Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

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Wenn der Pöbel
online kommt

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Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

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‚Krise‘ in der Kommunikation
der „Weimarer Republik“

2024

Der Begriff der ‚Krise‘ ist an die menschliche Wahrnehmung gebunden ist.
Unglücke und Notzeiten werden erst in narrativen Strukturen zu „Krisen“.
In der Selbstwahrnehmung waren die Jahre der ‚Weimarer Republik‘ Krisenjahre.
Jedenfalls in der Selbstwahrnehmung der Intellektuellen.
Darf man deren Bild einfach übernehmen? Was war der Kern ihrer Krisenerfahrung?
Wie passen die „Goldenen Zwanziger“ dazu?
Wie müsste die Krisen-Interpretation 100 Jahre danach im Rückblick aussehen?

Zusammenfassende Thesen:

1. Die bildungsbürgerlichen Intellektuellen haben die 1920er Jahr als Krisenjahre schlechthin erlebt und thematisiert. Mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung des Deutschen Kaiserreiches hatten sie ihre gewohnte geistige Orientierung verloren, die sich in ihrer Jugend im Kaiserreich gebildet hatte.

2. Als Krise mussten sie auch ihre soziale Entmachtung erleben: „Öffentlichkeit“ war nicht mehr die elitäre Öffentlichkeit des „Geistesadels“, sondern die der neuen populären Massenmedien. Zeitungen, Illustrierte, Kinofilme versuchten, mit skandalträchtigen Schlagzeilen Kunden zu gewinnen.

3. Die alten Intellektuellen waren nicht vorbereitet auf die neue Erregungskultur. Und sie lehnten innerlich die Demokratie der „Masse“ und den intellektuellen Relativismus ab. Daher haben sie die populistische Demokratie-Enttäuschung nur mit ihren nostalgischen Erinnerungen an die „Welt von gestern“ (Stephan Zweig) begleiten können.
Die Theoretiker, die sich auf die neue, moderne Gesellschaft gedanklich eingelassen haben, wurden (und werden bis heute) nicht als die Intellektuellen ihrer Epoche wahrgenommen: Ernst Cassirer, Hugo Münsterberg, Hans Kelsen, Edward Bernays, Theodor Geiger. Lou Andreas Salomé oder Marlene Dietrich haben ihre Zeitgenossinnen geprägt, nicht Heidegger oder Benjamin.

4. Die religiöse Rechtfertigung von Macht war verblasst, von der nationalen Identität blieb nach der Niederlage im Krieg 1918 nur der nostalgische Mythos. 
Für die mit dem Wahlrecht zum Souverän erklärte Bevölkerung trat an die Stelle des „Vaterlandes“, das Heimat, Großfamilien-Ersatz und geistige Orientierung geboten hatte, der Staat als ein profaner Zweckverband. Dieser neue demokratische Staat wurde mit dem Anspruch auf persönliches Wohlergehen verbunden, Wählerstimmen gegen Wohlstands-Versprechen. Geweckte und enttäuschte Konsum-Erwartungen waren daher wichtig für die (ausbleibende) Identifikation mit der neuen Demokratie. 

5. Als die Konsum-Versprechen 1929 in der Weltwirtschaftskrise wieder einmal fundamental enttäuscht wurden, waren die Intellektuellen sprachlos. In der größten Krise des Jahrzehnts gab es keine intellektuelle Krisen-Diskussion mehr, sondern nur noch Schlägereien auf der Straße. Die Masse der wahlberechtigten Bevölkerung spaltete sich in die Anhänger der  kommunistischen und der national-sozialistischen Utopie. Beides waren krisenfreie Gesellschaftsentwürfe – antidemokratisch, totalitär, angeblich im „Interesse des Volkes“. Beide Bewegungen spekulierten darauf, dass die Bevölkerung in der Krise „reif” für ihre Utopien würde.
Beide Entwürfe versprachen, die öffentliche, kontroverse und oft ratlose Diskussion über eine moderne, demokratische - und das bedeutet: auf Zustimmung der Mehrheit angewiesene - Gesellschaft zu beenden.

6. Auf dem europäischen Kontinent war die Demokratie gescheitert. Auch deshalb musste 1945 der Blick nach „Amerika“  faszinierend sein: Die USA hatten mit einem „Wohlfahrtskapitalismus“ die soziale Integration der Gesellschaft geschafft und bei allen internen gesellschaftlichen Konflikten eine starke Nation gebildet. Auch in England hatten weder Kommunisten noch National-Sozialisten bedeutenden Einfluss bekommen.
Das US-amerikanische und das englische Militär hatten den Nationalsozialismus besiegt. Als Besatzungsmächte haben die USA und England die Nachkriegsentwicklung West-Deutschlands geprägt, die Theorie für den zweiten Anlauf zur modernen Demokratie haben Intellektuelle wie John Maynard Keynes und Deutsche aus dem Exil, Karl Popper und Ernst Fraenkel formuliert.
Die West-Deutschen haben sich erst im „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre mit der Demokratie angefreundet, die Ost-Deutschen haben 1989 den Anschluss gesucht. „Europa“ als neue geistige Orientierung wird überall dort, wo es sozialpolitische Hoffnungen enttäuscht, nicht wirklich populär.

 

Der Zusammenbruch der alten Ordnung im  Kopf und das Versagen der Intellektuellen

Detlev Peukert hat rückblickend die 14 Jahre der Weimarer Republik als „Krisenjahre der klassischen Moderne“ (1987) beschrieben. Damit griff er nur eine Metapher auf, die die zeitgenössische Selbst-Wahrnehmung bestimmt hatte. In der Weimarer Republik war das Gefühl, in Krisenzeiten zu leben, verbreitet und prägte mit seinen Assoziationen, Stereotypen und Erwartungen die Wahrnehmung der politischen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit. Das deutsche Kaiserreich hatte den Krieg verloren hat, das war ein Schock für den alten Nationalstolz.
Kern des geradezu inflationär benutzten Deutungsmusters von der „Krise“ war die Konfrontation der Einstellungen aus dem 19. Jahrhundert mit den modernen Diskursen und Lebenswelten. Die Intellektuellen schwebten über der Republik. Für viele der gebildeten Theoretiker der Weimarer Zeit bildete der Wunsch nach kaiserlicher nationaler Repräsentation den Maßstab für die moderne Gesellschaft, die inneren „Zerrissenheit“ der Republik war kein Zeichen für demokratische Normalität, sondern für eine System-Krise.  Als „Krisen“ wurde wahrgenommen, wenn demokratische Parteien sich stritten, Regierungen „wackelten“ und abgewählt wurden.

Die Stimmung unter den Intellektuellen reichte von „wirklichkeitsfremdem Wohlwollen über Indifferenz bis hin zu entschiedener Feindseligkeit“, beschrieb Golo Mann (1956) die  Mit-Verantwortung der Intellektuellen für das Scheitern der „Weimarer Republik“. Auf der Seite der Linken hätten Sozialdemokraten nie geklärt, ob ihnen die „bürgerliche“ Demokratie mehr als ein „Sprungbrett zu Weiterem“ bedeutete. Schriftsteller wie insbesondere Kurt Tucholsky hätten mit ihrer scharfzüngigen Kritik den Republikfeinden unfreiwillig Munition geliefert. Gordon Craig hat vor allem den „psychologischen Schaden“ hervorgehoben, den Künstler, Journalisten und Gelehrte durch eine „Mischung aus Gleichgültigkeit, Verachtung und nörgelnder Kritik“ angerichtet hätten.

Die Bedeutung des Übergangs von der Monarchie zur Demokratie war für den alten „Geistesadel“ kein Thema. Die bürgerliche Gelehrtengesellschaft war an den Problemen ihrer Zeit nicht interessiert.

In Versailles hatte sich 1871 der deutsche Kaiser krönen lassen -  eine Provokation für alle Franzosen. 1919 verhandelten in Versailles die Sieger darüber, wie sie das besiegte Deutschland niederhalten könnten – insbesondere mit astronomisch hohen Reparationsforderungen, die die wirtschaftliche Erholung Deutschlands verhindern sollten. Diese Reparationsforderungen trugen dazu bei, die Akzeptanz der Niederlage unmöglich zu machen. Als Deutschland 1923 die Reparationen nicht mehr bezahlen konnte, besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet. Mit dem „Dawes-Plan“ wurden die Reparationszahlungen über Kredite erleichtert. Die Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage passierte auf Pump. Aufgrund der hohen Kreditsumme - bis 1929 waren insbesondere aus den USA rund 21 Milliarden Mark nach Deutschland geflossen – stürzte das Land besonders tief am „schwarzen Freitag“ in die Weltwirtschaftskrise.

Die Bedeutung der wirtschaftlichen und politischen Krise und die nationalsozialistischen Bedrohung  ist von kaum einem der zeitgenössischen Intellektuellen realistisch eingeschätzt worden. Konkret mit den gesellschaftlichen Veränderungen und der Bedeutung der Demokratie haben die wenigsten sich auseinandergesetzt. Verbreitet war die Deutung der Zeit als epochaler Kulturkrise, das was Wasser auf die Mühlen der Nationalsozialisten, die nach 1930 eine end-gültige Lösung forderten.
Solche Zeitdiagnosen zeugen von der Flucht vor der konkreten Wirklichkeit. Eine elitäre verschraubte Trotz-Haltung kompensierte den Prestigeverlust und den wirtschaftliche Niedergang des „Geistes-Adels“. Die Diagnose einer großen Kulturkrise verlangt geradezu nach großen geistigen Führern, die sie für die kleine Gemeinschaft der geistigen Elite zu erklären vermögen. Wer die großen Fragen der Menschheit und ihres „Sein“ stellt, muss sich mit den Niederungen der sozial- und Wirtschaftspolitik nicht mehr beschäftigen.
Das verbindet Walter Benjamin mit Martin Heidegger und Theodor Adorno. Selbst in Kreisen um Paul Tillich, die der nationalsozialistischen Bewegung fern standen, war im Februar 1932 ein lustiger Maskenball gefeiert mit der Verabredung, sich im Frühjahr 1933 wiederzutreffen.
(MG-Link)
Der französische Historiker Julien Benda hatte schon 1927 die fehlende Verständnis für die Demokratie unter dem Titel Verrat der Intellektuellen” kritisiert. Golo Mann und Kurt Sontheimer haben rückblickend das Versagen der Intellektuellen untersucht.

Die Kultur der jungen Republik

Die alten Autoritäten hatten sich mit der Niederlage im Krieg blamiert, wer an den alten Vorstellungen vom Leben festzuhalten versuchte, wirkte krampfhaft wie eine Karikatur. Alles Wirkliche schien „zweideutig, zweiseitig“, die Realität sträubte sich einfache intellektuelle Zuordnungen, erschien konstruierte, erfunden. Das war 1918 natürlich nicht völlig neu, es hatte sich angekündigt in den intellektuellen Krisen der Jahrhundertwende, aber die Modernisierungstendenzen entfalteten sich befreit von der alten staatlichen Ordnung.

In Deutschland fand in den 1920er Jahren die Meinungsbildung des Volkes zunehmend über Massenmedien statt. Nach dem alten Adel hatte auch der bildungsbürgerliche „Geistesadels seine Bedeutung verloren, die er in vordemokratischen Öffentlichkeit des Kaiserreiches gehabt hatte. Kinofilme waren gesellschaftlich wichtiger als philosophische Abhandlungen oder Zeitgeist-Bücher.
Für die Leserschaft der Tageszeitungen war die neue „Erregungskultur“ ungewohnt. Wer das Wunschbild einer – insbesondere nach der Versailles-Schmach - überparteilichen nationalen Einigung pflegte, konnte die parlamentarische Politik nur als streitsüchtig erleben.
Die Einführung des neuen Mediums Radio, staatlich kontrolliert und von bildungsbürgerlichen Redakteuren gestaltet, wurde von der Vision begleitet, dass die die neue Technologie das „Volk“ formieren und es vor der drohenden kulturellen Verflachung und Pluralität schützen werde. Diese Erwartung stand natürlich im Widerspruch zur begrenzten sozialen Reichweite und zu den  unterschiedlichen Formen der Aneignung des Mediums.

Als Krise des bürgerlichen Individuums wurde zudem der Individualisierungsschub in unterbürgerlichen Schichten wahrgenommen. Literatur, Film und bildende Kunst popularisierten radikale Neuentwürfe des Subjekts. Zwar stärkte das neue Frauen-Wahlrecht vor allem die Parteien der Konservativen und Christlichen, in der medialen Öffentlichkeit aber dominierte der Skandal junger Frauen, die nach eigenen Lebens–Entwürfen suchten. Das wurde in konservativen Kreisen als Missachtung der „natürlichen Bestimmung“ als der Frau Mutter wahrgenommen, letztlich als Krise von Familie, Gesellschaft und Nation, als Zeichen für den „Untergang des Abendlandes”

Das alte Selbstbild der Männlichkeit, das auf dem bürgerlichen Familienernährer und dem virilen Krieger beruhte, war durch die Technisierung des Krieges infrage gestellt. Durch die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen wurde das Bild Familienernährers vom Socken gestoßen, Frauen als Angestellte waren in der Öffentlichkeit ungewohnt präsent, und die neue Welt des Konsums war mit Frauen identifiziert. Der Stummfilm „Kreuzzug des Weibes” brachte 1926 das Abtreibungsproblem in die Kinos.

Wenn alles Tradierte nicht mehr gültig ist, ist alles erlaubt. So waren die Weimarer Jahre  eine Epoche des Experimentierens und der wüsten Schwindelei. Was sollte man, am „Nullpunkt des Sinns“ angekommen, andres tun als alles neu zu versuchen und neu zu erfinden?  Verzweiflung mischte sich mit Ungeduld und Fanatismus. Geradezu begeistert zeigte sich der Film-Skeptiker Tucholsky von dem Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“  im Februar 1920. Caligari  ist ein Hypnotiseur, der sein Medium Cesare als Jahrmarkt-Attraktion auftreten lässt. Der dämonisch Cesare soll Menschen die Zukunft voraussagen können – ein junger Mann stirbt wirklich wie vorausgesagt. Die beiden Hauptdarsteller visualisieren mit grotesk verzerrt geschminkten Gesichtern eine irrealen Umwelt, in der der Verdacht aufkommen kann, dass Caligari in Wirklichkeit der Leiter einer Irrenanstalt ist. Aber was ist schon wirklich. Dieses expressionistische Meisterwerk ist der erste Psychothriller,  eine Geschichte über Angst, Identitätsverlust und den Missbrauch von Macht – Millionen wollten ihn sehen.

Auch die Romanfigur des Dr. Mabuse drückte die Ängste der Epoche aus. Mabuse hat viele Gesichter, niemand weiß, wie er wirklich aussieht. Der Film erreichte ein Massenpublikum, und das bekam auf der Kinoleinwand vorgeführt, dass die Einheit der Persönlichkeit, an die besseren Kreise der bürgerlichen Gesellschaft geglaubt hatten, eine Fiktion war. 1920 war der Roman von Norbert Jacques erschienen, berühmt wurde Dr. Mabuse zwei Jahre später in dem Fritz-Lang-Film. Lang wollte Mabuse als „den Menschen von heute“ zeigen. Der Untertitel des ersten Teils war: „Ein Bild der Zeit“. Der Film zeigt eine Gesellschaft, in der es keine wahren Gesichter und keine verlässlichen Identitäten mehr gibt. 
Aber die Zuschauer, von denen Adorno später (in
Minima Moralia’) sagen sollten, es sei schon „eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen“, waren nicht erschrocken, sondern amüsierten sich. Der Film zeige eine Gesellschaft, schrieb die Berliner Zeitung, in der es keinen Sinn, keine Logik — nur Spiel gibt. Auch keinen bedrückenden hochgeistigen Sinn-Diskurs, müsste man hinzufügen. „Dada“ war schon 1916 in Zürich gegründet worden.

Literarische Dokumente der „Krise“

In seinem Essay „Dämmerung“, der 1920 in der Wochenschrift Die Weltbühne erschien, hat Kurt Tucholskys sein Zeitempfinden ausgedrückt.  Im Zentrum dieses Lebensgefühls steht die Haltlosigkeit. Alles scheint relativ. Die Welt von 1920 scheint sich allen Versuchen, sie zu begreifen, zu entziehen. Tucholsky schreibt: „Die Grundfesten wanken … Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?“ Man fühlte sich, wie Wolfgang Martynkewicz formuliert, „am Nullpunkt des Sinns“.

1920 war die Novemberrevolution gerade niedergeschlagen. Die erste deutsche Republik  war von den „Goldenen Zwanzigern“ noch weit entfernt und es lief nicht alles auf Hitler zu. Die Inflation war noch kaum zu spüren, sie erreichte aber schon 1922 die unfassbare Zahl von 22 Milliarden Prozent.

Das klassische bürgerliche Zeitalter mit seinen Selbstverständlichkeiten war im Krieg untergegangen, nämlich – so Tucholsky  
-  „daß das Vaterland das Höchste ist“,
-  „daß die Familie der Endpunkt der Entwicklung“,
-  „daß der Kapitalismus notwendig oder gar nutzbringend sei“.
Die Polarität der Geschlechter war nicht mehr selbstverständlich, in Wien wurde die konventionelle Musik wurde infrage gestellt und die tradierte Architektur.

Siegfried Kracauer hatte 1922 in seinem Text „Die Wartenden“ den „auf die Spitze getriebenen Relativismus“ kritisiert. Die Menschen lebten „steuerlos dahin(getrieben), überall und nirgends zu Hause“. Er diagnostizierte die „Entleerung des uns umfangenden geistigen Raumes“.  Der eine würde zu einem „trotzigen Bejaher der Leere“, der andere zu einem Sehnsüchtigen, „den seine Sehnsucht hemmungslos macht“. Dazwischen sieht Kracauer die Wartenden – und benennt auch seine eigene Befindlichkeit – als „zögerndes Geöffnetsein“.

Während Bertolt Brecht als 22jähriger im Jahre 1920 das Drama „Baal“ veröffentlicht, in dem er mit allen romantischen Sentimentalitäten und der Leibfeindlichkeit brechend den rotzig-frech das Triebwesen ‚Mann‘ feiert, veröffentlichte Ernst Jünger seine Kriegstagebuch-Aufzeichnungen als Text „In Stahlgewittern“, ebenfalls 1920. Jünger schildert die Bedeutung der Tatkraft des Einzelnen im Überlebenskampf. In einer Überarbeitung fügte er in den 1920er Jahren den Schlusssatz hinzu: „Wenn auch von außen Gewalt und von innen Barbarei sich in finsteren Wolken zusammenballen  – solange noch im Dunkel die Klingen blitzen und flammen, soll es heißen: Deutschland lebt und Deutschland soll nicht untergehen!“

Der Schriftsteller Robert Musil wollte Ordnung schaffen, zumindest im Kopf. 1922 erschien sein Essay „Das hilflose Europa“. Der Mensch habe sich durch den Krieg kaum verändert, heißt es da, „wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch nichts erlebt.“ Auch Musil sieht ein „Nebeneinander« von Wirklichkeiten“. Während „im Keller des Narrenhauses“ die technologische Modernisierung voranschreitet und Wunder“ schaffe, ist der Geist zersplittert, die Kultur zerfallen. Im Pluralismus sieht Musil einen „fortschreitenden Selbstzersetzungsprozeß“.

Alles relativ?

Ein Symbol für die Überforderung der alten Ordnung des Wissens war Albert Einsteins Relativitätstheorie. Einstein war 1920 zum Faszinationsobjekt geworden, nicht weil eine breitere Öffentlichkeit verstand, was er meinte, sondern weil er ein anerkannter Professor zu sein schien, der die exakte Physik von Newton auf den Kopf stellte und gleichzeitig mit seinem nonkonformistischen Habitus ein bescheidener Mensch geblieben zu sein schien, der sich zudem für den Pazifismus engagierte.

„Am Phänomen Einstein wird deutlich, dass aus der monarchischen Welt eine Massengesellschaft geworden ist.“ (Martnykewicz) Die Medien hatten ihn zum internationalen Star aufgebaut. Als Naturwissenschaftler verkörperte das Neue. Aber an ihm spaltete sich gleichzeitig die Gesellschaft - für viele wurde er zum Hassobjekt.

Relativität war in aller Munde und wurde zum Kampfbegriff. Dass alles nur relativ sei, die Angst, dass keine Wahrheit nirgends zu finden sein könnte, war Einsteins Gegnern ein Zeichen für die Erkrankung des Denkens, für den kulturellen Verfall. Relativ war nach Ernst Cassirer, dem großen demokratischen Gegenspieler Martin Heideggers, alle Erkenntnis.

1921 gründeten die Einstein-Gegner in den USA die „Academy of Nations“, 1920 fand in der  Berliner Philharmonie  eine öffentliche Vorlesungsreihe der Einstein-Gegner statt. Einer der prominentesten war der Nobelpreisträger und Ordinarius für Physik in Heidelberg, Philipp Lenard. Er polemisierte gegen die theoretische und „jüdische“ Physik und formulierte als Gegenkonzept noch in den 1930er Jahren ein  vierbändiges Lehrbuch der Deutschen Physik. Oswald Spengler schon 1918 die kulturpessimistische Überschrift der Zeit formuliert: „Der Untergang des Abendlandes“. Relativität sei nur ein Zeichen für den kulturellen Verfall, behauptet er, und Einsteins Relativitätstheorie habe alles über den Haufen geworfen, was in „dreihundertjähriger Denkarbeit“  erzielt worden sei.

Der Relativismus eroberte den Zeitgeist. Expressionismus und Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus schufen in ihren Bildern eine subjektive Realität. Hans Kelsen formulierte eine Rechtstheorie der Demokratie, in der der Respekt vor der Minderheit zum Fundament gehört. Edward Bernays und Walter Lippmann erklärten, dass Propaganda und ‚PR’ selbstverständliche Instrumente einer demokratischen Massenkultur sind, in der es nicht mehr um Wahrheit geht. Ernst Cassirer erklärte, wie relativ aufgrund der jeweiligen symbolischen Formen jede Erkenntnis sein muss. Theodor Geiger erklärte, dass die Aktion der ‚Masse’ durchaus soziologisch beschreibbare Ursachen haben. Der deutsch-amerikanische Psychologe Hugo Münsterberg hatte schon 1916 die Faszination des neuen Mediums psychologisch analysiert und erklärt, dass die bewegten Bilder die „innere psychische Aktivität“ herausfordern und dass die Bilder – wie Sprachlaute – von den Individuen mit emotionaler Bedeutung besetzt werden.
Als Außenminister vertrat Walther Rathenau, mit dem Einstein befreundet war, eine Politik, die den Eindruck erweckte, er könnte die Niederlage Deutschlands im Krieg anerkennen. Am 24. Juni 1922 wurde er ermordet. 

Krise und Konsum - die „goldenen Zwanziger“

Das beruhte auf Gegenseitigkeit – die Mehrheit der Bevölkerung, als „Masse“ disqualifiziert, war an den Gedanken des Geistesadels auch nicht besonders interessiert. Nach der Einführung der Rentenmark 1924 erholte sich die Wirtschaft, die Regale füllten sich, im Vergleich zu den vergangenen Krisenjahren fühlte sich die zweite Hälfte der Zwanziger Jahre geradezu „golden" an. Auch in der Wissenschaft, Kunst und Kultur kam  es zu einer kurzen Blüte. Cafés, Theater und Varietés blühten, Mitte der Zwanziger gingen täglich zwei Millionen Menschen ins Kino. Frauen nahmen sich die Freiheit, in aller Öffentlichkeit Zigaretten zu rauchen. Es gab den  Achtstundentag und mehr Urlaub, das heißt: mehr Freizeit.

Schon die Bismarck‘sche Sozialpolitik hatte signalisiert, dass der Staat Verantwortung für das Wohlergehen seiner Untertanen - auch bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit – übernehmen muss. Vertreter von Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften, Hausfrauen- und Mietervereinen, leisteten Lobbyarbeit für eine verbraucherfreundliche Politik. Im Krieg war die Ernährung zum zentralen innenpolitischen Problem geworden - 1916 war ein „Kriegsernährungsamt“ gegründet worden. Die Politisierung des Konsums setzte sich in der Weimarer Republik fort. Wichtige Entscheidungen wurden mit Hinweis auf die Interessen der Verbraucher begründet. Zeitungsredaktionen und Werbeagenturen sprachen in den 1920er Jahren ihre Leserschaft verstärkt als Konsumenten an, die Werbung weckte immer neue Wünsche.

Das sozialdemokratische Leitbild der Konsumgenossenschaften kritisierte die Werbung, die . Eine zentral geplante „Bedarfsdeckungswirtschaft“ sollte die Ressourcen gerecht verteilen und die wirklichen Bedürfnisse befriedigen. Ihre Vertreter reichten von Karl Kautsky bis Ferdinand Tönnies. Mit den Konsum-Genossenschaften sollte ein Stück Sozialismus schon innerhalb des Kapitalismus entstehen.

Dagegen stand die „amerikanische“ Vision einer liberalen Marktgesellschaft der Konsumenten. Die Dynamik der Konsumbedürfnisse sollte einen Wohlfahrtskapitalismus schaffen. 1923 war die deutsche Übersetzung der Autobiographie Henry Fords erschienen, mit ihr verbreitete sich die Botschaft der Kaufkrafttheorie. Höhere Löhne sollten die Produktion stimulieren, geradezu ein perpetuum mobile der Konjunktur.  John Maynard Keynes „General Theory“ fasste das 1936 wirtschaftstheoretisch zusammen.

Nach dem Motto „des Wein ich trink, des Lied ich  sing“ stabilisierte sich die Republik auch politisch. Bis 1929 die zweite Hyperinflation die Menschen aus ihren Träumen riss. Wieder herrschte „Krise“ in den Köpfen. Mit der Inflation war die Vertrauensbasis der Gesellschaft verloren gegangen, die Mieter und Hausbesitzer, Gläubiger und Schuldner, Konsumente und Produzente versöhnt hatte.

Tempo 1932Diese Krisen-Rhetorik stieß auch auf Kritik und Spott. Rechtsrevolutionär Hans Zehrer hielt es 1929 für eine „Mode, von der Krise“ zu reden. 1932 berichtete B.Z. am Mittag unter der Überschrift „Krise gefallig?“ von einer originellen Geschäftsidee: Ein Fremdenführer zeigte den Touristen nicht die Sehenswürdigkeiten, sondern die „Weltstadt in der Krise“:  Wohlfahrtsämter, leerstehende Neubauten, stillgelegte Betrieben, politische Versammlungen. Er engagierte junge Männer, die lautstark aufmüpfige Arbeitslose spielten und damit „den notwendigen Krisen-Eindruck“ hervorriefen.

Die Zeitschrift Tempo strahlt einen Optimismus frei von Krisendiskursen aus. Sie repräsentiert die andere Weimarer Republik, die der „Goldenen Zwanziger“ und wollte nicht5 wahrhaben, dass diese in der Weltwirtschaftskrise untergegangen war. Unter der Überschrift „Not wie noch nie — Ansprüche wie noch nie“ schrieb Tempo am 4.11.1931: „Wir sind schrecklich anspruchsvoll geworden und wir sind nicht gewillt, die Ansprüche, wenn auch nur auf Zeit, herabzuschrauben. Hier liegt einer der Kernpunkte dieser Krise.“

Politisch relevanter wurde die Rhetorik, die in der Krise nur die Chance zur Erneuerung sahen. Hans Zehrer, Bertolt Brecht, Kurt Hiller und Adolf Hitler nutzten die Mittel der Rhetorik, um die Krise in den Köpfen zu verschärfen, sie spekulierten geradezu auf die Krisen-Wahrnehmung.

Kurt Hiller der homosexuelle Pazifist von 1918, fragte 1932: „‚Links‘, ‚rechts‘ – diese Unterscheidung wird täglich dümmer. (…) Wer taugt mehr, ein kommunistischer Nichtdenker oder ein nationalistischer Selbstdenker?“ Über den nationalsozialistischen Erfolg schrieb er: „Der deutsche Nationalismus ist, in seinem Ausmaß, eine Folge des französischen und eben deshalb nicht ohne berechtigten Kern. (…) Der kolossale nationalsozialistische Erfolg ist, unter anderem, ein Produkt kolossaler und berechtigter Enttäuschung.“

Am Ende reduzierten sich die an die „Krise“ gebundenen Zukunftshoffnungen auf die der Kommunisten und die der Nazis, auf linken und rechten Krisen-Optimismus. Das Bewusstsein der existentiellen Krise sollte die Notwendigkeit eines Systembruchs vor Augen führen – mit der Vision von Harmonie und Stabilität, eben Volksgemeinschaft.

Das Ende der „Weimarer Republik“

Da die republikanischen Regierungen in den Wirtschaftskrisen handlungsunfähig waren und ihre Glaubwürdigkeit verloren, war die junge demokratische Republik diskreditiert. Was blieb, waren die politischen Kräfte, die ein schlichtes (unkompliziertes, klares) Weltbild anboten und die den Eindruck erweckten, sie würden diktatorisch „gut“ regieren - eben Kommunisten und National-Sozialisten. Der Markt hatte offenbar versagt, die konsumpolitischen Bedarfsdeckungs-Visionen wurden zu den Hoffnungsträgern der politischen Krisen-Kommunikation. Die Nationalsozialisten stellten sich als Sozialisten vor.
Der Nationalsozialismus war auch erfolgreich, weil er mit einem neuen Männlichkeits-Kult das alte Frauenbild aufgriff.
Am Ende der 1920er Jahre wurde die erste deutsche Demokratie im Bewusstsein ihrer Zeitgenossen so sehr als „Krise“ wahrgenommen, dass sich der von Republikgegnern erfundene Begriff „Weimarer Republik“ einbürgerte.

    siehe auch meine Blog-Texte über
    Während die NSDAP sich auf die Machtübernahme vorbereitete,
    feierte die intellektuell Elite in Frankfurt 1932 einen näckisch-erotischen Maskenball
      MG-Link
    Konsum statt Arbeit  MG-Link
    Recht Konsumkritik von links MG-Link

    Konsumismus oder Kommunismus?
    MG-Link
    Das war die DDR - Konsumismus gegen Kommunismus  MG-Link

    Der kapitalistische Sozialcharakter: Das moderne „Ich“ ohne „Wir“    MG-Link 
    Individualität und Sozialität   MG-Link
    Zur Soziologie der Massenpsychologie    MG-Link
    Die Erfindung der Einsamkeit  MG-Link
    Vom Scheitern des Marxismus  MG-Link
    Zukunft - Ängste, Hoffnungen. Utopien und Dystopien als Selbstbilder einer Gesellschaft   MG-Link
    Wahrheit und Krise - über die komplexitätsvergessene Vernunft  MG-Link

    Lit.Tipps:
    Golo Mann über die Weimarer Intellektuellen, aus: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (1961)  pdf 
    Moritz Foellmer, Rüdiger Graf (Hg), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters  (2005)
    Claudius Torp, Konsum als politisches Problem. Konsumpolitische Ordnungsentwürfe in der Weimarer Republik, in: Jörn Lamla, Sighard Neckel, Politisierter Konsum - konsumierte Politik (2006)
    Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken Wesen und Wirkung in der Weimarer Republik (1961) ApuZ Link
    Antje Büssgen, Intellektuelle in der Weimarer Republik, aus: Jutta Schlich, Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland (2000)
    Wolfgang Martynkewicz, 1920 - am Nullpunkt des Sinns (2019)
    Philipp Blom, Die zerrissenen Jahre 1918-1938 (2014)