Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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III
Medien
-Theorie

Meine Studienbücher:

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

Cover POP2

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

 

 

 

Was sein wird -
Zukunftsängste, Zukunftshoffnungen:
 Utopien und Dystopien als
Selbstbilder einer Gesellschaft

2022 DdWI

Die Menschen suchen in den Geschichten, die sie einander erzählen, nach Sinn. In ihrem Zukunftsbezug schaffen sich die Gesellschaften ein Bild über sich selbst. Die erfundenen, auf die Zukunft gerichteten Sozialfiktionen ermöglichen sozialen Zusammenhalt. Während im wirklichen Leben das Glück in den kleinen Lebensgemeinschaften des „Ich“ auftaucht und untergeht, wird in den Zukunfts-Erzählungen das Glück im großen Weltentwurf gesucht – im großen Wir-Kollektiv. Viele der Sozialutopien des 19.Jahrhunderts beschäftigten sich mit der Industrialisierung und ihren Folgen, während die Dystopien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Folgen des totalitären Machbarkeitswahns beschreiben. Und dann wanderten die Utopien ab in die Science-Fiction-Filme, die alle denkbaren Folgen von künstlicher Intelligenz durchspielen. Ein Angebot einer gesellschaftsintegrierenden Erzählung enthalten diese neuen Visionen nicht mehr, sie dokumentieren die große Verunsicherung.

Der „Himmel“ ist das Land, in dem Milch und Honig quasi von selbst fließen, kein Land der Tüftler und Erfinder. Der menschliche Geist ist weit mehr und früher von der Konstruktion großer Wir-Utopien beflügelt worden als von dem Interesse, Werkzeuge für seinen Lebensunterhalt zu bauen. Wie die erlösten Seelen im Himmel schweben, wissen wir nicht – aber klar ist: Sie schweben, frei von irdischen Lastern, in vollendeter Harmonie im „Wir“.

Zu den religiösen Kollektiv-Utopien ist seit der Renaissance die Utopie eines autonomen „Ich“ in Konkurrenz getreten. Das war zunächst ein philosophischer Individualismus von Männern, die keinerlei materielle Sorgen hatten. Die Utopie des „Ich“ wurde dann aufgegriffen von Männern, die sich pragmatisch-egoistisch um die Vermehrung ihres privaten Reichtums kümmerten. Die utopischen Entwürfe blieben orientiert an der Verklärung der alten Zeiten und der Natur. Die These, die hinter dem wirtschaftlichen Liberalismus steht, dass nämlich der Egoismus der Einzelnen das Wohl der Gesellschaft hervorbringen würde, eignete sich offenbar schlecht für große Utopien.

Utopien des 20 Jahrhunderts – Kommunismus und Nationalismus

An die Stelle der religiösen Utopien trat im 19. Jahrhundert die Vision einer Überwindung der irdischen Armut. Seit 1789 hatte das Wort „Volk“ einen neuen Klang. Wie die religiösen Erzählungen sollten die neuen profanen Utopien einen Sinnzusammenhang für das kleine Leben des Einzelnen anbieten. Der Versuch von Karl Marx, die philanthropischen Ideen seiner Zeit quasi „wissenschaftlich“ mit einer Geschichtsphilosophie zu untermauern, erforderte aber ähnlich viel „Glauben“ wie andere Erzählungen auch. Marx‘ Glaube war inspiriert von der geschichts-philosophischen Teleologie eines Hegel, Marx suchte in Analogie zu den Naturgesetzen nach „Gesetzen“, die seine Teleologie plausibel machen sollten. Wie bei einer mechanischen Maschine haben da Wirkungen ihre eindeutige Ursache und es gibt „Triebkräfte“ und „Hebel“, die man nur erkennen muss, um zu wissen, wie man den Lauf der Geschichte aushebeln kann.

Aber nicht die Verschmelzung der beiden utopischen Ideen von Volksherrschaft und Wohlstand für alle in der Form der „Sozial-Demokratie“ prägte im frühen 20. Jahrhundert die europäische Geschichte, sondern totalitäre Machtgebilde, die über ganz andere Unterdrückungs-Mittel verfügten als die alten absolutistischen Machtapparate. Sie lebten von der Utopie des starken Staates und benutzten das „Volk“ nur plebiszitär zur Machtergreifung. Zunächst war der „Kommunismus“ unter der Führung von Wladimir Iljitsch Lenin im Jahre 1917 in Russland erfolgreich, dann in Deutschland 1933 der „National-Sozialismus“. Beide Machtgebilde legitimierten sich vordergründig mit der Idee, dass Führer die Volksmassen repräsentieren. Auch das NS-Regime versprach die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftskrise, Wohlstand für alle, „Kraft durch Freude“, Volks-Wagen, Volksempfänger.

So sehr der junge Marx getrieben war von der Utopie der Freiheit und der Emanzipation -  gewirkt haben seine „materialistischen“ Erzählungen nur als Rechtfertigung für staatliche Willkür-Herrschaft. Die Geschichte des real existierenden Sozialismus hat keinen einzigen empirischen Hinweis erbracht, dass einer der Marx’schen Hebel „funktioniert“. Daran sind spätere Theoretiker verzweifelt, die die Idee einer Mission der Arbeiterklasse  retten wollten.

Kommunismus und National-Sozialismus haben sich als Todfeinde bekämpft, weil sie beide die totale Macht über den Staat und seine Untertanen bean-spruchten. Als gesellschaftliche Utopien traten beide „antikapitalistisch“ auf und versprachen, die chaotische Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft staatlich zu ersetzen oder zumindest zu steuern. Dieser ideologische Antikapitalismus richtete sich in Russland gegen asiatisch-feudale Strukturen und im Falle Deutschlands eher gegen die erfolgreichen kapitalistischen Mächte Frankreich und England. In Russland wie in Deutschland wurden schwache demokratische Traditionen beiseite gedrängt und durch eine allmächtige Partei ersetzt. Kritik wurde in beiden Regimes brutal unterbunden, die revolutionären Eliten wollten alle Elemente einer „Zivilgesellschaft“ der Individuen beseitigen und Volksgemeinschaft auf der Basis eines neuen Wir-Menschen schaffen. Ihre Entpuppung als totalitäre Regimes führte nicht zu ihrem Sturz, brachte aber das Ende der großen Utopien von Kommunismus und Nationalsozialismus mit sich.

Dystopien des 20. Jahrhunderts

Die großen Dystopien des 20. Jahrhunderts reagieren auf die totalitären Gesellschaftsexperimente. Kaum jemand hat den machtpolitischen Kern des sowjetischen Experiments so früh begriffen wie der enttäuschte Bolschewik Jewgenij Samjatin (1884-1937). Schon 1920 beschrieb er in seinem Roman „Wir“ den kommunistischen Traum als Alptraum. „Wir“ war das erste Buch, das in Lenins  Paradies von den Behörden verboten wurde. Sowjetbürger, bei denen ein Exemplar des Buches gefunden wurde, mussten mit einer langen Lagerhaft rechnen. Samjatins Roman durfte in Russland erst 1988 gedruckt werden.

„Wir“ spielt im 30. Jahrhundert. Die Häuser haben Wände aus Glas, regiert wird der „Einzige Staat“ von einem  übermächtigen „Wohltäter". Alles ist mathematisch fehlerfrei geordnet.  Menschen werden mit Nummern benannt. Der „Einzige Staat" hat keinen Platz für ein „Ich“, nur für das große „Wir". Nach der Vorlage von Tabellen und Kupons wird festgelegt, wer mit wem sexuellen Umgang haben kann. Wie viel Zeit eine Person zum Schlafen braucht, wird staatlich verordnet. Gemeinschafts-Veranstaltungen sind Pflicht, es gibt kein Privatleben. Doch da ist „D-503“, ein Mathematiker, der in sich dunkle Triebe entdeckt - bei ihm hat sich „eine Seele“ gebildet, eine Art Krebsgeschwulst.
„D-503“ verliebt sich in „I-330“ und entdeckt sich selbst und „I-330“ als Individuen. Er wird verhaftet und auf den OP-Tisch gelegt, die Ärzte entfernen einen fremden Splitter in seinem Gehirn - die neu gebildete „Seele“. D-503 wird ein glücklicher, loyaler Untertan.

Aldous Huxleys Zukunftsvision „Schöne neue Welt“ erschien in London im Jahre 1932. Seine neue Welt entsteht auf der Basis von Verführungsmacht. Hat Huxley auch Edward Bernays gekannt, den Neffen von Sigmund Freud? Der hatte 1928 die Vorzüge der totalen Propaganda ohne personifizierten Diktatur beschrieben - Propaganda könne die öffentliche Meinung effektiver reglementieren. Bernays war davon überzeugt, dass „unser Geist geformt, unser Geschmack geformt, unsere Ideen vorgeschlagen werden größtenteils von Männern, von denen wir noch nie gehört haben… Sie sind es, die an den Drähten ziehen, die die öffentliche Meinung kontrollieren, die alte gesellschaftliche Kräfte nutzen und neue Wege finden, um die Welt zu binden und zu leiten." Alles ist Ware, der Reichtum des Konsums frisst das Individuum. Wenn die Menschen ihre Zeit für Konsum und Unterhaltung verwenden und manipuliert werden können, braucht die Macht keine Unterdrückung mehr. Bernays Buch „Propaganda“ erschien 1928 in den USA, Huxley hat es vermutlich nicht gekannt.

Schöne neue Welt

Huxleys „Brave New World“ spielt im Zentrum des Weltstaates London. Henry Ford ist für die Menschen „Unser Ford“, man schreibt das Jahr  „632 A.F.“, also  „Anno Fordii“ bzw. „After Ford“. Bezugspunkt der neuen Zeitrechnung ist das Jahr 1908, als das erste T-Modell vom Band lief. Das Wort „Mutter“ ist ein unanständiges Schimpfwort in dieser schönen neuen Welt. Kinder werden in Flaschen auf Fließbändern hergestellt. Sexualität war eine Kraft der Individualität, daher ist die „vivipare Menschenzeugung“ abgeschafft. Ein Kind zu gebären wird als obszön betrachtet.

Die Bevölkerung ist in vier Klassen eingeteilt: Alpha, Beta, Delta und Epsilon. Jeder ist glücklich in seinem Leben. „Universelles Glück hält das Räderwerk in Schwung - das können Wahrheit und Schönheit nicht“, erklärt der Weltbereichscontroller Westeuropa, Mustapha Mond. Die Menschen altern nicht mehr - durch Bluttransfusionen und Medikamente wird der Körper bis zum 60. Lebensjahr auf dem Stand der Dreißigjährigen aufrechterhalten. Dann ist Schluss. Den Menschen sollen nicht nur alle Sorgen, sondern auch unkontrollierte emotionale Erlebnisse erspart bleiben. Die Bewohner des Weltstaates bekommen bei Kummer das Mittel „Soma“, ein Gramm davon erspart jedes Leiden. Für stärkere Erlebnissen gibt es „HLS“, Heiß-Leidenschafts-Substitution. Das wirkt wie eine echte Erregung, es fühlt sich an wie wütend oder verliebt zu sein. „Ford ist in seinem Flivver", murmelte der Direktor in der amerikanisierten Fassung von Huxleys Roman, das bedeutet: „Alles in Ordnung mit der Welt." Flivver war der Name des Flugzeugs, das der historische Ford bauen lassen wollte – und dessen Prototyp abstürzte.

In dieser schönen neuen Welt taucht ein „Fremder“ auf, ein Wilder namens John. Er ist in einem Reservat außerhalb der Herrschaft des Weltcontrollers aufgewachsen und von einer widerwärtigen Kreatur wie einer Mutter geboren worden. Sie floh voller Scham in das Reservat, kehrte aber nach dem Besuch einer neugierigen Expedition mit dem Sohn zurück. Der Wilde kommt nicht klar in dem Weltstaat, er will kein Soma haben und keine Fühlfilme sehen, er verweigert sich dem Ort, wo man „in Glück bis über beide Ohren ertränkt wird“. Er fordert das Recht, zu altern, hässlich und impotent zu werden, das Recht auf Syphilis und Krebs, das Recht, zu wenig zu essen zu haben, das Recht, verlaust zu sein, das Recht, in ständiger Angst vor dem zu leben, was morgen wird, das Recht auf Typhus, das Recht, unaussprechliche Schmerzen aller Art zu erleiden. Er will Gott, will Dichtung, will reale Gefahren, Freiheit, Güte und Sünde – und das Recht, unglücklich zu sein. Die Gesellschaft der Glücklichen treibt den Wilden in die Einsiedelei, schließlich erhängt er sich, in den Tod getrieben von der Gesellschaft des reibungsloses Glücks und Vergnügens.

„1984“

George Orwell (1903-1950) hat erklärt, dass er von Samjatin inspiriert worden sei, als er den Roman „1984“ schrieb. Samjatins hat „Wir“ 1920 geschrieben, also lange bevor der große Bruder Stalin die Utopie eines „neuen Menschen“ mit Terror durchsetzen wollte. Orwell verfasste sein Buch unter dem Einfluss der Ereignisse in Sowjet-Russland, sein „1984“ erschien im Jahre 1949.

Ein „Wahrheitsministerium“ gestaltet da die gültigen Wahrheiten und korrigiert sie nach Bedarf. Der „Große Bruder“ ist der souveräne Herrscher Ozeaniens, er beherrscht die Köpfe über eine Gedankenpolizei. „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“ sind die Parolen des Wahrheitsministeriums. Und überall steht: Der Große Bruder sieht dich immer, „Big Brother is Watching You“. Das ist die Pervertierung des christlichen „Gott sieht alles“. Jetzt also der lächelnde, bärtige Große Bruder. Und die Gedankenpolizei passt auf. Überall gibt es Überwachungskameras. Winston Smith arbeitet im Wahrheitsministerium, er muss die historischen Dokumente so verändern, wie es die jeweils aktuelle „Wahrheit“ erforderlich macht. Die größte Herausforderung ist die Kultur des „Doppeldenk“ – der Glaube, dass die selbst produzierte Lüge die eigentliche Wahrheit ist. „Neusprech“ ist die offizielle Sprache Ozeaniens, eine Vereinfachung des Englischen, die dem ideologischen Zweck angepasst ist.

Auch für Winston ist es eine Liebe, die ihn seine Individualität wiederentdecken lässt. Winston und seine Julia treffen sich auf dem Dachboden eines Antiquitätenhändlers. Sie ahnen nicht, dass sie auch dort vollkommen überwacht werden. Sie werden verhaftet. Winston wird im „Liebesministerium“ gefoltert - er soll sich seine Gefühle für Julia abgewöhnen und lernen, den Großen Bruder zu lieben. Mit Erfolg: „Aber jetzt war es gut, es war alles in Ordnung, der Kampf war zu Ende. Er hatte sich selbst überwunden. Er liebte den Großen Bruder.“

Die Unterschiedlichkeit der beiden bekanntesten Dystopien des 20. Jahrhunderts hat Aldous Huxley 1949 in einem Brief an George Orwell so formuliert: „Ich glaube, die Herrschenden der Welt werden innerhalb der nächsten Generation entdecken, dass die Konditionierung der Kinder und die Narko-Hypnose effizientere Herrschaftsinstrumente sind als Schlagstöcke und Gefängnisse und dass die Lust an der Macht ebenso umfassend befriedigt werden kann, wenn man den Menschen suggeriert, sie würden ihre Knechtschaft lieben, wie wenn man sie mit der Peitsche und mit Fußtritten zum Gehorsam zwingt.“ Huxleys Bruder Julian war Biologe und Verfechter der Eugenetik.

Dystopien an der Wende zum 21. Jahrhundert

Mit seinem 2013 erschienenen Roman „Der Circle“ knüpfte Dave Eggers an die Tradition der großen Dystopien des 20. Jahrhunderts an und überführte sie ins Zeitalter des Internets und der Digitalisierung. Ein Technikkonzern regiert da die Welt mit totaler Transparenz, alles Private ist Diebstahl. Wo bei Aldous Huxley biologische Kontrolle herrscht, bei George Orwell das repressive System des „Big Brother“, liefern sich Eggers‘ Figuren freiwillig der digitalen Kontrolle durch totale Transparenz und dem Zwang zur Konformität aus. 

Die modernen Dystopien finden in Filmen ihr Masenpublikum. Unterdrückerische Regimes nutzen phantastische Technologien, um ihre Bevölkerung zu kontrollieren. Das Muster lieferte schon 1927 Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“. Er entwarf den verrückten Wissenschaftler, den Roboter, die Verfolgungsjagd auf dem Dach, die Katakomben und den hinterhältigen Handlanger. 

Der französische Regisseur Jean-Luc Godard hat die Geschichte des Geheimagenten Caution verfilmt, der in die Galaxie von „Alphaville“ (1965) geschickt wurde, um „Alpha 60“, den Schöpfer der künstlichen Intelligenz, zu ermorden. Der Originalfilm verwendet eine Art „Neusprech“, Arbeitstitel von Godard war „Tarzan gegen IBM“. Obwohl in der Gesellschaft des Alpha 60 alle Emotionen verboten sind, verliebt sich der Agent.

Der japanische Animationsfilm „Geist in der Muschel“ (1995) von Mamoru Oshii führt uns in eine Welt von Cyborgs mit künstlichen Körperprothesen. Die Kommandantin einer Spezialeinheit beginnt, die Natur ihrer eigenen Menschlichkeit, umgeben von einer Welt der Künstlichkeit, in Frage zu stellen. 

Zahllose Filme thematisieren die Herrschaft der künstlichen Intelligenz. In dem Science-Fiction-Klassiker „Matrix” (1999) erfährt der Hacker-Rebell und Büroangestellte Thomas Anderson die Wahrheit über die Welt, in der er lebt – es ist nur eine Computersimulation. Matrix steht in der Tradition des französischen Philosophen René Descartes, der in seinem Buch Mediationes de prima philosophia  (1641) über die Möglichkeit nachdachte, dass ein Dämon den Menschen die Realität nur vorgaukelt. Matrix malt eine Welt, in der die Menschen im Cyberspace gefangen sind. Ein Master-Algorithmus bestimmt, was sie als ihr authentisches Leben erleben. Dem Helden Neo gelingt es, sich aus dem Netz zu befreien – und findet sich nur in einer größeren Matrix wieder. Authentische Identität ist eben eine Illusion. Was auch immer Menschen erleben, sie bewegen sich innerhalb der Schachtel ihres Geistes.

Der Film „Inside Out“ (dt. Alles steht Kopf, 2015) greift die neue neurobiologische Erkenntnisse auf. Er nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise in das Gehirn des Roboters Rileys, das von einer Ansammlung widerstreitender biochemischer Mechanismen gesteuert wird. Da gibt es keine Seele, kein authentisches Ich und keinen freien Willen.

Lektionen für das 21 Jahrhundert

Eigentlich sind in den Romanen und Filmen unzählige Zukunftsoptionen mit viel Phantasie ausgeleuchtet – was darin fehlt, ist der kühle Kopf, der abwägt, was möglich sein könnte und was vorerst Spinnerei ist. Das versucht Yuval Noah Harari in seinen „21 Lektionen für das 21 Jahrhundert“ (1919). Nüchtern stellt er fest: „Die gegenwärtige technologische und wissenschaftliche Revolution impliziert nicht, dass sich authentische Individuen und authentische Realitäten durch Algorithmen und Fernsehkameras manipulieren lassen, sondern dass Authentizität ein Mythos ist.“

Und die große Frage sei, ob die Menschen begreifen, was mit ihnen geschieht. Schon der algorithmische Handel, die Blockchain-Netzwerke und Kryptowährungen „haben das Finanzsystem so kompliziert gemacht, dass kaum ein Mensch es noch versteht“, stellt Harari fest. Am Beginn des 21. Jahrhunderts beruhen wichtige medizinische Entscheidungen auf den Berechnungen von Computern, die unser Körper-Empfinden überprüfbar machen und das Fachwissen der Ärzte durchdringen. Je intelligentere Big-Data-Algorithmen Zugriff auf unsere biometrischen Daten bekommen, desto besser für unsere Gesundheit.

Neurowissenschaft und Verhaltensökonomie werden entwickelt, um zu verstehen, wie Menschen Entscheidungen treffen. Bisher „weiß“ Netflix nur, welche Filme wir wann gucken. Wenn jeder Bildschirm mit einer laufenden Kamera die Zuschauergesichter scannen kann, weiß Netflix, bei welcher Szene eines Filmes wir lachen oder traurig reagieren. Die Integration von Biotechnologie und Informationstechnologie wird das Leben verändern – „niemand weiß, welche Folgen das haben wird“ - Harari weiß nur: „Die Menschen waren schon immer weitaus besser darin, Instrumente zu erfinden, als sie klug zu nutzen.“

Neue Erkenntnisse werden Instrumente liefern, mit denen Menschen subtil zu beeinflussen sind. Wer sagt, dass das Bereiche der „menschlichen Intuition“ seien, räumt schon ein, dass Menschen mit ihrem Verstand sich selbst nicht begreifen können. Die Neurowissenschaft beschreibt, wie Milliarden von Nervenzellen in Sekundenbruchteilen Wahrscheinlichkeiten berechnen. „Die vielgepriesene menschliche Intuition ist in Wirklichkeit Mustererkennung“. (Harari) Es ist absehbar, dass Computer bei der Mustererkennung besser werden als das menschliche Gehirn -  weil sie schneller sind, weil sie über mehr Daten verfügen und weil ihre Daten besser „vernetzt“. Über andere Menschen weiß unser Gehirn nur etwas dank der fünf Sinnesorgane, die sich für das Leben in der afrikanischen Savanne herausgebildet haben, spottet Harari.

Der unkalkulierbare Mensch stört

Einfache selbstfahrende Autos müssen - wie die Menschen - die visuellen und akustischen Eindrücke interpretieren und mit ihrer inneren „Landkarte“ abgleichen. Direkt untereinander vernetzte selbstfahrende Autos „wissen“, wie die anderen Verkehrsteilnehmer ticken, nur der denkende oder gar zu Fuß gehende Mensch stört noch in diesem perfekt unfallfreien Verkehrssystem. Das bedeutet: Der Mensch wird eines Tages als Risiko- und Stör-Faktor verbannt aus der Welt der automatisierten Mobilität. Selbstfahrende Autos bieten den Menschen eine bessere Mobilität und reduzieren die Zahl der tödlichen Unfälle. Bisher diskutieren wir nur über dezentrale Systeme der künstlichen Intelligenz, zentralisierte Systeme der KI werden weit effizienter sein.

Das Prinzip ist auch auf den Gesundheitsbereich anwendbar. Schon heute urteilen Ärzte nach statistisch erhobenen Wahrscheinlichkeiten, welche Ursache bestimmten Symptomen „meist“ zugrunde liegen. Entscheidend ist, welche Erfahrung und welches Wissen die menschlichen Ärzte mitbringen. Wenn die Gesundheitsdaten von Millionen Menschen direkt zusammenfließen, werden die Erfahrung und das einzeln angeeignete Wissen eines Arztes entwertet. Die Risiken und Nebenwirkungen der Individualität gehen verloren. „KI-Ärzte könnten Milliarden Menschen eine weit bessere und billigere Gesundheitsversorgung bieten, insbesondere denen, die bislang überhaupt keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung hatten“, schreibt Harari, aber wenn das „System einen Fehler macht, könnten die Folgen katastrophal sein“.

Und brauchen wir noch Künstler, wenn die Algorithmen in der Lage sind, durch Klänge (und Bilder) ausgelösten menschlichen Emotionen zu verstehen - und zu manipulieren? Algorithmen werden mit Formen und Farben, mit Melodien und Rhythmen herumspielen, Algorithmen werden die Wirkungsweisen der Kunst entschlüsseln und perfekte Effekte erzielen, wenn sie mit den menschlichen Emotionen spielen. Die computergenerierte Kunst wird auch hinreichende Überraschungseffekte bieten - das Ausmaß an „Zufall“ lässt sich einstellen.

 „Gefühle“ sind das Ergebnis von neuronalen Berechnungen, die unter unserer Bewusstseinsschwelle ablaufen. Solange das Zusammenspiel der inneren Kräfte undurchschaubar war, konnte man das Ergebnis als „freien Willen“ verstehen. Je mehr Menschen aber wissen, desto mehr neigen sie dazu, ihre Entscheidungen an den „Sachzwängen“ zu orientieren. Das betrifft auch emotionale Entscheidungen – Männer mit Geld und Macht wirkten auf Frauen immer schon anziehend. Je mehr die biochemisch vernetzten Algorithmen über das menschliche Gegenüber wissen, desto mehr durchdringen die „harten Informationen“ das subjektive Empfinden - auch bei emotionalen Entscheidungen.

Dass der freie Wille eine gute Sache sei, dem Glück der Menschen diene und auch ihrer „Natur“ entspreche, ist eine relativ junge Überzeugung in der Geschichte des Homo sapiens. Die Evolution des Menschen war erfolgreich, weil Menschen kooperierten und ihre Einzel-Entscheidungen von den Interessen ihrer Sippe abhängig machten, deren Legitimation sie mit göttlichen Gesetzen überhöhten. Dass sich alles um das einzelne Individuum und seinen „freien Wille“ drehen sollte, ist nur seit etwas mehr als zweihundert Jahren eine erfolgreiche Erzählung. Die Menschen könnten wieder die Erfahrung machen, dass es für sie oft besser ist, auf die Algorithmen zu hören.

Menschen und Maschinen werden so sehr miteinander verschmelzen, dass die Menschen nicht ohne sie leben können. Das gilt derzeit schon für Menschen, die ohne Herzschrittmacher und andere medizinische Prothesen nicht mehr leben würden. Das gilt inzwischen auch für das Handy, ohne das kaum jemand aus dem Haus gehen kann. Noch können Menschen darauf beharren, dass ihre Bewegungsdaten nicht zentral erfasst werden – trotz der Corona-Grippe-Epidemie. In Asien scheint die Bekämpfung dieser Krankheit auch deswegen erfolgreicher zu sein, weil es solche kulturellen Rücksichtnahmen nicht gibt. Die Unbefangenheit geht bis zur Inanspruchnahme digitaler Hilfen auf dem individuellsten aller menschlichen Handlungsfelder, dem der Liebe. In den romantischen Romanen und in den Filmen wird der Liebe noch die Rolle eines Störfaktors in der „Schönen neuen Welt“ zugeschrieben, hier hat die Illusion des individuell Menschlichen ihren letzten Rückzugsort – bis „Elite Partner“ erfolgreicher ist bei der Vermittlung von Liebe und Lebenspartnerschaften.

Die Menschen beschäftigen sich mit den Implikationen der technologischen und wissenschaftlichen Revolution, die die Idee der Authentizität zum Mythos machen werden, und es gibt keine überzeugenden gesellschaftspolitischen Utopien, die die Visionen der Informationstechnik und der Biochemie zu einem beruhigenden Bild von der Zukunft des Menschen verarbeiten.

Gaia oder: Die romantische Utopie der Mutter Erde

Populär sind die Utopien, die um die alte bukolische Natur-Idylle kreisen.  „Angesichts der radikalen Verunsicherung ist es verständlich, dass ein hoher Bedarf an stabilen Erzählungen besteht, die inmitten dieses Chaos Orientierung bieten“, schreibt Philipp Blom in seinem wunderbaren Buch über die „Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“ (2020). Um die – für ihn unabänderliche - Transformation denken zu können, müssten die Menschen eine neue Sprache sprechen lernen, die neue Bilder anbietet und eine Verbindung zwischen Begriffen und Gefühlen schaffen. Als Beispiel für eine neue Sprache verweist er auf die Formulierung der Menschenrechte und der Gleichheit aller Menschen: „Jeder Christenmensch im vormodernen Europa wusste, dass ein Mann mehr wert war als eine Frau, ein Herr mehr als ein Knecht, ein Christ mehr als ein Heide.“ Die Ideen der Aufklärrung waren schlicht undenkbar.

Ansätze einer neuen Erzählung für das große Welttheater sucht man bei Blom aber vergebens. Seine technologischen Erfolge seien zur existenziellen Bedrohung für den Homo sapiens geworden, schreibt er: Ein Leben nach gegenwärtigen westlichen Standards „würde die Ressourcen von drei oder vier Planeten verbrauchen“. Künstlichen Intelligenzen müssten das Experiment Mensch herunterzufahren, weil seine Kosten zu hoch sind.

Blom sucht dann intellektuelle Zuflucht bei den ursprünglichen Mythen der Erdenmutter Gaia. Die Erde ist in diesen Erzählungen nicht totes Material und beherrschbares Objekt der menschlichen Hybris und Macht, sie war selbst eine Art Organismus. „Das, was die Antike als Mythos erzählte, kann heute mit wissenschaftlichen Metaphern neu erzählt werden“, findet Blom: Die Erde werde als Biosphäre gedacht, als komplexer Organismus, als Akteur in einem Netz, in dem auch Homo sapiens zappele: „Gaia beginnt wieder zu sprechen.“

Die Visionen der künstlichen Intelligenz - „einfach verrückt“

Wenn unser „Ich“ aus Erzählungen besteht, die Zusammenhang und Beständigkeit in das Chaos unserer Erfahrungs-Umwelt bringen, dann könnten Algorithmen besser sein und auch unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse besser kennen. Das Ende der Illusion von Freiheit und Demokratie? Ray Kurzweil–Direktor der technischen Entwicklung bei Google – fasst das in seiner Vision zusammen, um das Jahr 2045 herum könnte die künstliche Intelligenz die menschliche überflügeln. Die 1936 in London geborene Margaret Ann Boden, eine alte Dame der Kognitionswissenschaften, ist da skeptisch: „Kurzweils Voraussage ist einfach verrückt“, sagt sie. Und sie stellt eine schlichte Testfrage: Eine Frau und ein Mann gehen zusammen im Wald Heidelbeeren pflücken. Er ist 20 Jahre alt, kann 10 Pfund Beeren pro Stunde pflücken, sie ist 18 und pflückt 8 Pfund pro Stunde. Mit wie viel Pfund kommen sie eine Stunde später nach Hause?  Künstliche Intelligenz würde das Rätsel als reine Rechenaufgabe behandeln, sagt Margaret Boden. Menschen würden dagegen sagen: Die beiden kommen ohne eine Heidelbeere zurück, sie sind Menschen, sie lieben sich im Wald.

Menschen haben Bedürfnisse und verfolgen Ziele, so Margret Boden, ihr Leben ist voller Unvernunft. Maschinen tun nur das, was man ihnen beigebracht hat. Überlegen sind sie nur, wenn es um Rechenaufgaben geht. Aber warum sollte KI nicht lernen, unvernünftige und emotionale Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wenn die mehr menschliche „Resonanz” versprechen?

    siehe auch meine Blog-Texte
    Yuval Harari oder: Wenn die KI die Sprache beherrscht  MG-Link
    Albrecht Koschorke zur Kategorie „Zukunft” in den Erzählungen der Menschen 
     MG-Link


    Digitale Erlebnisse   MG-Link
    Wahrheit und Krise - Armin Nassehi   MG-Link