schriftlichen Symbole übertrugen. Diese ägyptischen Hieroglyphen-Ziffern ermöglichen Additionen, andere Rechenoperationen sind sehr kompliziert. Das erklärt die große Ehrfurcht, die man den Rechenkünstlern entgegenbrachte, denen man oft übernatürliche Fähigkeiten zuschrieb.
Im klassischen Ägypten entwickelte sich der Bedarf für das Zahlenrechnen immerhin so weit, dass  ein Aufseher den jährlichen Getreidebedarfs von 37 Arbeiterinnen ausgerechnet haben wollte. Überliefert ist die Frage eines ägyptischen Bauleiters, welche Menge von Ziegeln er für den Bau einer bestimmten Rampe anfordern müsse.  Die „Schreiber“, die so etwas - mühsam genug - ausrechnen konnten, standen hoch im Sozialprestige, sie beherrschten eine geheime Kunst und galten als Mittler zwischen dem Volk und den Priestern beziehungsweise den Gottkönigen.

Die ägyptischen Schreiber rechneten additiv, sie hatten weder ein Stellen- noch ein Positionssystem bei der Darstellung ihrer Zahlen, das bedeutete: Um eine bestimmte Menge aufzuschreiben, mussten sie Einzelzeichen notiert werden, die dann summiert wurden, um die Zahl „lesen“ zu können. Es gab besondere Zeichen für einzelne größere Zahlenwerte, die Million wurde hieroglyphisch zum Beispiel symbolisiert durch das Zeichen für den Gott der Lüfte.

Immerhin gelang ägyptischen Rechnern die Berechnung des Kegelstumpfes. Und auch die Berechnung kreisförmiger Umrandungen gelang ihnen erstaunlich gut, für den seit dem 17. Jahrhundert als „π“ gelδufigen Rechenwert, den man zur Berechnung von Brunnenumrissen, Mahlsteinen oder Wasserrδdern braucht, kamen sie auf die Zahl 3,16. Fόr ihre Praktischen Bedόrfnisse war das vollkommen ausreichend.

Griechische Zahlen-Philosophie

Auf dem Gebiet des Zahlenrechnens gab es in der griechischen Kultur wenig Entwicklung. Noch um 500 v.u.Z. benutzten sie Griechen die Buchstaben als Symbole für die Zahlen verwendet, was zum Rechnen keine Hilfe war und die Eindeutigkeit der Schrift-Dokumente sogar eher verringert hat, wenn darin Zahlen vorkamen. Aber die griechischen Geometer haben angefangen, mit ihren Buchstaben als Platzhalter für „unbekannte“ Zahlen zu rechnen.
Die ersten neun bezeichneten die Einer, die zweiten neun die Zehner, danach kamen die Hunderter. Die Tausender hatten einen  Unterstrich.  Manchmal sind in griechischen Texten die Buchstaben überstrichen, um sie als Zahlen zu kennzeichnen.
Für den praktischen Gebrauch wurde kaum schriftlich gerechnet, Papier war teuer, man benutzte das Rechenbrett oder für den alltäglichen Gebrauch die zehn Finger. Ptolemaios (um 150 n. Chr.) nutzte bei seinen astronomischen Bestimmungen noch immer das Sexagesimal-System.

Die griechischen Philosophen waren an den praktischen Bezügen der Mathematik weniger interessiert. Sie abstrahierten die Zahlendarstellung so weit von den Objektbezügen, dass Zahlen selbst Gegenstand des Nachdenkens werden konnten. Sie begründeten damit Arithmetik, Algebra und Geometrie als Metaebene des Denkens und als eigenständige mathematische Wissensgebiete.

Pythagoras war, so wird berichtet, war von den ganzzahligen Verhältnissen zwischen den Tonhöhen und der Saitenlänge so fasziniert, dass er behauptete, der Schöpfergott müsse ein Mathematiker gewesen sein. Nicht nur die harmonischen Klänge waren nach einfachen Zahlenverhältnissen geschaffen, auch der Lauf der Gestirne schien ja in seiner Präzision reine Mathematik zu sein.

Auch Thales von Milet glaubte daher, dass man die Welt berechend, also unbezweifelbar eindeutig verstehen kann. Wenn „alles Zahl“ ist, dann geben Zahlen Einblicke in die Geheimnisse der göttlichen Mystik. Nach einer der großen Erzählungen der griechischen Antike hat der Mathematiker Thales von Milet die Verfinsterung der Sonne prognostiziert – und damit die Überlegenheit und den Sieg der Lyer, weil die entsetzten Gegner, die Meder, die plötzliche Verfinsterung des Himmels als Zeichen der Götter verstanden und ihre Waffen entsetzt fallen ließen. Die rechnende Vernunft, Logos, zeigte ihre Überlegenheit über das vormathematische mythische Denken.
In seiner Schrift Politeia erklärte Platon, in seinem idealen Staat sollten 5.040 freie Bürger leben. Warum genau diese Zahl 5040? Das ist das Produkt der ersten sieben Zahlen, 1x2x3x4x5x6x7.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde der Pythagoreer, der erkannt hatte, dass die Diagonale eines ganzzahligen Quadrats nicht durch eine ihrer rationalen ganzzahligen Werte auszudrücken war, aus dem Kreis der Pythagoräer ausgeschlossen, so berichtet der griechische Philosoph Iamblichos von Chalkis.

Philolaos von Kroton war davon überzeugt, dass es zehn um ein Zentralfeuer kreisende Himmelskörper geben müsse, weil die Zahl zehn ihm heilig erschien -  und so postulierte er, dass es neben Erde, Mond, Sonne und den fünf damals bekannten Planeten noch eine „Gegenerde“ geben müsse.

Zahlenschrift der Griechen

Zu Zeiten Homers hatten die Griechen Bündel von zehn oder fünf beziffert und benutzten den ersten Buchstaben der Wörter dieser Gruppierungen als Zahlensymbole, also H für Hekaton (100), D für Deka (10) und P für Pente (5). Sie notierten von rechts nach links. Die Zahl 318 würde in dieser Schrift in griechischen Buchstaben so notiert: „HHH Δ П І І“, also 300 + 10 + 5 + 3.
Im klassischen Athen wurden dann die ersten neun 24 Buchstaben des griechischen Alphabets fьr die Einer verwendet, die Buchstaben 10 bis 19 für die Zehner 10-90 und die dritte Neunergruppe – das Alphabet musste für diesen Zweck erweitert werden - für die Hunderter (100-900).

Die Griechen kannten weder ein Positionssystem noch die Null als Zahl, obwohl sie auf die babylonische Tradition stießen, als sie unter Alexander 331 v.u.Z. bis zum Euphrat vorstießen und nicht nur Gold und Frauen als Beute heimbrachten, sondern auch kulturelle Reste des babylonischen Reiches. So findet sich in astronomischen Papyri aus dem 3. Jahrhundert der leere Kreis als Symbol für das Nichts. Das ist die Zeit, in denen Aristarch von Samos (310-230 v.u.Z.) eine Abhandlung „über die Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes“ schrieb und darin, fast 2.000 Jahre vor Galilei Galilei, feststellte: „Planeten und Erde kreisen um die Sonne und nur der Mond um die Erde, die um sich selbst rotiert.“ Die Griechen entwickelten weder eine Positionsschreibweise mit Stellensystem für Zahlen noch ein Zeichen für die Null: diese kognitiven Repräsentationen, diese visualisierenden Denkmittel, die 1000 Jahre später eine sprunghafte Vereinfachung der Rechen-Vorgänge bringen sollten und damit die berechnende Durchdringung der Realität ermöglichten, standen ihnen nicht zur Verfügung. 

In den griechischen Stadtstaaten waren nicht die praktischen Rechner, sondern die philosophierenden Mathematiker hoch angesehen, also Männer, die die unvorstellbar große Zahlen bilden konnten oder mit den abstrakten Zahl-Ideen spielerisches Denken vorführten. Grundsätzlich wusste man, dass die mathematischen Kenntnisse großen Nutzen haben konnten und erzählte die wunderlichsten Geschichten zum Beispiel über die Kriegs-Geräte des Archimedes. Aber eine entwickelte handwerkliche Produktion, durch die die Rechen-Kenntnisse eine breite praktische Basis erfahren hätten, gab es nicht. So wurden die Zeichen für das „Nichts“ von den Griechen nur wenig genutzt.

Kerbholz
Römische Zahlen auf einem Kerbholz – das Kerbholz-Prinzip fand Verwendung bis ins europäische 15. Jahrhundert

 

Pragmatische Römer

Die Römer übernahmen von den Griechen nicht den geometrischen und philosophischen Zugang zur Mathematik. Im klassischen Rom gab es keine großen Mathematiker, die die griechische Geometrie und Algebra fortentwickelt hätten.

Die Römer benutzten zur Darstellung von Zahlen das klassische griechische System der Anfangsbuchstaben, „C“ stand für 100, „M“ für Tausend. Das „V“ stellt schräg gestellte Kerben dar, die Zehn (X) zwei gekreuzte Kerben. Die Römer  kannten den Nutzen der babylonischen Zeichen für das „Nichts“ nicht.

Mit den römischen Zahlen konnte man nicht leicht rechnen. Schon die Aufgabe „43+24“ stellt sich mit den römischen Zahlen als „XLIII+XXIV“ dar. Dennoch wurden die römischen Zahlen bis ins späte Mittelalter benutzt. Sie gehörten zur lateinischen Kultur. Als über die arabischen Gelehrten in Spanien das indische Zahlensystem mit der Null bekannt wurde, war dessen Überlegenheit für jeden, der rechnen wollte, sofort klar.

Die Zahlen der Maya

Die Astronomie und damit auch das Zahlenrechnen hat offenbar auch bei den mittelamerikanischen Maya – völlig unabhängig von der Kultur des Zweistromlandes – eine ungeheure Entwicklung erfahren. Die Maya-Astronomen hatten in der Blütezeit ihrer Kultur (ca. 300 vor bis 300 nach u.Z.) einen Begriff für die Leere und das Nichts, symbolisiert als leeres Schneckenhaus. Dieses Symbol war wie eine „Null“ in das numerische 20-er Zahlensystem („Vigesimalsystem“) integriert. Wie die Babylonier nutzten die Maya ihre Null zum Zählen, nicht zum Rechnen.

Bei den Maya wurde die Null als Gott verehrt – und als Gott des Todes gefürchtet. Die „Nulltagen“ in ihrem Kalender waren so etwas wie Sonntage, man wusch sich nicht und arbeitete nicht. Maya-Astronomen führten Tabellen über Sonnenfinsternisse und die Perioden der Sichtbarkeit der Planeten.

Maya 1-20

 

 

Die ersten 20 Zeichen im
Schrift-System der Maya

 

Zur Darstellung größerer Zahlen nutzten die Maya ein Positionssystem, sie schrieben Einer, Zehner und Hunderter untereinander. 20 Maya


Die Zahl 20, also 1x20 und 0x1
sah dann so aus

308 Maya

 und eine 308 wäre notiert als
15x20 und 8x1

 



Zur Bezeichnung der Zahlen von 0 bis 12 hatten die Maya eigene Worte, die „13“ setzte sich aus der Einerzahl und der Zehn zusammen. Die sechs hieß „uac“, die Zehn „lahun“, 16 also „uaclahun“.

Maya-Kalender Haab

Der Maya Kalender Haab

Der Maya-Kalender „Haab“ hatte 365,256 Tage, ein Monat hatte 20 Tage und eine Woche (5 Tage). Damit hatte das Jahr 73 Wochen - 18 Monate und eine Extrawoche, die auch 19. Monat oder „Uayeb“ genannt wurde. Uayeb bedeutet „unzugeordnet“, „namenlos“, es bedeutete eine Woche (fünf Tage) der Ruhe. Die Astronomen der Maya errechneten das Ende der Welt nach ihrem Kalender – es würde in gregorianischer Zeit auf den 21. Dezember 2012 fallen.
Sogar die Pyramide in Chichén Itzá ist nach diesem Kalender-Prinzip erbaut, sie 366 Stufen, die oberste ist aber nur ein Viertel so hoch ist wie die anderen. Die Maya begannen die Zählung ihrer Monats-Tage übrigens bei der Null.

Die großen Städte mit Zehntausenden von Bewohnern und die Infrastruktur – Straßen, Wasserleitungen -  lassen darauf schließen, dass die Maya ihre Rechenkünste auch für organisatorische Auggaben nutzten. Dokumente darüber sind nicht erhalten bzw. bisher nicht gefunden worden.

 

Die Erfindung der Null in Indien

Indische Astronomen haben – nach denen der Maya - die Leerstelle nicht als „nichts“ gedeutet, sondern als eigene Zahl –  als null. Indische Mathematiker benutzten für die Null und die Variable dasselbe Zeichen, weil sie beides mit der Vorstellung eines ungefüllten Gefäßes assoziierten.

Über den Einfluss der griechischen Wissenskultur auf die der Inder wird viel gerätselt und gestritten. Denn verschiedene hinduistische astronomische Begriffe sind nach griechischen Lehnwörtern gebildet, etwa „kendra“ für Zentrum nach dem griechischen „kentron“. Indische Matematiker schrieben ihre Brüche ohne Teilungsstrich - wie die Griechen. Vor allem Fehler sind verräterisch, schreibt Robert Kaplan: „Das Verhältnis von längstem und kürzestem Tag wird in der frühen Hindu-Astronomie mit 3:2 angegeben: Ein Verhältnis, das bis auf die nördlichsten indischen Breiten gänzlich falsch, für die babylonischen aber korrekt ist und von den Griechen übernommen wurde.“ Alles, was die indischen Mathematiker aus Griechenland (in der babylonischen Tradition) übernehmen konnten, war ein besonderes Zeichen für „nichts“, für das leere Gefäß. Für astronomische Rechnungen und Bruchdarstellungen nutzen sie das sumerische Sexagesimalsystem der Babylonier mit den Zeichen des hellenischen Systems. Dabei kennzeichneten sie Leerstellen durch ein überstrichenes Omikron ō (Abkürzung für ούδέν = nichts).

 Die Positionsschreibweise ist die Voraussetzung für die Umdeutung eines Leerstellen-Zeichens zur Null. Die ältesten bekannten Zeugnisse für die rechnerische Verwendung der Null sind, jedenfalls nach Ifrah, in Sanskrit verfasste Schenkungs-Urkunden, mit in den religiösen Einrichtungen der Brahmanen festgehalten wurde, von wem was stammt. Schriftlich dokumentiert wurden der religiöse Anlass der Schenkung, der Namen des Stifters, die Anzahl und die Beschreibung der Gaben und das entsprechende Datum in der jeweiligen indischen Zeitrechnung. 
Schenkungsurkunde mit Null
 

Diese kupferne Urkunde giltals das älteste Zeugnis der indischen Positions-Zahlschrift. Sie wird  auf das Jahr 595 u.Z. datiert.

Die Zahl 346 wird darin so wiedergegeben: 346.

Und die Zahl 270 als  270 indisch

 

 

Mit dieser Null lernten die indischen Mathematiker rechnen. Sie interpretierten erstmals die Leerstelle, an der eine Ziffer stehen kann, als Zahlsymbol, das anderen Zahlsymbolen ihren Stellenwert und damit ihren Wert zuweist. Es war der indische Astronom Brahmagupta, der im Jahr 628 unter dem eher philosophischen Titel „Der Beginn des Universums“ eine Serie von Regeln zum Gebrauch der Null geschrieben hat: Die Null, hinter einer Ziffer 5 gesetzt, macht aus der 5 die 50. Wenn man von der Null etwas abzieht, entstehen negative Zahlen.  Brahmagupta ging so systematisch zu, dass er auch das Dividieren durch die Null erklärte. Aus „śūnya“, „leer“, wird so die Null. Das Nichts wird ein arithmetischer Operator.
Unter dem Einfluss der indischen Astronomen verbreitete sich die Kunst des Zahlen-Rechnens übrigens in Südostasien, bevor sie von der arabischen Kultur übernommen wurde.

Die Einführung des indischen Systems im arabischen Orient

Die arabischen Herrscher, insbesondere die Bagdader Abbasiden, haben das kulturelle Erbe der unterworfenen Völker mit Begeisterung aufgegriffen und in ihre arabische Sprache übertragen. Vom 8. bis zum 12. Jahrhundert erlebte die Wissenschaft dort eine glänzende Periode. Bibliotheken wurden in Bagdad, in Kairo, später in Spanien aufgebaut. Durch ihre Handelskontakte mit Indien hatten die Araber auch Kontakt zu der indischen Astronomie. Offenbar kam im späten 8. Jahrhundert u.Z. ein Astronom und Mathematiker mit indischen Schriften nach Bagdad, der Kalif persönlich soll die Übersetzung befohlen haben. Der Übersetzer Mohammed Ibn Musa al-Charismi (ca. 780-850) war ein persischer Gelehrter am Hofe in Bagdad und einer der bedeutendsten Mathematiker der arabisch-islamischen Welt. Aus seinen Büchern über Arithmetik und Algebra wurde die indische Rechenmethode später in Europa bekannt. Sein Name „Chwarism“ wurde über die latinisierte Form „Algorismi“ im lateinischen Abendland zum Begriff „Algorithmus“, mit dem zunächst nur das dezimale Positionssystem indischen Ursprung bezeichnet wurde. Die arabischen Mathematiker waren schnell überzeugt von der Rechenmethode mit Hilfe des indischen Positionssystems und der Null. Die Araber übernahmen von den indischen Gelehrten auch das dezimale Stellensystem.

Die Araber schrieben das „śūnya als „sifr". Über die Handelsbeziehungen kam es nach Italien, dort wurde aus „sifr" das „zefiro", in der venezianischen Mundart „zero". In Deutschland wurde die Null lange Zeit „die Ziffer" genannt. Die Kaufleute waren von der Einfachheit des Rechnens mit der Null begeistert, die klerikale Kultur sträubte sich dagegen: Noch 1299 wurde in Florenz das Verwenden von arabischen Zahlen in Verträgen und offiziellen Dokumenten verboten.

Die indisch-arabischen Ziffern in Europa

Denn Im lateinischen christlichen Frühmittelalter wurde wie in der Antike noch mit den Fingern gerechnet und mit dem alten römischen Abakus. Der Franzose Gerbert de Aurillac kam während eines Aufenthalts in Spanien (967-970) mit den von den Arabern übermittelten Rechenmethoden in Kontakt, er leitete später die Domschule von Reims (972-982) und machte das neue Rechnen im Abendland populär. Im Jahre 999 wurde er als „Sylvester II.“ zum Papst gewählt. Aurillac war der erste, der das indische Ziffernsystem zusammen mit dem arabischen Astrolabium in Europa verbreitete. Er kennzeichnete die Rechensteine seines Abakus mit arabischen Ziffern gekennzeichnet haben, ob er allerdings die Bedeutung der arabischen Null erkannt hat, ist ungewiss. Über die Universitäten der Scholastik verbreitete sich das schriftliche Rechnen mit indisch-arabischen Ziffern in Europas Gelehrtenkreisen.

Das ist zumindest für den Mathematiker Leonardo von Pisa gesichert, genannt Fibonacci. Er wurde 1175 in Pisa als Sohn eines Kaufmanns geboren wurde. Sein Vater trieb Handel mit Algerien, der Sohn lernte so die verschiedenen Rechentechniken kennen. Auf  Geschäftsreisen hatte er auch in Algerien den Mathematiker Abu Kämils und seine Algebra kennen- und schätzen gelernt. In seinem im Jahre 1202 erschienenen Buch „Liber abaci“ beschreibt und empfiehlt Fibonacci das Dezimalsystem.
Das erste Kapitel beginnt mit der Feststellung: „Dies sind die neun indischen Ziffern 9 8 7 6 5 4 3 2 1. Hiermit und dem Zeichen 0 kann jede beliebige Zahl geschrieben werden."

Noch im 16. Jahrhundert hatte das Wort „chiffre“ den Beiklang von Geheimschrift, wie es heute noch in dem Fremdwort chiffrieren nachklingt. Erst der Rechenmeister Adam Ries veröffentlichte in der Mitte des 16. Jahrhunderts in deutscher Sprache ein Lehrbuch, dass das Rechnen mit dem indischen System populär machte. In Frankreichs Schulen wurde der alte Abakus erst in der französischen Revolution in Schulen und Verwaltungen verboten.

Die Zahlen-Philosophie der Naturwissenschaften

Galileo Galilei formulierte seine philosophische Überzeugung, die zur Grundlage der modernen Naturwissenschaften wurde, 1623 in der Schrift „Die Goldwaage“ (Il Saggiatore) so: 
„Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.“
Das war eine philosophische Überzeugung, gewonnen aus Experimenten, und wenn die ihm möglichen zum Beispiel für die Zyklen der Gestirne dies nicht bestätigten, dann erklärte Galilei sich das mit der Unzulänglichkeit der Messmethoden. Die waren zu seiner Zeit erheblich. Aufgrund seiner philosophischen Überzeugung hielt Galilei die Kreisbewegung für die göttlich-natürliche Form, die Erde benötigte auf ihrer Kreisbewegung keine Kraftwirkung.

Aus der Beobachtung, dass, dass die rein mechanischen Vorgänge wie Fall und Stoß auf einem gleichmäßig fahrenden Schiff genau so ablaufen wie auf festem Boden an Land, folgerte Galilei ein Relativitätsprinzip: Grundsätzlich gibt es keinen Unterschied zwischen Ruhe und gleichförmiger Bewegung. Die Aufrechterhaltung einer gleichförmigen Bewegung erfordert keine dauernd wirkende Kraft.
Das war eine Beschreibung der Natur, die der Lehre des Aristoteles widersprach: Naturerkenntnis muss seither nicht mehr eine Alltags-Erfahrungen aufbauen. Als naturwissenschaftliche Wahrheiten gelten seitdem Zusammenhänge, die mit mathematischen Gleichungen darstellbar sind.

Auch für Issac Newton war Gott quasi ein Mathematiker, der die physikalische Welt nach mathematischen Mustern geschaffen hat. Für Descartes war Gott der Schöpfer der Idee der Mathematik. Rene Descartes hat 1637 gezeigt, wie man mit den schon früher von Malern benutzten Koordinaten geometrische Probleme in algebraische verwandeln kann. Wenn geometrische Gebilde seither durch Zahlen-Funktionen beschrieben werden, ist das natürlich eine ideelle Konstruktion. Im 18. Jahrhundert wurde das „kartesischen“ Koordinatensystem mit x- und y-Achse nach ihm benannt.

Die Zeit als geometrische Dimension

Dass diese Konstruktion zeitlos ist, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts als Problem formuliert. „Gibt es einen Würfel, der keinerlei zeitliche Dauer hat?“ fragte H.G. Wells in seinem Roman „Die Zeitmaschine“ (1895), 30 Jahre vor Martin Heidegger.

Und Wells „Zeitreisender“ erklärte, zehn Jahre vor Einsteins „Spezieller Relativitätsphilosophie“:
„Es ist klar, daß jeder tatsächlich vorhandene Körper sich in vier Dimensionen ausdehnen muß: in Länge, Breite, Höhe und – in Dauer. Aber infolge einer angeborenen Unvollkommenheit unserer menschlichen Natur sind wir, wie ich Ihnen sogleich darlegen werde, geneigt, diese Tatsache zu übersehen. Tatsächlich gibt es vier Dimensionen, von denen wir drei die Ebenen des Raumes nennen, und eine vierte, die Zeit. Es besteht aber die Tendenz, eine unbegründete Unterscheidung zwischen den erstgenannten drei Dimensionen und der letzteren zu machen, weil sich unser Bewußtsein – wenn auch mit Unterbrechungen – in dieser vierten Dimension in einer Richtung, vom Beginn bis zum Ende unseres Daseins, bewegt. (…) Es ist nur eine neue Betrachtungsweise der Zeit. Der einzige Unterschied zwischen der Zeit und irgendeiner der drei Dimensionen des Raumes besteht darin, dass unser Bewusstsein sich in ihr bewegt.

Damit war die Idee geboren, dass die Zeit nicht nur auf einen Zahlenstrahl gebannt werden kann, sondern dass dieser Zahlenstrahl als „vierte Dimension“ der geometrischen Konstruktion der Wirklichkeit angegliedert werden kann.

 

 

    Lit:
    Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen  (frz. 1981, dt. 1986) 
    Friedhart Klix, Erwachendes Denken: Geistige Leistungen aus evolutionspsychologischer Sicht (überarbeitete Auflage 1993)
    Robert Kaplan, Die Geschichte der Null (engl. 1999, dt. 2000)

    Zur Darstellung des Themas Denken mit Zahlen siehe   MG-Link
    und:
    Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten - Hieroglyphen
      MG-Link
    Medien der Zeit -  Prothesen des Geistes  M-G-Link