Klaus Wolschner 

Über den Autor

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
und Medien

POP Titel Farbe klein 150 jpg

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1

2 VR Titel

Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

ISBN: 978-3-7375-8922-2

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN: 978-3-746756-36-3

2 AS Cover

Kulturgeschichte des Sehens, Mediengeschichte der Bilder. Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:
Augenlust und Bild-Magie


ISBN: 978-3-7418-5475-0

Wir-Ich Titel kl4

Neue Medien, neue Techniken des Selbst:
Unser digitales Wir-Ich   

ISBN: 978-3-754968-81-9

Julien Offray de La Mettrie

2022

Julien Offray, Monsieur de La Mettrie  (geboren 1709 in der Bretagne, gestorben 1751 in Potsdam) war ein in seiner Zeit höchst umstrittener Denker der Aufklärung. Er wird vor allem mit seinem materialistischen Menschenbild und seiner unverhohlen atheistisch-naturalistische  Kampfschrift „L’Homme-Machine“ (1748) identifiziert, die ihm den polemischen Spitznamen „Monsieur Machine“ eintrug. Bekannt geworden war er allerdings schon vorher als Arzt, der sich für die Vorsorge gegen Seuchen engagierte und mit der traditionellen Ärztezunft anlegte. Im preußischen Exil publizierte er 1748 die Schrift, die er persönlich für sein Hauptwerk hielt: „Discours sur le bonheur ou Le Souverain Bien, Anti-Sénèque“ (Über das Glück oder Das Höchste Gut, „Anti-Seneca“). 

La Mettrie hatte in Leiden bei dem berühmten Hermann Boërhaave studiert. Während der großen Cholera-Epidemie in der Bretagne 1740 war er in den Armenspitälern in St. Servan und in St. Malo tätig. Seine Erfahrungen als Armen- und Seuchenarzt (Ruhr, Syphilis, Cholera, Schwindsucht) führen ihn zu der Überzeugung, dass entscheidend ist, was die elitären akademischen Médécins unter ihrer Würde finden: Volksaufklärung und Seuchenprophylaxe. Er schreibt medizinische Aufklärungsschriften, Briefe zur „Erhaltung und Hebung der Volksgesundheit“ und eine „Abhandlung über die venerischen Krankheiten“. 

La Mettries Schriften sind erfolgreich. Die Zunft schlägt zurück. Jean Astruc, Professor der Medizin und eine Autorität an der Sorbonne, polemisiert auf Latein gegen La Mettrie: falsum, falsch sei dessen Auffassung, und nicht der Disputation wert. Punkt.

La Mettrie beginnt Satiren über die Mediziner zu schreiben, zwischen 1744 und 1748 erscheinen drei medizinphilosophische Possen gegen eine Ärzteclique an der Sorbonne. Er spottet über die dort gelehrten weltfremden Theorie vom kranken Körper. „Hinter einem Kauderwelsch aus thomistischen Denkvorgaben, aristotelischen Schulmeiereien und postcartesianischem Wirbelgeschwätz habe sich an den Hochschulen eine mächtige medizinische clique gebildet, deren Mitglieder die Krankheit als private Pfründe erachte. Kein Medizinstudent könne graduiert, kein Patient geheilt (und schon gar keiner zu Grabe getragen werden), ohne daß die Fakultät gehörig mitverdiene. Praxisferne und Reformunfähigkeit haben dazu geführt – La Mettrie sagt es drastisch –, daß die Mediziner zu „staatlich approbierten Mördern“ geworden seien.“ (Ursula Pia Jauch) Mit der Komödie „Die gerächte Fakultät“ hat sogar auf der Bühne Erfolg. La Mettrie kann sich in Frankreich seines Lebens nicht mehr sicher sein.

Im Jahre 1745 erschien seine „Histoire naturelle de l’Âme“ (Naturgeschichte der Seele). Er bezeichnet darin die Seele als eine „Chimäre“, einen „sinnlosen Begriff“. Ohne Seele ist der Mensch aber nur Körper, eine „seelenlose Maschine“. Das bedeutete eine offene Kampfansage an die theologischen Vorstellungen über die göttliche Schöpfung und den beseelten menschlichen Organismus. „Weder Aristoteles noch Platon, Descartes oder Malebranche werden Ihnen zeigen können, was Ihre Seele ist“, beginnt sein Text. Die philosophische Rede über die Seele sei dunkles esoterisches Kauderwelsch. Die biologische „Materie“ des Menschen sei es, die „das Herz schlagen lässt, auch die Nerven spüren und das Gehirn denken lässt“, und genau dieses Wirken der Materie sei es, dem „wir den Namen Seele geben“.

Rene Descartes hatte den Menschen über die Natur erheben wollen mit der Formulierung, dass die „Tiere nichts als Maschinen sind“. Eine lächerliche Meinung, sagt La Mettrie. Klar sei, „dass der menschliche Körper von seinem ersten Ursprung her nur ein Wurm ist, dessen sämtliche Verwandlungen nicht überraschender sind als die eines jeden Insekts. Warum sollte es nicht erlaubt sein, die Natur oder die Eigenschaften des unbekannten, aber offensichtlich empfindlichen und aktiven Prinzips zu untersuchen, das diesen Wurm mit so viel Stolz über die Erdoberfläche kriechen lässt?“ Tiere, denen Descartes jegliches Gefühl abgesprochen hatte, hätten sehr wohl Gefühle – wie die Menschen: „Es gibt etwas anderes Gemeinsames zwischen Menschen und Tieren, das es mit größerer Gewissheit zeigt; ich rede von der Sprache der Affekte, wie das Wehklagen, die Schreie, Liebkosungen, die Flucht, die Seufzer, den Gesang, mit einem Wort alle Ausdrücke des Schmerzes, der Niedergeschlagenheit, der Abneigung, der Furcht, der Kühnheit, der Unterwürfigkeit, der Wut, des Vergnügens, der Freude, der Zärtlichkeit etc. Eine so energische Sprache hat mehr Kraft, uns zu überzeugen, als alle Sophismen von Descartes, die uns überreden sollen.“

Inspiriert war La Mettrie von einer Krankheits-Erfahrung: Ein heftiges Fieber hatte ihn um sein Denkvermögen gebracht. „Julien Offray de La Mettrie war der erste der Aufklärer, der so weit ging, zu behaupten, die Materie organisiere alles aus sich selbst heraus, Anorganisches wie Organisches, der Mensch sei nichts weiter als eine kompliziertere Maschine, es gebe keine Grenze zwischen tot und lebendig, keinen Gott, kein Leben nach dem Tod, keine natürliche Moral, und vor allem sei es Unsinn, wegen irgendwelcher Handlungen ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Gelehrtenwelt war außer sich.“ (Michael Winter)

Der Titel seiner Streitschrift „L‘Homme machine“ (1848) war die polemische Antwort auf Descartes – auch Menschen sind nur „Maschinen“, Materie, der Geist- so La Mettrie – sei eine Funktion von Körpersäften und Nervengewebe. Wörtlich in „L’Homme Machine“ : „Ziehen wir also kühn den Schluss, dass der Mensch eine Maschine ist und dass es im ganzen Weltall nur eine Substanz gibt, die freilich verschieden modifiziert ist.“ („CONCLUONS donc hardiment que l’Homme est une machine; et  qu’il n’y a dans tout l’Univers qu’une seule substance diversement modifié.“)Und: „Die Welt wird nur dann glücklich sein, wenn sie atheistisch ist.“ („L’univers ne sera jamais heureux, à moins qu’il ne soit athée.“)

La Mettrie musste aus Holland verschwinden und ging ins Exil nach Preußen. Dort schmuggelte er 1748 als angebliches Vorwort zu einer Epikur-Übersetzung den Text in die Druckerei, den er als sein Hauptwerk betrachtete: „Discours sur le bonheur ou Le Souverain Bien, Anti-Sénèque“ (Über das Glück oder Das Höchste Gut, „Anti-Seneca“), 1750 erschienen als „L’Art de jouir“ (Die Kunst, Wollust zu empfinden). Der Text setzt sich mit der „Lehre von der Entstehung der Gewissensbisse“ („théorie des remords“) auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass diese kulturell geprägt seien und in der Erziehung vermittelt würden. „Der Mensch trägt also größten Feind in sich selbst.… Führen wir nicht länger Krieg gegen uns selbst. Befreien wir uns endlich von den Schuldgefühlen; auf dass die Dummen die einzigen sind, die sie noch haben: auf dass kein Unkraut mehr sei im Kornfeld des Lebens, auf dass dieses grausame Gift endlich für immer verbannt sei.“ (Discours sur le bonheur ou Le Souverain Bien, Anti-Sénèque)
La Mettrie plädierte für ein „Recht auf Glück", das jedem Menschen zustehe:
„Erst recht aber Du, dem die Lust über alles geht, Du solltest Dich nicht um Deine Seele und den Seneca sorgen, denn Du kannst ohne intensive Freuden überhaupt nicht zum glücklichen Leben gelangen. All die stoischen Tugenden sind leere Worte für Dich. Es reicht, wenn Du an Deinen Körper denkst…. Ergreife also das Glück, wann und wo immer es sich anbietet! Genieße die Gegenwart, vergiss die Vergangenheit und fürchte die Zukunft nicht! … Mögen die Orgasmen, die Dich bei Nacht und bei Tag in höchster Lust zerschmelzen lassen, auf Deine Seele die gleiche wohltuende Wirkung haben wie auf Deinen Leib … Trink, iss, schlafe schnarche, träume!“ („Anti-Seneca“) Die Liebe ist für La Mettrie geradezu das Geheimnis der kreativen Materie: „Wer würde sie an diesen Eigenschaften nicht erkennen, die Liebe? Wer würde dieser so bedeutsamen Aktivität der Natur, die alles wachsen, sich vermehren und unablässig sich erneuern lässt, nicht huldigen? Ihr gegenüber erscheinen all die anderen Aktivitäten nur als harmlose Vergnügungen, als Vergnügungen, die sehr wohl notwendig und von der Liebe gestattet und sogar angeraten sind, damit man später, wenn man ihr Mysterium zelebriert, frei von ihnen ist.”

Dies war dann auch dem toleranten Preußenkönig Friedrich II zu viel. Die Philosophen der Aufklärung und sogar der Revolutionär Robespierre 50 Jahre später äußerten sich nur noch abfällig und vernichtend über La Mettrie. Was La Mettrie über sie dachte, hat er schon in „L’Homme Machine“ formuliert: „Es genügt nicht, dass ein Weiser die Natur und die Wahrheit erforscht; er muss auch den Mut haben, sie zu sagen, zugunsten der kleinen Zahl derer, die denken wollen und können; denn den anderen, die willentlich Sklaven der Vorurteile sind, ist es ebenso unmöglich, zur Wahrheit zu gelangen, wie den Fröschen zu fliegen.“

Im Alter von nur 41 Jahren, am 11. November 1751 und ereilte den Philosophen, der bei attestiert bester Gesundheit war, ein tragikomischer „Pastetentod“. Den Schilderungen des anwesenden Voltaires zu Folge lief La Mettrie nach dem üppigen Pasteten-Genuss gelb an und krümmte sich unter heftigen Schmerzen am Boden. Wenige Tage später verstarb er. Seine Schriften, zeitweise rasend erfolgreich, waren aus dem aufklärerischen Diskurs verschwunden, ähnlich wie Marquis de Sade wurde er als unmoralischer Lüstling verdammt.

    Lit.:
    Julien Offray de La Mettrie, Histoire naturelle de l'âme“, (1745), (dt. Naturgeschichte der Seele), 
    pdf;
        Faksimile online bei
    https://gallica.bnf.fr
    Julien Offray de La Mettrie, L’Homme machine / Der Mensch eine Maschine (1747),
       französisch/deutsch, übersetzt von Theodor Lücke  (2001) 
       online bei
    projekt gutenberg
    https://www.projekt-gutenberg.org/lamettri/menmasch/index.html
       oder bei Zeno http://www.zeno.org/Philosophie/M/La+Mettrie,+Julien+Offray+de
    Julien Offray de La Mettrie,  „L'art de jouir“ (Die Kunst, Wollust zu empfinden)
      Übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Bernd A- Laska (1987)
    http://www.lsr-projekt.de/lmsex.html
      Faksimile online https://gallica.bnf.fr/view3if/ga/ark:/12148/bpt6k1523675n/f5


    Ursula Pia Jauch,  Herr Maschine im Jenseits von Gut und Böse,Festvortrag in der Berlin-Brandenburgischen
      Akademie der Wissenschaften am 8. November 2001, online
    https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/47026/8/Maschine1.pdf
    Johannes Klingen-Protti, Julien Offray de La Mettrie, Histoire naturelle de l’âme (1745);
        L’homme machine (1748), in: ders., Aufklärung und Imagination in Frankreich 1675-1810 (2016) 
    pdf
    Ursula Pia Jauch, Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1998)
    Bernd Schuchter, Herr Maschine oder vom wunderlichen Leben und Sterben des Julien Offray de La Mettrie (2018)
    Michael Winter, Trink, iss, schlafe, träume (Zeit online, 4. 11. 1988)

    s.a. Philipp Blom, Böse Philosophen (2010), von mir zusammengefasst unter  MG-Link